Als wir, meine Frau und ich, 2003 für einige Jahre nach Berlin zogen, suchten wir eine Wohnung „mitten drin“, dort, wo wir meinten, dass das Leben der Stadt sich abspielte: Prenzlauer Berg. Wir fanden eine Wohnung unterm Dach im 5. Geschoss in der Kollwitzstraße, unweit des damals bekannten Marktes, dort, wo Joschka Fischer einkaufte. Prenzlauer Berg, dort hatten sich in den 80er Jahren einige Kritiker des SED-Regimes und Künstler der DDR zurückgezogen, viele Häuser waren ziemlich heruntergekommen, sie wurden nach der Wende aufgehübscht, Aufzüge wurden in den Hinterhöfen quasi angeklebt. Die Einheimischen wurden rausgedrängt von den neuen Besitzern, oft Betuchte aus dem Westen, vor allem aus Baden-Württemberg, die die Wohnungen teuer vermieteten. Es war „in“, dort zu wohnen und zu leben, in der Kollwitzstraße gab es über 30 Kneipen und Cafés. Ein paar Hundert Meter weiter folgte der nächste Kiez, Friedrichshain, dorthin zogen die nächsten neuen Berliner auf der Suche nach ihrem Sehnsuchsort in der riesigen Stadt. Häuser reihen sich an Häuser, laute Straßen durchziehen die Viertel, Grünanlagen lockern auf, man findet mittendrin Plätze der Ruhe, zum Joggen und Spazierengehen, Kinderwagen werden geschoben, auf Spielplätzen toben Kinder. Auch das ist Berlin, eine Stadt, die nie fertig wird. Eine spannende Stadt, stressig, weil viele rennen und hetzen, einen Kaffee to go in der Hand und das Brötchen mit Wurst oder Käse belegt, was man hier Schrippe nennt, offen ist die Stadt, die Bewohner sind neugierig, offen, man fühlt sich schnell zu Hause, wenn es das gibt.
Ich habe noch nie eine solche Biographie einer Stadt gelesen, wie ich sie seit Wochen in den Händen hatte: Berlin. Biographie einer großen Stadt. Autor ist Jens Bisky, Journalist, Feuilleton-Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“. Ein Ostdeutscher, Sohn des einstigen PDS-Chefs Lothar Bisky, Bruder des Malers Norbert Bisky. Die Familie zog 1981 von Leipzig nach Berlin-Marzahn, wohnte in Plattenbauten, die der Autor heute noch würdigt, auch weil dort die Krankenschwester neben dem Professor der Charité wohnte. Er geht überhaupt eher umsichtig mit der DDR um, die er nicht schönschreibt, sondern die häßliche Seite des Regimes sehr genau aufzeichnet, was den Zeitzeugen glaubwürdig macht. Aber er himmelt den Westen auch nicht an. Der 53jährige Jens Bisky hat Kulturwissenschaft und Germanistik studiert(MA-Abschluss), wurde promoviert in Kunstgeschichte. Als junger DDR-Bürger hat er aber auch freiwillig einen verlängerten Wehrdienst als Offizier auf Zeit bei der Nationalen Volksarmee geleistet, den er als Leutnant abschloss. Vielleicht muss man das alles wissen, um Jens Bisky zu verstehen.
Noch einmal zum Prenzlauer Berg und zu Friedrichshain. Es waren früher die Bezirke, in denen die Proletarier lebten. Schildert Jens Bisky. So ist halt Berlin, eine Stadt, die sich immer wieder neu erfindet, die sich wandelt, weil vieles in Bewegung ist. Als wir nach Berlin zogen, haben wir uns ziemlich schnell in der fremden Stadt wohl gefühlt, wir wurden nie als Zugezogene angesehen. Wir waren da und gut war es. Was vielleicht auch damit zu tun hat, dass über die Hälfte der in Berlin lebenden Menschen zugezogen sind und zwar aus allen Teilen der Welt, nicht nur aus Baden-Württemberg, NRW und Bayern, sondern auch aus Amerika, Frankreich, Holland, aus Afrika, Vietnam, Russland. Sie leben miteinander, nebeneinander. Vieles geht, auch manch Schräges. Berliner lassen sich nicht so leicht imponieren, aber auch gelegentliches Jammern ist ihnen nicht fremd wie die Schnoddrigkeit, die Berliner Schnauze, die freundlich gemeint sein kann, aber nicht muss. So ist Berlin.
Voller Spannungen und Tragödien
Berlin hat eine lange Geschichte vorzuweisen, voller Spannungen und Tragödien. Jens Bisky gelingt es, mit seinem leichten Schreibstil auch schweren Stoff lesbar zu halten. Wenn das Buch mit seinen fast 1000 Seiten-es wiegt 1,5 Kilo- nicht so schwer wäre, man würde es nicht weglegen. Im Bett fällt es einem schon mal aus der Hand.
Berlins Aufstieg zu einer Stadt, der Beginn mit den Hohenzollern, die Sache mit dem Schloß, die Residenzstadt, die Garnisonsstadt, die Kurfürsten, der Hof und das Militär, dazwischen der Berliner, Berlin als Ort der Macht und der Herrschaft, der Stadtgesellschaft, der Experimente und Lebensläufe. Vom Zentrum der Aufklärung über Napoleon, das Ende des Kaiserreichs, die goldenen 20er Jahre, Hitlers Machtergreifung, die Stadt ist geprägt von der Geschichte, wenngleich vieles nach der fast totalen Zerstörung durch den Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut werden musste. Die Grausamkeiten der deutschen Wehrmacht im Umgang mit der Zivilbevölkerung in Polen und der Sowjetunion fehlen ebensowenig wie die Rache der Russen gegen Ende des Krieges und danach, Massen-Vergewaltigungen, Selbstmorde, weil mancher nicht weiter wusste oder konnte.
Jens Bisky ist ein toller Erzähler, er kennt die Kunstgeschichte und schreibt darüber, Architektur und Städteplanung fehlen nicht in seinen gekonnten Texten, sie sind, wie es ein Rezensent urteilte, stilistisch schnörkellos. Die Geschiche Berlins, die Entwicklung der Bevölkerungszahlen, die Probleme im Wohnraum, Mauerbau und Mauerfall, Anekdoten wechseln mit Geschichtsfakten und -daten, der Feuilletonist Bisky weiß über die Theater zu schreiben und die Literatur, den Baustil. Die Faszination einer Stadt, die zur Weltstadt geworden ist mit allen Höhen und Tiefen, Sorgen und Problemen, mit Glanz und Glamour, Werkstatt der Einheit, Spree-Athen, Babylon. Stätte des Chaos und Sehnsuchtsort.
Es mag ja sein, dass auch mit Bezug auf Berlin ein alter Spruch gilt: Es ist alles erzählt, aber nicht von allen. Jens Bisky ist eine rühmliche Ausnahme, er hebt sich wohltuend davon ab. Seine Biographie ist ein Meisterwerk. Wer Berlin kennenlernen will, muss natürlich hinfahren und dort leben, aber er sollte, wenn er etwas mehr über und von Berlin erfahren will, das Buch lesen.
Jens Bisky: Berlin. Biographie einer großen Stadt. 2019. Rowohlt Berlin. 976 Seiten. 38 Euro.
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