Die Schweizer Radgenossenschaft der Landstraße hat ein wunderbares kleines Ringbuch herausgebracht. Es heißt: „Jänisch für jänische Kinder.“ Jänisch heißt die Sprache der in der Schweiz lebenden Jenischen (Blog der Republik berichtete am 27. März 2019 über die Schwierigkeiten der deutschen Jenischen, überhaupt vom Staat wahrgenommen zu werden).
Die Radgenossenschaft ist die Interessenvertretung der über Land fahrenden Schweizer Sinti und Jenischen. Rund 4000 sind es noch, die das tun, um ihr Dienste anzubieten – zum Beispiel das Schleifen von Messern und Scheren. 2016 wurden die Sinti und die Jenischen explicit als nationale Minderheit in der Schweiz anerkannt – der dortige Innenminister Alain Berset sprach die Anerkennung aus, ein Sozialdemokrat.
Die Schweizer Landfahrenden nennen dieses Büchlein ein Lehrmittel. Es soll die Eltern und Kinder zum Gebrauch der Sprache anregen, die die Landfahrenden sprechen. Und: „Wir sind stolz auf unsere Sprache.“ Der bekannteste der Jenischen in Europa ist heute übrigens der französische Nationalstürmer Antoine Griezmann.
Wer ins Büchlein schaut, der findet: Der Wohnwagen ist der Schrändi; der Wald der Salamandär; der Vater der Luperä, die Mutter die Giäl und der Mond der Glies. Es ist eine Sprache, die sich, wie die Schweizer Jenischen sagen, weiterentwickle und durchaus lokale Unterschiede aufweise. Die Sprache lebt und sie kommt auch ohne Anglizismen aus.
Es gibt mehr sesshafte Jenischen in der Schweiz als fahrende Jenischen – einige Zehntausend sind es insgesamt. Sie haben ihre eigene Sprache, ihre speziellen Berufe, ihre Literatur, wie sie zum Beispiel Mariella Mehr repräsentiert. Sie haben in der Schweiz ihre eigene Musik, etwa die Fränzli-Musik mit ihren speziellen Ländlern, die auf den blinden Geiger Fränzli Waser zurückgeht. Stephan Eicher macht jenische Rockmusik. Die Jenischen der Schweiz haben eine eigene Geschichte, die sie von den vier Ethnien im Land abgrenzt und ein eigenes Verständnis ihrer Rolle in der Gesellschaft. All das gilt unter Schweizern.
Während man in der Schweiz den ¾ Ländlertakt bevorzugt, geht es in der Bundesrepublik Deutschland beim Stichwort Jenische eher preußisch- bürokratisch und im 2/2-Takt zu. Auf einen Brief des in Gründung befindlichen Zentralrats der Jenischen in Deutschland, er strebe nach Schweizer Vorbild die Anerkennung als nationale Minderheit an, antwortete der Beauftragte der Bundesregierung für nationale Minderheiten Professor Bernd Fabritius, so etwas komme überhaupt nicht infrage. Die Jenischen erfüllten „die von der Bundesregierung festgelegten Kriterien“ nicht. Denn sie besäßen „keine eigene kulturelle Identität“. Im Prinzip lebten die deutschen Jenischen so wie die anderen in der sogenannten Mehrheitsgesellschaft.
Das ist dreist. Denn
- erstens gibt es keine in Europa allseits anerkannte Beschreibung dessen, was nationale Minderheit ist.
- Zweitens stützt sich der Beauftragte der Regierung, ein Jurist mit einer Professur der Universität Lucian Blaga in Rumänien, auf den veralteten Standpunkt der Bundesregierung zu Zeiten von Kanzler Helmut Kohl (1997) und
- ignoriert somit alle zwischenzeitlich gewonnenen wissenschaftlichen Ergebnisse der Forschung über die Jenischen.
- Viertens hat der Regierungsbeauftragte offenkundig nicht mitbekommen, dass es längst eine breite kritische Debatte über das gibt, was traditionell „kulturelle Identität“ genannt wurde und
- fünftens scheint die Regierung nicht zu wissen, was es mit der Identität auf sich hat. Professor Fabritius sagt´s so, das Bundesinnenministerium erklärte hingegen laut Nordwest-Zeitung vom 14.Mai 2016 mit Blick auf die Friesen als anerkannte nationale Minderheit: „Die Zugehörigkeit zu einer Minderheit ist die persönliche Entscheidung eines jeden Einzelnen.“
Wie man Teil einer nationalen Minderheit wird, beschrieb die Zeitung am Beispiel eines Herrn Rolf Bieneck, geboren in Hannover, aufgewachsen in Oldenburg: „Er ist Mitbegründer der Partei „Die Friesen“ und mittlerweile ihr Vorsitzender. Er sitzt im Rat der Samtgemeinde Brookmerland macht dort Friesen-Politik (Motto: „sozial, friesisch und frei“). Plattdeutsch hat er natürlich auch gelernt, „hat lange gedauert“, sagt er. An seinem Revers glänzt metallisch eine kleine Friesenflagge.“
Für stur mag man Friesen halten, die Augen haben sie jedenfalls offen. Daher sehen sie ihre Lage als nationale Minderheit durchaus kritisch: „Seit einigen Jahren hat sich der Identitätsverlust dramatisch verschärft“, schrieb die Partei „Die Friesen“. Und: „Der stetige Verlust der eigenen Sprachen, das Plattdeutsch und das Saterfriesisch, sowie fehlende wirtschaftliche Perspektiven verschärfen das Problem…“ Und nun? Überlegt Professor Fabritius, den Friesen ihren Extra-Status zu nehmen?
Klein beigeben tun die Jenischen in Deutschland nicht. Der Zentralrat hat eine Petition an den Europarat gerichtet. Anerkennung und die richtige Selbstbezeichnung seien für die Jenischen von „existentieller Bedeutung“. Und vielleicht gibt es später auch in Deutschland ein Büchlein mit jenischen Worten und Texten. Etwa Romedius Mungenasts wunderbare kleine Erzählung – einige Zeilen:
„Im Funk von mein Radlinger
Spann i an Stupfl
Der kesselt mit seine Trittling
Über d´Strade“
(Die Lichtkegel meines Wagens erfassen einen kleinen Igel, der gerade noch die andere Straßenseite erreichte)
Bildquelle: Wikipedia, Jenische Dörfer und Lebensräume in Europa, Wikipedia-Kartenwerkstatt, Urheber: Lencer, GFDL