Der Rechtsanwalt Adolf Flecken, Jahrgang 1889, war vor 1933 für die Zentrumspartei Ratsmitglied in seiner Heimatstadt Neuss und nach dem Krieg nordrhein-westfälischer CDU-Innen- und dann Finanzminister unter Karl Arnold. Er schrieb am 22. November 1944 an einen entfernten Verwandten in Berlin: „Abgesehen von der Einwirkung auf Düren in der letzten Woche ist wohl Köln bisher das größte Tragödienfeld, von dem man sich tatsächlich auch als alter Soldat keine Vorstellung macht, wenn man das nicht gesehen hat.“ Am 16. November 1944 hatten alliierte Bomber nämlich den historischen Stadtkern von Düren in Schutt und Asche gelegt und mehr als 3000 Einwohner waren zu Tode gekommen, nur vier Häuser waren angeblich noch bewohnbar. In Neuss gab es zwischen 1940 und 1945 bei über 130 Bombenangriffen mehr als 800 Tote, in Köln waren es insgesamt mehr als 20.000. Allein bei einem einzigen Angriff, am Festtag Peter und Paul Ende Juni 1943, kamen dort mehr als 4000 Menschen ums Leben. Nach mehr als 260 Luftangriffen waren zum Schluss in Köln zwischen 40 und 60% der Wohnungen total zerstört.
Dies sind Dimensionen einer Katastrophe, deren Ausmaß man sich heute, 75 Jahre nach dem Ende des Krieges, nicht mehr wirklich vorstellen kann. Für die Menschen, soweit sie überhaupt noch in den Städten geblieben und nicht auf dem Land Zuflucht gesucht hatten, war der Kriegsalltag – das Wort Alltag verbietet sich eigentlich in diesem Zusammenhang – gekennzeichnet von dramatischen Versorgungsnöten, ständigen Bombenalarmen, massiven Zerstörungen, existentiellen Ängsten um sich und die Familie. Die Schulen waren seit dem Herbst 1944 geschlossen, viele Frauen mit ihren Kindern in der Evakuierung, Väter und Söhne an der Front, Strom-, Gas- und Wasserversorgung immer wieder unterbrochen, Lebensmittel äußerst knapp, und das alles in einer Zeit, in der das NS-Regime mit aller Macht an seinem Terror- und Unterdrückungssystem festhielt und jeden Defätismus und Widerstand unbarmherzig ahndete.
Kein Wunder, dass Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit weit verbreitet waren. Der eingangs zitierte Adolf Flecken brachte es für seine Stadt so auf den Punkt: „Die Neusser leben noch immer zwischen der Hoffnung, es könnte doch noch vielleicht aus irgendeinem Grunde insofern gut gehen, als es nicht noch schlechter wird als bisher, und dem darauf Warten oder der Angst, wann die Generalabladung der feindlichen Bomben auf uns erfolgt.“ Dies war die Angst vor der absehbaren Schlussoffensive der Alliierten und die Hoffnung, dass es nicht noch schlimmer als bis dahin kommen möge. Aber, und das liest man in vielen Feldpostbriefen von der Front genau so wie in Briefen aus der Evakuierung: In erstaunlich großer Zahl waren die Menschen nicht so tief verzweifelt und hoffnungslos, wie man sich das heute vielleicht vorstellt. Zeitzeugen berichten in ihren Erinnerungen nämlich auch von etwas anderem, dass beispielsweise Kinder nach Bombenangriffen wieder ihren einfachen Spielen nachgingen: „Rad mit einem kleinen Stock schlagen, Papierschiffchen in die Pfütze setzen, auf Blechdosen Stelzen laufen, Ballspiele an der Wand. Wir fanden die Welt schön, besonders im Sommer, der damals noch ein Sommer war.“ Und nicht nur die Kinder hatten Fähigkeiten entwickelt, das Unerträgliche zu ertragen.
Auch die Erwachsenen verloren nicht alle Hoffnung auf Besserung der Verhältnisse. Im katholisch geprägten Rheinland finden sich dafür zahlreiche Belege, nämlich für die Verwurzelung großer Teile der Bevölkerung im Glauben. Viele der Briefe und Erinnerungen lassen dies erkennen. Felix Mayser, Inhaber eines Süßwarengeschäfts in Neuss, schrieb: „Wir stehen in Gottes Hand und müssen abwarten und annehmen, was er uns schickt. Der Niederrhein wird noch heftig leiden müssen.“ Eine Mutter, die mit ihren fünf Kindern in Sachsen-Anhalt in der Evakuierung war, schrieb im Januar 1945 an ihren daheimgebliebene Mann in Köln: „Mehr Not und mehr Elend ist ja bald kaum noch denkbar. Es muss durchstanden werden. Maria breit den Mantel aus. Es ist unser aller einzige Zuflucht und Hoffnung.“ Und ihr Mann schrieb zurück: „Wir wollen mit Gottvertrauen in die Zukunft blicken. Er wird schon alles zum Guten lenken.“ Der Glaube an Gott war anscheinend unerschütterlich: „Werfen wir alles dem Herrgott auf und lassen wir nicht nach im Gebet. So muss sich ja alles zum Besten wenden. Wenn`s auch noch so trostlos aussieht.“ So noch einmal die Antwort auf einen Brief über die Lage in Köln.
Wer an Gott glaubte, wird eine Hoffnung gehabt haben, Hoffnung auf Hilfe von oben, so makaber sich das gerade in diesem Zusammenhang anhören mag. Und wenn es nicht die Hoffnung auf Besserung der Verhältnisse im irdischen Leben war, so war es der Glaube an ein Leben nach dem Tod, der vielen Menschen half, ihr Schicksal zu ertragen. So schrieb die genannte Mutter aus Sachsen-Anhalt an ihren Mann in Köln: „Am Ende sind wir doch beieinander. Unser ganzes Dasein ist ja immer nur Weg und Vorwärtsschreiten zur Vollendung und je mehr Kreuz, desto näher der Himmel.“ Natürlich war ein derartig tiefer Glaube nicht bei allen ein Rettungsanker in größter Not. Es gab, so ein Zitat aus einem anderen Brief, „viele Menschen, die nicht an Gott glauben und das für etwas Selbstverständliches halten.“ Was in Städten wie Köln oder Neuss aber das Adjektiv „katholisch“ bedeutete, und zwar im (Kriegs-)Alltag der Menschen, versteht man vor diesem Hintergrund vielleicht besser. Weder das NS-Regime noch der Bombenkrieg hatten es vermocht, dieses Gottvertrauen zu zerstören. Die Mutter und ihre fünf Kinder kehrten übrigens, wenn auch erst im Herbst 1945, zu Mann und Vater nach Köln zurück. In der näheren Verwandtschaft hatten ebenfalls alle überlebt. Ob oder wie schnell aber die Wunden in den Seelen der Menschen wie auch in den Städten des Rheinlands verheilten, steht allerdings auf einem anderen Blatt, wie auch Hunger und Wohnungsnot in den ersten Nachkriegsjahren.
Bildquelle: Wikipedia, gemeinfrei