Der linksintellektuelle Österreicher Alfred Polgar (1873-1955) gehörte einer Generation an, der nichts erspart blieb: im Wilhelminischen Kaiserreich wurde auch über die Landesgrenzen hinweg preußischer Drill, Gehorsam und Unterwerfung trainiert; im Ersten Weltkrieg das Grauen der Vernichtung von zig Millionen Menschen auf den Schlachfeldern und darauf folgend extreme Ausschläge von Inflation, Armut und Bereicherung zu spüren bekommen; und dann noch den sogenannten Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich unter dem Hitler-Faschismus, der in den Zweiten Weltkrieg einmündete. Schlimmer geht’s wohl nicht. Das Überleben all dessen, in der Nazi-Zeit im Exil, erst in Frankreich, dann in den USA, wie so viele Intellektuelle und zudem diejenigen jüdischer Herkunft, war auch für Polgar mit einer Selbst-Verpflichtung zur kritischen Beobachtung der Zeitläufte und zu einer literarisch-politischen Stellungnahme verbunden. Er hat, ähnlich wie Kurt Tucholsky, ein stattliches chronistisch-literarisches Werk hinterlassen (1), doch im Unterschied zu Tucholsky ist Polgar eher in Vergessenheit geraten; heute gilt er als Geheimtipp.
Um Polgar wieder in Erinnerung zu rufen und bekannt zu machen, hat Harry Rowohlt den Band „Alfred Polgar: Das große Lesebuch“ (2003 bei Kein & Aber erschienen) herausgebracht, in welchem ausgewählte Kurzgeschichten zusammengetragen sind. (2)
Das Lesebuch versammelt literarische Texte aus den ersten drei Bänden der Werkausgabe „Kleine Schriften“, in denen sich Polgar als Meister der kleinen Form erweist. Zur Begründung dieser Form schreibt Polgar: Das Leben ist zu kurz für lange Literatur, zu flüchtig für verweilendes Schildern und Betrachten, zu psychopathisch für Psychologie, … als daß es sich in langen und breiten Büchern lang und breit bewahren ließe.
Diese kleine Form, meist verbunden mit einem ironischen Stil, setzt genaueste Beobachtungen von gesellschaftlichen Zuständen und der in sie involvierten Personen voraus, um etwa auf soziale Missstände aufmerksam zu machen. Hier erweist sich der Autor als Chronist des Alltagslebens von Menschen verschiedener sozialer Klassen, verbunden mit einem Sinn für soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeiten. Das Themenspektrum der Erzählungen umfasst, jeweils beispielhaft und damit verallgemeinerbar dargestellt, etwa die Kluft zwischen Armut und Reichtum; die Verheerungen des Krieges als Zerstörung von Häusern und Seelen; die galoppierende Inflation; diverse Distinktionsstrategien seitens der Wohlhabenden in Form von Prunk und Protz im Lebensstil, kontrastiert mit bitterer Armut, Hunger und Krankheiten in der Unterklasse; Kriegskrüppel und Demütigung der Beladenen: die Todesstrafe ist abgeschafft, doch die Lebensstrafe ist bitter und abschreckend genug. So heißt es bspw. an einer Stelle über Armut und Obdachlosigkeit:
Es irren derzeit viele Menschen, verzweifelt nach Obdach und Lebensmöglichkeiten suchend, in der Welt herum. In diese Situation kamen sie nicht durch eigene Schuld, sondern durch fremden Willen. Aber das ändert wenig an ihrem Schicksal. Unglück stigmatisiert wie Aussatz. Eine kurze Weile weckt es das Mitgefühl, bald Ungeduld, am Ende Ablehnung und Widerwillen. Die Menschen, geneigt, aus der eigenen Not eine Tugend, sind noch mehr geneigt, aus der fremden Not ein Verbrechen zu machen.
Oder, wo es um die Unverträglichkeit von Armut und der Polizei als Ordnungskraft geht: Armut und Polizei vertragen sich nicht gut miteinander, zwischen beiden besteht eine natürliche Abneigung wie zwischen Ratte und Hund, Auge und Faust, Phantasie und Vorschrift.
Ist hier schon ein dialektisch-ironischer Unterton zu verspüren, der auf die Verantwortung der ursächlich Schuldigen zielt und nicht auf die der Opfer, so zeugt die Geschichte vom Debütanten in Sachen des Bettelns davon, dass Polgar auch ein Verehrer und Kenner von Bertolt Brecht gewesen sein muss. Denn die Ähnlichkeit zu dessen Dreigroschenoper/-roman ist verblüffend; man fragt sich nur: wer hatte zuerst diese Stilform kreiert und eingesetzt? Oder haben beide zur gleichen Zeit voneinander profitiert, weil ihr Schreiben mit vergleichbarer Intention begründet war?
In Polgars Erzählung wird ein Neuling in die Kunst des richtigen, Mitleid erzeugenden Bettelns eingewiesen:
Du mußt dich bis in den letzten Seelenwinkel durchtränken mit dem Bewußtsein des Niedrigen und Erbärmlichen deiner Sache: nur aus ihm kommt die gute Eingebung, das zweckgemäße Wort, die wirksame Gebärde. … Der kleine, geheime Zusatz von Furcht … ist es, der das Mitgefühl produktiv macht und den Pfennig in der Tasche des Nächsten lockert. Also bettle nicht gar zu sanft und demütig. Es muß die Menschen aus deinem Blick und deiner Stimme nicht nur etwas Jammervolles, sondern auch etwas Unheimliches anfallen, etwas, zu dem man nicht gerne mit dem Rücken steht. Deine Ohnmacht soll der, den du anbettelst, auch wie dunkle Kriegslist spüren, deine Klage wie Anklage, deine Geducktheit ein wenig wie Ansatz zum Sprung.
Das ist dialektische Ironie vom Feinsten, die darauf aus ist, mit List und Vortäuschung ans Werk zu gehen, um sein Gegenüber hinters Licht zu führen. Oder den Opfern die Schuld an ihrer Misere zu nehmen und stattdessen die wahren Ursachen und ihre Verursacher schonungslos zu benennen. Dazu gehört auch die zu bewundernde Tüchtigkeit des Einbrechers, der beim Bruch schließlich mit den gleichen Methoden arbeiten muss, wie sie die Herrschenden an den Tag legen (s. die Geschichte Ein Heldenleben, S. 90 ff.).
Wie bei Brecht kommt auch bei Polgar der dialektisch-ironische Stil oft als Verkehrung von Ursache und Wirkung zur Geltung, etwa wenn die Schuldigen zu Helden und die Opfer zu Missetätern umgewandelt werden. Oder wenn er Leute wie von Papen und von Ribbentrop portraitiert, erfolgt seine Kritik an den Herrschenden etwa durch die Entblößung von deren Unfähigkeit. Auch das nazifizierte Österreich ist Thema und Objekt der Kritik, wie die Kurzgeschichte Wien, Stallberggasse 2 zeigt: eine wahre Geschichte, vom Autor selbst erlebt, wo es um die Überwachung und Ermordung eines linken Politikers geht; auch Der Österreicher mit seinen Eigenheiten und Eigenschaften wird im Rahmen einer Charakterstudie im ironisch-sarkastischen Stil vorgestellt: mit seiner Neigung, auch das Schwere leicht zu nehmen; als Bereitwilligkeit, die Dinge laufen zu lassen, wie sie laufen; als bewußte Verkennung einer Gefahr, um nicht von dem Problem, wie sie abwenden, belästigt zu werden. Im März 1938 allerdings, dem Wendepunkt ihres Schicksals, haben die Österreicher eindrucksvoll bewiesen, dass sie Bestien sein können. Zu den Schändlichkeiten, an den Juden verübt, mußten die österreichischen Nazis nicht erst kommandiert werden; sie begingen sie aus blankem Spaß an der Sache, mit einer Art sportlichem Ehrgeiz, in ihr Originelles zu leisten, und zeigten schöpferische Phantasie in der Verschmelzung von Brutalität und Gemütlichkeit.
Diese thematischen und stilistischen Beispiele mögen hinreichen, um den Schriftsteller Alfred Polgar auf der Grundlage des Großen Lesebuchs von Harry Rowohlt vorzustellen. Stimmen wie diese waren und sind bis heute unverzichtbar, weil sie den gesellschaftlichen Verhältnissen mit Kritik und Widerspruch begegnen; weil sie mit den Mitteln von Sprache und Stil nicht nur anklagen, sondern auch aufklären und aufdecken, was sonst im Verborgenen bleibt; und weil sie für die Erklärung von gesellschaftlich-sozialen Zusammenhängen unbedingt notwendig sind. Mit dem Stil der dialektischen Ironie, den Polgar ebenso wie Brecht beherrschte und pflegte, gelingt ein Sichtbarmachen, Erhellen, Einsehen in Zusammenhänge, die vorher nicht ohne weiteres wahrnehmbar und zu verstehen waren; er ist auf Vermittlung angelegt und hat daher auch eine didaktische Funktion (3)
Anmerkungen:
- Eine sechsbändige Werkausgabe, hrsg. von Marcel Reich-Ranicki, erschienen im Rowohlt-Verlag; dieser Verlag hat von Beginn an das Gesamtwerk des Autors veröffentlicht und ist ihm bis zuletzt treu geblieben.
- Nach dem Erfolg dieses Lesebuchs hat Harry Rowohlt einen zweiten Band unter dem Titel „Lauter gute Kritiken“ (2006, ebenfalls bei Kein & Aber) zusammengestellt und herausgegeben.
- dazu auch: Ferdinand Wagener: Die romantische und die dialektische Ironie, 1931.
Bildquelle: Max Fenichel – Österreichische Nationalbibliothek, Gemeinfrei