53 Prozent der Mitglieder haben abgestimmt. 47 Prozent haben nicht mitgemacht. Es mag durchaus sein, dass eine kaum ermittelbare Zahl mit dem Procedere beim elektronischen Abstimmen nicht klar kam oder 80 Cent für´s Briefporto nicht aufbringen wollte. Aber die Lücke zum Abstimmungsergebnis über eine neue große Koalition im März 2018 mit über 78 Prozent ist doch bemerkenswert.
Wie´s politisch weitergehen soll, interessierte mehr als drei Viertel der SPD-Mitglieder; mit wem es weitergehen soll hingegen nur eine gute Hälfte. Das ist ein merkwürdiger „Befund“, denn in den repräsentativen Meinungsbefragungen ist es meist umgekehrt: Da liegt die SPD hinten, während die Führungspersönlichkeit bessere Werte aufweist – in Rheinland-Pfalz mit Malu Dreyer als MP ist das beispielweise so.
Vielleicht hat die zweite Wahl ja mehr mit der erwähnten ersten zu tun, als auf den ersten Blick zu erkennen ist. Möglich ist jedenfalls, dass von den 67 Prozent, die im März 2018 für die große Koalition stimmten erhebliche Teile verärgert sind, weil das Nein zur Großen Koalition immer wieder von prominenten Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten neu angefacht wird. Drei der sechs Pärchen, die für ein Vorsitz-Tandem kandidierten, forderten klar und im Widerspruch zur Mehrheit der Mitglieder, den Austritt aus der großen Koalition. Gut vorstellbar ist jedenfalls, dass sich manche überlegt haben: Es gibt in meiner Partei Promis, die sagen: Mehrheit hin oder her – interessiert mich nicht, wir wollen raus. Basta. Manche werden sich ferner überlegt haben: Wenn das so ist, dann braucht ihr meine Stimme ja nicht. Dann macht´s „alleene“.
Auffällig ist auch: Es gibt keine „linke“ Basismehrheit in der SPD, sofern man bereit ist, eine Koalition mit CDU und CSU zur „Wasserscheide“ zu machen. Die drei Pärchen, die die große Koalition akzeptieren, wenngleich teils mit Bauchgrimmen, erzielten gut 58 Prozent.
Die erstaunlichsten Teilergebnisse sind: 14,63 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen für Nina Scheer und Karl Lauterbach, aber nur 14,61 Prozent für Petra Köpping und Boris Pistorius. Ich hätte gewettet, dass es andersherum ausgehen wird.
Köpping und Pistorius sind laut und deutlich dafür eingetreten, die SPD von unten her, aus den Kommunen heraus zu erneuern. Pistorius hat sich leidenschaftlich dagegen gewehrt, die Leistungen früherer SPD-Regierungen schlecht zu reden. Für die beiden spielte innere Sicherheit als Zukunftsaufgabe eine wesentliche Rolle.
Scheer und Lauterbach standen für den Gegenkurs, setzten auf einen abrupten Bruch mit der jüngsten SPD- Geschichte. Fast nichts sollte mehr gelten, mit Blick auf die große Koalition hieß es: der Drops ist gelutscht. Lauterbach beging die „schwere Sünde“ im Wettbewerb, die Mitkandidaten Scholz und Borjans unlauteren Vorgehens zu beschuldigen; was ihn deutlich von den übrigen unterschied.
Das Abschneiden der beiden Pärchen lässt darauf schließen, dass bei einem Teil des sozialdemokratischen Stimmvolkes an erster Stelle nicht politische Positionen zählen sondern die Affinität zu links -angegrünten Lebensweisen. Der prägnant bürgerlich- städtische Teil der SPD Mitglieder hat mobilisiert. Zu vermuten ist, dass es unter denen nur mäßiges Interesse für Fragen der inneren Sicherheit gibt, weil das ein „rechtes“ Thema sein soll. Auch das Interesse an konkreten, sozialpolitischen Fortschritten wie ein besseres Behindertenrecht, mehr Rechte für Paketzusteller und anderes mehr sind hier nicht „die Renner“. Dieser Teil der Sozialdemokratie ist aber in hohem Maße für Symbolthemen zu begeistern, die wenig mit der sozialen Realität der Masse der Bevölkerung zu tun haben. Es ist auch bemerkenswert, dass die Differenz von Scheer& Lauterbach zu Regierungspraktikern wie Scholz & Geywitz mit sieben Prozentpunkten gering ausfällt.
Ich treibe die Mutmaßung noch etwas weiter, frage: Wie wäre dieser erste Wahlgang ausgegangen, wenn Giffey & Heil kandidiert hätten, also sozialpolitisch Versierte mit einem guten Zugang zu den gewerkschaftlich orientierten Teilen der SPD? Es scheint in diesem Teil der SPD nur eine geringe Mobilisierung gegeben zu haben.
Die SPD häutet sich. Ihre Zusammensetzung ändert sich. Die Bundestagsfraktion der SPD und sozialdemokratisch geführte Ministerien für Arbeit und Soziales, Familie, Umwelt, recht legen ein Gesetz nach dem anderen vor und die eigene Partei schaut grünen Vorbetern (und –innen) nach wie die Kinder im Herbst den Wandervögeln auf ihren Zügen in den Süden. Es ist wie in Günter Eichs Ende eines Sommers:
„Bald wird die Vogelschrift entsiegelt,
unter der Zunge ist der Pfennig zu schmecken.“
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