Es hätte nicht viel gefehlt, und Frank-Walter Steinmeier hätte seinen ersten Jahrestag im Amt des Bundespräsidenten ohne ordentliche Bundesregierung begangen. Nur fünf Tage vorher hat er Bundeskanzlerin Angela Merkel ernannt und den Ministerinnen und Ministern ihres neuen Kabinetts die Ernennungsurkunden überreicht. Das war ein Kraftakt, die längste Regierungsbildung in der Geschichte der Bundesrepublik, und der Bundespräsident hatte erheblichen Anteil daran.
Das höchste Amt im Staat ist beileibe nicht das mächtigste. Solange alles in geregelten Bahnen läuft, reist der Bundespräsident viel und weit, repräsentiert das Land nach außen, empfängt Staats- und Ehrengäste und spricht zu Weihnachten, oder wann immer ihm danach ist, ans Volk. Nach den Bundestagswahlen im September 2017 allerdings war die bundespolitische Routine aus der Bahn geworfen, und Frank-Walter Steinmeier fand sich unversehens in der Rolle des Krisenmanagers.
Krise ist zu viel gesagt. Die Verfassung setzt stabile Leitplanken und lässt auch in einer solchen, bisher nie dagewesenen Situation kein Vakuum entstehen. Doch immerhin gelang es den Jamaika-Sondierern, das fassungslos staunende Wahlvolk mit einer selbstgefälligen Balkonshow zu irritieren, und es war an der Zeit, der bunten Schar von Wegduckern, Taktierern und Verweigerern ins Gewissen zu reden.
Steinmeier tat das beherzt. Er wartete nicht zu, ob insbesondere der liberale Hütchenspieler Christian Lindner doch noch zur Vernunft kommen, oder ob Angela Merkel sich doch noch auf eine Minderheitsregierung einlassen würde. Der Präsident ergriff die Initiative, nahm einen nach dem anderen ins Gebet und gewann schließlich die SPD für Sondierungsgespräche mit der Union. Dann ging alles recht schnell. Die Republik atmete auf, obwohl das Ergebnis der Bundestagswahl deutlich signalisiert hatte, dass eine Neuauflage der Koalition unerwünscht war.
Die Regierungsbildung rückte präsidiale Kompetenzen ins Licht, die von den Müttern und Vätern des Grundgesetzes vor beinahe 70 Jahren mit großer Weitsicht angelegt worden sind. Und Steinmeier, der eine Fülle politischer Erfahrungen mit ins Amt brachte, nutzte sie offensiv. Ein Glücksfall vielleicht, dass nicht ein Seiteneinsteiger, sondern ein Insider des Regierungsbetriebs das Amt des Bundespräsidenten in dem Moment bekleidete, als seine politische Macht auszuüben war. Ein weit über die Parteigrenzen der SPD hinaus respektierter, mit außerordentlich großer Mehrheit am 12. Februar 2017 von der Bundesversammlung gewählter Kompromisskandidat der Großen Koalition, ein Macher, der sich bei aller gebotenen parteipolitischen Neutralität für das Gelingen der Regierungsbildung stark machte.
Folgerichtig händigte er dem neuen Kabinett nicht nur die Ernennungsurkunden aus, sondern schrieb der vierten Regierung Merkel auch mahnende Worte ins Stammbuch. Sie sei gut beraten, sagte er bei der Zeremonie, „genau hinzuhören und hinzuschauen“ auf die Konflikte im Land, beispielsweise bei „Gerechtigkeitsfragen, Flüchtlingspolitik und Migration, Integration und Heimat“. Er fügte hinzu: „Über all das brauchen wir offene und ehrliche Debatten.“ Dabei dürfe, so mahnte Steinmeier, die Regierungsmeinung nicht die Grenze des Zulässigen sein. Die Grenzen ziehe „das Grundgesetz, ziehen menschlicher Anstand und Respekt“.
„Wo sie missachtet, sogar verachtet werden – durch Bedrohung, Hass und Gewalt, auch in der Sprache – da müssen Demokraten wachsam und bereit sein, sich zu zeigen und Demokratie zu schützen.“ Die Regierung müsse sich „neu und anders“ bewähren, sagte Steinmeier, und zwar „nicht nur an der Größe der Aufgaben, sondern auch im Umgang mit Parlament und Öffentlichkeit – ganz besonders im direkten Gespräch mit den Bürgerinnen und Bürgern“, gerade mit denen, die Vertrauen verloren hätten. „Ein schlichter Neuaufguss des Alten“ werde „nicht genügen“.
„Möglichst überall“ müssten die notwendigen Auseinandersetzungen geführt werden, forderte der Bundespräsident, und er unterstrich die Rolle des Parlaments. „Kein Ort ist dafür so zentral wie der Deutsche Bundestag. Dort gehören die Debatten hin!“ Die Ankündigung des Koalitionsvertrags, dass sich die Regierung mehr als in der Vergangenheit der Auseinandersetzung im Parlament stellen wolle, sein „ein gutes Signal“.
An drängenden Handlungsfeldern nannte Steinmeier das Bildungssystem, „wo viele auf der Strecke bleiben, während Ausbildungsplätze unbesetzt sind“, den „Kampf um bezahlbaren Wohnraum in den Städten, während sich in manchen ländlichen Gegenden Leere ausbreitet und die Hoffnung schwindet“, auch den „digitalen Nachholbedarf“, einschließlich der „gesellschaftlichen Folgefragen, damit technologischer Wandel die soziale Ungleichheit eben nicht verschärft, sondern Chancen für alle bringt“, und den „Erneuerungsbedarf Europas“. Den gemeinsam mit Frankreich und anderen EU-Partnern zügig anzupacken sei „gut und richtig“.
„Abschottung, Nationalismus und Kompromisslosigkeit“ seien „nicht unser Weg, weil wir ein demokratisches, weltoffenes, friedliches und wirtschaftlich erfolgreiches Land sind und bleiben wollen“, sagte Steinmeier. „Wir in Deutschland, wir müssen das bewahren, was uns stark gemacht hat: die Balance von sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Vernunft.“
Was den Bundespräsidenten umtreibt, wie ernst er es auch selbst meint mit dem Zugehen auf die Bevölkerung, stellt er bei seiner Deutschlandreise unter Beweis. Verspätet, weil die schwierige Regierungsbildung ihn unerwartet lange an Berlin fesselte, setzte er seine Antrittsbesuche in den Bundesländern fort.
In Nordrhein-Westfalen besuchte er nicht nur die Landeshauptstadt Düsseldorf, sondern auch Aachen mit dem Schwerpunkt Elektromobilität und Duisburg-Marxloh mit dem Aspekt der Integration. In Dortmund sprach er mit Polizeianwärtern, in Arnsberg mit Ehrenamtlichen und in Altena, dessen Bürgermeister kürzlich Opfer einer rechtsextrem motivierten Messerattacke geworden war, mit Flüchtlingsfamilien. Allesamt Menschen mit Anliegen, die zu den Aufgaben der neuen Bundesregierung zählen, der Steinmeier soeben auf die Sprünge geholfen hat.
Bildquelle: Wikipedia, Sven Teschke, CC BY-SA 3.0 DE