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Das KZ-Urteil von Hamburg wirft Fragen auf – an uns alle

Christoph Lütgert Von Christoph Lütgert
23. Juli 2020
Konzentrationslager Stutthof

Als 17- und 18-Jähriger hatte Bruno Dey gerade mal acht Monate lang Wache geschoben auf den Türmen des KZ Stuttenhof bei Danzig. Jetzt, über 75 Jahre später, wurde der 93 jährige Bruno Dey vor dem Oberlandesgericht Hamburg verurteilt – wegen Beihilfe zum Mord in 5.232 Fällen. Das Strafmaß für den Greis: zwei Jahre Jugendstrafe auf Bewährung.

Nochmal zusammengefasst: Der Tatzeitraum: acht Monate vor einem dreiviertel Jahrhundert; das Verbrechen: Beihilfe zu 5.232 Morden; die Strafe: Zwei Jahre Gefängnis auf Bewährung. Das alles lässt sich jeweils einzeln erklären und begründen. Aber zusammengenommen ergibt es eine geradezu monströse Disparität. Und die wiederum wirft Fragen auf an alle, die sich wegen der berühmten „Gnade der späten Geburt“ gar nicht schuldig machen konnten.

Hier soll nichts verkleinert werden. Im Konzentrationslager Stutthof wurden während des zweiten Weltkriegs etwa 65.000 Menschen ermordet – Juden, politische Gefangene, Polen. Die Nazi-Opfer in diesem KZ mussten schier unvorstellbares Leid erfahren, – unvorstellbar auch dann noch, wenn man Zeugenaussagen von Überlebenden hört oder liest.

Natürlich war es Aufgabe eines Wachmanns im KZ aufzupassen, dass niemand den Qualen entkommen konnte. Natürlich hat sich auch der kleinste Scherge in diesem Mord-System objektiv schuldig gemacht. Da gibt es nichts zu relativieren.

Für den Ankläger, Oberstaatsanwalt Lars Mahnke, stand außer Zweifel, dass der angeklagte Dey den von der NS-Führung initiierten systematischen Massenmord unterstütze und dass der damals 17-Jährige die Chance gehabt hatte, sich dem Dienst im KZ zu entziehen. „Es reicht nicht mehr aus, wegzuschauen und auf das Ende zu warten“. Dann müsse „Schluss sein mit der Loyalität gegenüber Verbrechern.“ Und die Vorsitzende Richterin Anne Meier-Göring garnierte ihre Urteilsbegründung mit einer Frage, die heute kein Risiko bedeutet: „Wie konnten Sie sich bloß an das Grauen gewöhnen ?“ Die viele Jahre nach dem Ende der Nazi-Diktatur geborene Juristin meinte es genau zu wissen: „Da wäre doch Gelegenheit zu sagen: Das kann ich nicht mitmachen.“

Ohne die schwere Schuld der Täter von damals zu relativieren oder gar zu minimieren, könnte die Selbstgewissheit, ja die Selbstgerechtigkeit der Nachgeborenen zumindest befremden; – der Nachgeborenen, die in der Sicherheit von Demokratie und Rechtsstaat leben, und in Hamburg über Bruno D. zu Gericht saßen; die offenkundig von sich selbst überzeugt sind, dass sie, hätten sie in der Nazi-Diktatur gelebt, anders gehandelt hätten, mutiger, besser…

Fragen seien erlaubt: Wer könnte von sich mit Gewissheit sagen, dass er sich im Dritten Reich nicht auch weggeduckt hätte, als Juden aus der Nachbarschaft deportiert wurden ? Wer könnte von sich mit Gewissheit sagen, dass er sich damals selbst unter Lebensgefahr mörderischen Befehlen verweigert hätte, was Richterin und Staatsanwalt von Bruno Dey verlangten. Fehlt es nicht in unserer freiheitlichen Gesellschaft an Zivilcourage, obwohl die bei uns keinesfalls lebensgefährlich ist ? Der kleine Wachmann Bruno Dey wurde verurteilt im Namen eines Volkes, das noch nach dem zweiten Weltkrieg Alt-Nazis in höchste Positionen hievte und am heutigen Rechtsstaat mitbauen ließ. So mag Bruno Dey zu Recht verurteilt worden sein, aber Unbehagen, Zweifel und schlechtes Gewissen wären angebracht.

Bildquelle: Pixabay, Bild von Jan Pedersen, Pixabay License

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Tags: Aufarbeitung NaziverbrechenGerechtigkeitKZ StuttenhofNazi-VerbrechenNaziverbrecherNs-Terror-RegimeOLG HamburgProzeß gegen Bruno DeyRechtsstaatSühneVergangenheitsbewältigung
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