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Home Kultur Buchbesprechungen

Alles wird besser – aber nichts wird gut? Eine Buchempfehlung

Wolfgang Wiemer Von Wolfgang Wiemer
22. Oktober 2016
Cartoon Homo sapiens Syndrom,

Interessante, gut belegte, begründete und zu einer überzeugenden Analyse unserer sozialen Gegenwart zusammengefasste Thesen helfen beim Verständnis dessen, was ist. Beispiele: während sich so gut wie alle Parteien für wirtschaftliches Wachstum stark machen, aber Wissenschaftler und politische Strömungen die ehedem grüne Wachstumskritik engagiert weiter vertreten, bleibt tatsächlich das Wachstum fast aus – der ökologische Raubbau geht trotzdem weiter!

Oder: die zunehmende Spaltung der Gesellschaft in Reiche und „Abgehängte“ wurde schon in den frühen 70er Jahren eingeleitet, als das Wachstum erstmals dramatisch einbrach.

Oder: die Wiederkehr des rechten, nationalistischen Autoritarismus steht in engem Zusammenhang mit der Abstiegsgesellschaft, in die sich die reichen westlichen Staaten verwandelt haben. Alles nachzulesen in

Oliver Nachtwey: Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne. edition suhrkamp, Berlin 2016. 264 Seiten, 18 Euro.

Auf den Wirtschaftsseiten der Zeitungen steht nicht selten, dass Abstiegsangst insbesondere in Deutschland ganz unberechtigt sei, weil sich die Kluft zwischen arm und reich dank der Lohnerhöhungen der letzten Jahre sogar leicht geschlossen habe. Äußerst zweifelhaft ist, ob die Menschen, deren Jobs gefährdet sind, die arbeitslose Nachbarn haben, deren Berufe früher einmal hoch angesehen waren, selbst längst mit Werkverträgen oder in Zeitarbeit beschäftigt sind, sich von einer solchen Statistik überzeugen lassen. Sie finden wohl auch keinen Trost darin, dass Mittelschichten in Schwellenländern statistisch – und wohl vorübergehend – als Gewinner der Globalisierung gelten. Einer sozialwissenschaftlichen deutschen Langzeitstudie ist durchaus zu entnehmen, dass die Mittelschicht in Deutschland schrumpft und es bedarf nicht allzu angestrengten Nachdenkens um festzustellen, dass eine Reihe recht erfreulicher Lohnerhöhungen und in deren Folge eine rekordverdächtige Rentenerhöhung daran nicht das geringste ändern.

Die Leugnung der Berechtigung von Abstiegsangst ist nichts anders als – Klassenkampf, der aber nicht so wie im 19. Jahrhundert geführt wird. Warum nicht, kann man auch hier erfahren. Immerhin, solange Interessengegensätze mittels Statistiken ausgetragen werden, geht ja noch alles zivilisiert und friedlich zu. Warren Buffet, einer der reichsten Menschen auf der Welt, soll allerdings auf die Frage nach den wichtigsten Konflikten schon geantwortet haben, das sei eindeutig der Krieg(!) Reich gegen Arm und, habe er hinzugefügt, die Reichen werden diesen Krieg gewinnen (zitiert nach Georg Schramm).

Der Fall der Profitrate

Kennt noch jemand den Begriff „tendenzieller Fall der Profitrate“? Weiß noch jemand, dass alle Klassiker der Ökonomie das auch, wie Marx vorausgesehen, nur anders benannt hatten, nämlich, dass Wirtschaftswachstum endlich und lange Phasen einer „statischen“ Wirtschaft unvermeidlich seien? Und hat überhaupt jemand zur Kenntnis genommen, dass die Profitrate über eine lange Sicht tatsächlich fällt?

Bloß haben die Wirtschaftswunderkinder eher das Gegenteil erlebt und diese Erfahrung machte sie empfänglich für Lehren, die besser als akademisch kostümierte Hoffnungen auf ewiges Wachstum bezeichnet würden, aber ungeheuer wirkmächtig sind. Aber nicht die Hayeks, Friedmans, „Chicago Boys“ der Volswirtschaftslehre liegen richtig, sondern die Alten, ob sie Adam Smith, Pareto, Marx oder Keynes heißen, haben in dem Punkt Recht behalten. Die Profitrate fällt – trotz erheblicher Schwankungen, die Investitionsrate sinkt kontinuierlich und die Gegenmaßnahmen, die auf so harmlose Namen hören wie „Wettbewerbsfähigkeit“ oder „Wachstumsförderung“, bewirken zwar wenig Wachstum, aber soziale und politische Entwicklungen, die zu großer Sorge um Demokratie, sozialen Zusammenhalt und soziale Gerechtigkeit Anlass geben. Mit den Worten Nachtweys: „Aus der Gesellschaft des Aufstiegs und der sozialen Integration ist (…) eine Gesellschaft des sozialen Abstiegs, der Prekarität und Polarisierung geworden.“ So umschreibt der Autor seine Hauptthese. Die Schwäche der Analyse teilt er auch gleich selbst mit: riskant seien viele Thesen, weil die empirische Absicherung noch fehle und vor allem, weil sie sich allein auf Daten über Deutschland stütze, internationale Aspekte also fehlten. Vielleicht, auch das legt der Autor selbst nahe, sollte man das Buch als Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte lesen.

Gleichstellung der Geschlechter

Seit der indirekten Aufkündigung des alten Weltwährungssystems von Bretton Woods durch US-Präsident Nixon 1971 und dem „Thatcherismus“, der konsequenten Umsetzung der volkswirtschaftlichen Lehren, die das Etikett Neoliberalismus tragen, haben sich – so die Analyse Nachtweys – sowohl auf dem Feld der parlamentarischen Demokratie als auch auf den Feldern des Arbeitsmarktes und der Bildung Symptome regressiver Modernisierung breit gemacht.

Dazu gehören negative Ergebnisse, die paradoxerweise mit positiven Errungenschaften korrespondieren. Ein Beispiel ist die gewachsene Gleichstellung der Geschlechter: positiv ist die gestiegene Teilhabe von Frauen am Arbeitsmarkt, negativ, dass Frauen mehrheitlich geringer qualifizierte und bezahlte Tätigkeiten ausüben; positiv ist die Ablösdung des Modells des männlichen Familienernährers, negativ, dass in manchen Bereichen die Einkommen von Mann und Frau gleichermaßen und damit das Haushaltseinkommen insgesamt sinken.

Aber es ist nicht alles schlecht. Die Moderne entwickelt sich weiter – jedoch gleichzeitig auch zurück; „Probleme, die längst als überwunden galten, werden erneut relevant (…) Klassenstrukturen (kehren) auf die Bühne der sozialen Ungleichheit zurück“ aber „der traditionelle Klassenkampf (erfährt) keine Neuauflage(…) In der Abstiegsgesellschaft entzündet sich der Konflikt an der Spannung zwischen Kapitalismus und Demokratie, zwischen Freiheit und Gleichheit…“ Am Ende, so Nachtwey, könnte es in diesen Konflikten um die Zukunft der Demokratie selber gehen.

Eingehegter Kapitalismus

Die Beschreibung der Entwicklung vom Wachstum des durch vielerlei Regeln, Gesetze und politische Maßnahmen „eingehegten“ Kapitalismus der Nachkriegszeit, über dessen Ende in den 70er Jahren bis zum Eindringen von Marktstrukturen in zuvor dem Gewinnstreben entzogene Bereiche (z.B. Post, Bahn, Gesundheit, Rente -ww) und der Entfesselung des Finanzkapitals gelingt jedenfalls überzeugend. Gerade wenn man, wie der Rezensent, Zeitzeuge dieser Entwicklung ist, löst die Lektüre einen Aha-Effekt nach dem anderen aus. So bezeichnete Eigenverantwortung einst den Anspruch, gegen Traditionen, herrschende Meinungen und soziale Kontrolle ein selbstverantwortetes Leben zu führen. Jetzt ist sie eine Pflicht, bei deren Nichterfüllung Sanktionen in Form gekürzter sozialer Leistungen erfolgen. Im Ergebnis erfahren diejenigen, die auf den Sozialstaat nicht angewiesen sind oder dank Mittelschichtsozialisation konform die Pflicht zu Eigenverantwortung erfüllen können, einen Zuwachs an Autonomie, wohingegen die Anderen „neopaternalisitsche Zumutungen“ erfahren.

Mittels einschlägiger Arbeiten aus den letzten 20 Jahren, besonders Colin Crouchs „Postdemokratie“ (Suhrkamp 2008) entsteht die Einsicht von Demokratie als „einem paradoxen Arrangement: Während die Bürger viel von der Idee der Demokratie halten, erwarten sie von der real existierenden Demokratie immer weniger.“ Und das, obwohl sich die Partizipationsmöglichkeiten tatsächlich doch vermehrt haben, wie der Autor einräumt. Allein die vermehrte soziale Ungleichheit bewirkt auch eine Ungleichheit der Partizipation. Die Bessergestellten gewinnen und nutzen den Einfluss, während die Unterprivilegierten sogar zunehmend auf ihr Wahlrecht verzichteten. Zugleich wandeln sich die Parteien von Repräsentantinnen unterschiedlicher sozialer Interessen zu „Präsentanten von exekutiver und unternehmerisch bereits vorentschiedener Politik“.

Aktuelle autoritäre Bewegungen

Von diesem Szenario wagt der Rezensent den großen Sprung zu den autoritären Bewegungen unserer Tage. Der Autor breitet bis dahin jedoch dankenswerter Weise noch viele Daten, Überlegungen und Argumente aus. Weder „Neue Soziale Bewegungen“, noch marodierende Gewalt in Vorstädten, wie sie in England und Frankreich stattfanden, noch zuletzt Occupy sind – manches davon zum Glück – geblieben. Stattdessen erinnern manche Proteste und Begehren der letzten Jahre an das berüchtigte St-Florian-Prinzip und sie misstrauen Kompromissen, die die Interessen unterschiedlicher Gruppen berücksichtigen. Als „böser Zwilling“ demokratischen Aufbegehrens und vor dem Hintergrund der „Postdemokratie“ haben wir es nun mit autoritären Strömungen zu tun, „die sich der liberalen Grundlagen unserer Gesellschaft entledigen“.

So gefährlich das für die Demokratie selbst ist, so unsinnig und destruktiv rückwärtsgewandt die rechten Protestbewegungen und Parteien sind, so widerlich die fremdenfeindlichen Diskriminierungen und Hasstiraden – Nachtwey hilft auch dabei, zu verstehen, woher das kommt.

Der nächste Schritt muss noch folgen: zu überlegen, was dagegen zu tun ist!

Bildquelle: Wikipedia, Cartoon Homo sapiens Syndrom, unknown, gemeinfrei,

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Tags: AbstiegsgesellschaftArmutGerechtigkeitGlobalisierungOliver NachtweyUngleichheit
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