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Die düstere Analyse von Saul Friedländer: Blick in den Abgrund Israels

Norbert Bicher Von Norbert Bicher
7. Januar 2024
Saul Friedländer, 2010

Wer Israel verstehen will, der bekommt bei Saul Friedländer auf 237 Seiten einen Schnellkurs.  Schon der Titel – „Blick in den Abgrund“ – lässt ahnen, dass dieser Kurs nicht erbaulich, sondern ernüchternd ist. Friedländer (91), der große Chronist der Judenverfolgung und Judenvernichtung in Nazi-Deutschland („Das Dritte Reich und die Juden“, „Die Vernichtung“),  rechnet mit „Eretz Israel“, dem Land, in das er Ende der vierziger Jahre als Waisenkind kam und das für ihn, dessen Eltern von den Deutschen ermordet wurden, mit so viel Hoffnungen verbunden war, unerbittlich ab.

Aktueller Anlass für „Ein israelisches Tagebuch“ war sein Blick auf den als Justizreform getarnten Anschlag der Regierung Netanjahus auf die demokratischen Strukturen Israels. Von San Francisco aus hat Friedländer, bedeutendster Historiker Israels mit Lehrtätigkeiten auch in den USA und in Deutschland,  von Januar 2023 bis zum 26. Juli 2023 fast minutiös die Entwicklungen der Zuspitzung zwischen Befürwortern und der übergroßen Zahl der Gegner verfolgt und mit Intimkenntnissen seines jahrzehntelangen Heimatlands kommentiert. Nicht ahnend, dass der Blick in den Abgrund seit dem 7. Oktober, dem brutalen Überfall der Hamas auf israelische Zivilisten, eine neue, noch düsterere Dimension erhalten würde.

Zwischen den Zeilen bleibt offen, ob die Rechtsradikalen, die Ultraorthodoxen und die extremen Siedler in der Netanjahu-Regierung das Erstarken der Hamas als Chance ansahen, eine Zweistaaten-Lösung endgültig abzuschreiben und die Rückeroberung Palästinas durchzusetzen. Von einem „bösen Clown“ schreibt Friedländer über den 2007 wegen rassistischer Aufhetzung verurteilten Ben Gvir – jetzt Minister für Nationale Sicherheit in der Regierung – , der ruchlos seine  Ziele an großen Teilen des Volkes vorbei, jenseits von demokratischen Regeln einbringe.  „Wo immer es eine Möglichkeit für Untaten gibt, ist er zur Stelle.“

Die zweite Ebene der Notizen dieses  Autors, der lange in vielen Positionen des Staates – unter anderem als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums – mitarbeitete, bevor er Israel nach Ende seiner akademischen Karriere verlies, ist noch bedrückender. Denn Friedländer, der nach eigener Aussage lange ein  „Hardliner“ war, erklärt, dass das Erstarken der Rechten unausweichlich war, weil die Aschkenasim, die europäischen Juden, ihre Vormachtstellung im Land nutzten und die bevölkerungsmäßig immer stärker werdenden  Sephardim, die Juden aus Südeuropa und Afrika, diskriminierten. Selbst die Bezeichnung „Rassismus“ ist Friedländer in diesem Zusammenhang nicht zu hart. „Ich will das ganz deutlich formulieren: Schon bald nach seiner Gründung zur Zeit der massenhaften Einwanderung aus Nordafrika in den frühen 1950er Jahren, wurde Israel, bewusst oder unbewusst, zu einer rassistischen Gesellschaft: Für uns alle, die Aschkenasim, war es offensichtlich, dass die Neuankömmlinge irgendwie minderwertig waren, natürlich nicht offiziell, nicht rechtlich – wir waren nicht Südafrika – , aber implizit, in der Praxis.“ Ein harsches Urteil, eine bittere Selbsterkenntnis.

Und an anderer Stelle, unter dem Datum 2. Februar 2023, beschreibt er die aktuelle  Lage des Regierungslagers: „Israel ist zu einem Dschungel mit einigen sehr gefährlichen Raubtieren geworden.“ Um wenig später fortzufahren: „Israel ist keine Antwort auf den Antisemitismus; in einigen Fällen verstärkt es den Antisemitismus sogar noch.“ Dennoch, Friedländers Bindung zu Israel ist „unerschütterlich“, wenn auch – wie er schreibt – „irrational“.

So ist es nicht verwunderlich, dass sein letzter Tagebucheintrag am 26. Juli trotz der gerade in der Knesset verabschiedeten Justizreform einen Hauch von Hoffnung geben soll. In den Hunderttausenden, die monatelang – vergeblich – gegen die Zerstörung der Gewaltenteilung demonstriert haben, sieht er „die wunderbare Seite unseres Volkes“. Und: „Entgegen meiner düsteren Prognose und meiner rationalen Einschätzung möchte ich doch mit einem Hauch von Optimismus schließen, einem ganz leichten Optimismus, insofern die Proteste, so sie denn weitergehen, am Ende vielleicht doch irgendetwas Positives bewirken können. Ich würde also in aller Vorsicht behaupten, dass sich die gegenwärtige Koalition in nicht allzu ferner Zukunft von innen heraus auflösen wird.“

Nach den Massakern der Hamas vom 7. Oktober sah es nicht danach aus.  Netanjahu konnte darauf spekulieren, dass die äußeren Feinde das Land zusammenbringen und den erbitterten Streit um die Unabhängigkeit der Justiz verdrängen würden. Jetzt steht er vor dem Dilemma, dass Hamas und Hisbollah immer gefährlicher werden und dass das oberste Gericht Israels seine als „Reform“ getarnte Zerstörung der Demokratie Anfang 2024 gekippt hat. Der „Blick in den Abgrund“ wird Israel nicht los lassen und Friedländers Tagebuch bleibt eine unersetzliche Analyse, warum das Land diesem Abgrund so nah rücken konnte.

Saul Friedländer, Blick in den Abgrund – Ein israelisches Tagebuch, C.H.Beck-Verlag, 2024, 237 Seiten, 24 Euro.

Bildquelle: Christliches Medienmagazin pro, via Wikimedia Commons, CC BY 2.0

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