Freudentaumel, Feuerwerk und knallende Champagnerkorken sind eine unangemessene und verstörende Begleitmusik für diesen historischen Tag. Mit Großbritannien verlässt erstmals überhaupt in ihrer Geschichte ein Mitgliedsland die Europäische Union. Engländern und Walisern, Schotten und Nordiren steht ein Weg in ungewisse, schwierige Zeiten bevor. Das Vereinigte Königreich muss sich auf Unabhängigkeitsbestrebungen und Zerfall gefasst machen. Das zerstörerische Potenzial ist in seiner ganzen Wucht noch nicht erfasst.
Grund zu jubeln haben allein die britischen Rechtspopulisten, denen weder das Wohlergehen des eigenen Landes noch die Zukunft der Menschen am Herzen liegt. Mit dem Brexit, dessen Gestaltung nach dem jetzt offiziell vollzogenen Austritt erst richtig beginnt, streben sie nach maximalem Eigennutz. Den Preis dafür zahlen die anderen, und wie hoch der insgesamt ausfällt, wird sich erst nach Jahren zeigen.
Für die EU ist der Austritt Großbritanniens ein bitterer Verlust. Das gilt für die Wirtschaftskraft ebenso wie für das politische Gewicht, das Europa in der Welt besitzt. Vor allem aber nimmt das historische Einigungswerk Schaden. Der Brexit beschädigt die Vision von einer Überwindung des Nationalismus und bedeutet einen Rückschlag in Zeiten bedrohter Akzeptanz. Rechtspopulisten und Nationalisten stehen in vielen der 27 verbleibenden Mitgliedsländer als mögliche Nachahmer in den Startlöchern. Auch für die EU geht es um ihre Existenz. Sie hat allen Grund, ihre Prioritäten zu justieren: erst die Menschen, dann die Märkte.
Die Verhandlungen, die bis zum Ende des Jahres das Verhältnis zwischen EU und Großbritannien neu regeln sollen, werden von beiden Seiten mit harten Bandagen geführt werden. Fairness muss das oberste Gebot sein, auch wenn Misstrauen das Verhandlungsklima vergiftet und die Versuchung von bilateralen Abmachungen wächst. Das Schreckgespenst eines ungeregelten Austritts ist noch nicht besiegt. Will der britische Premier Boris Johnson die Frist partout nicht verlängern, steht es nach nur zehn Monaten wieder vor der Tür.
Gefälligkeiten verbieten sich. Das Regelwerk der EU muss Maßstab bleiben, und wer ausschert, kann nicht die gleichen Konditionen wie die Mitglieder erwarten. Aber auch Schadenfreude ist keine Option. Es geht nicht an, die Menschen in Großbritannien für die verantwortungslose Kampagne von rücksichtslosen Demagogen büßen zu lassen.
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