Er war ein Prophet der Vernichtung, der Autor und Beamte Siegfried Lichtenstaedter. „1923 hielt er für möglich, was 1933 begann“, heißt es zutreffend im Klappentext über sein Buch, das den anfangs erwähnten Titel trägt. Lichtenstaedter ließ sich von der Humanität in Europa nicht blenden und nicht von der Zivilisation, in teils bissiger Ironie beschreibt er die Konflikte der Zukunft, sieht er-man könnte an heute denken, an den sich ausbreitenden Antisemitismus in weiten Teilen Europas- hinter den Rassegedanken Neid und Habgier, Missgunst.
Den Juden, die durch ihren Ehrgeiz , ihre Sparsamkeit und ihren Willen es zu was gebracht hatten im Leben, sagt er den Tod voraus. Die Deutschen sieht er besonders anfällig für den Antisemitismus und führt das auch auf die Niederlage im Ersten Weltkrieg zurück. Und was im eigenen Land zu erwarten sei, beschreibt er ohne jede Zurückhaltung: „Die 600000 Juden des deutschen Reiches und die 200000 Juden Deutsch-Österreichs sollen totgeschlagen und ihre Güter den Ariern gegeben werden. Hierzu bedarf es aber einer neuen Ethik. Diese lehrt: Die Fremdstämmigen, die im Vaterlande leben, darf und soll man totschlagen und ihrer Habe berauben.“
Der Autor Siegfried Lichtenstaedter ist Jahrgang 1865, geschrieben hat er jene Zeilen 1926, sieben Jahre vor der Machtergreifung der Nazis. Der Historiker Götz Aly, erst kürzlich mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet, hat Schriften des Autors, die dieser u.a. unter dem Pseudonym Dr. Mehemed Emin Efendi verfasst hat, herausgegeben, mit Erklärungen versehen. Titel des lesenswerten Buchs: „Prophet der Vernichtung.Über Volksgeist und Judenhass“.
„Als aktiver Beamter, noch dazu Jude“, hat er seine Geschichten geschrieben. Das ist wichtig zu wissen, um seine Satire, verfeinert mit jüdischem Witz, zu verstehen und sie einzuordnen. Man nehme nur seine eigene Geschichte, die des Gerichtsvollziehers in der Stadt Anthropopolis, ein erfundener Name, hinter dem sich wohl die Stadt München verbergen soll. Und hier bekommt er die Stelle eines Gerichtsvollziehers, und weil er sie bekommt, er, der Jude, beschreibt er diesen Vorgang als Beleg für die Vorherrschaft des Weltjudentums. Denn die Stelle des Gerichtsvollziehers ist „zu 100 Prozent in jüdischer Hand“.
1942 im KZ Theresienstadt ermordet
Lichtenstaedter, damals Oberregierungsrat in eben dem München, wo auch Adolf Htler lebte, in der Stadt der Kunst, die dann von den Braunhemden zur Hauptstadt der Bewegung gemacht oder soll man besser sagen erniedrigt wurde, arbeitete, so heißt es in einer kurzen Vita von Götz Aly, in der bayerischen Finanzverwaltung. Er sei alleinstehend gewesen, habe die rechtsradikale Presse regelmäßig gelesen und sich Gedanken über einen Text gemacht, den er im Ersatzblatt des kurzzeitig verbotenen Völkischen Beobachters, „Heimatland“ gefunden hatte. Die NSDAP war noch eine kleine Partei, wir schreiben Anfang Oktober 1923. Und in diesem rechtsradikalen Blatt, „im unmittelbaren Umfeld Adolf Hitlers“ war Mitte Oktober 1923 ein Aufsatz erschienen, der den Völkermord von den Türken an einer Million Armeniern, begangen 1915, als „notwendige Tat verherrlicht“ habe, so Götz Aly. Verfasser des Texter ein gewisser Hans Tröbst, seines Zeichens Hauptmann. Dieser Tröbst habe den staatlich organisierten Massenmord fremder Menschen als vorbildlich empfohlen und zugleich ein Hinweis geliefert, wie man mit der Minderheit der deutschen Juden umgehen könne. „Die Türkei hat den Beweis geliefert“, so Tröbst, „dass die Reinigung eines Volkes im größten Stil von Fremdkörpern jeder Art sehr wohl möglich ist.“ Und daraus zog Lichtenstaedter das, was er in Deutschland für die Juden erwartete. Das Zitat steht im 2.Absatz.
Lichtenstaedter hatte seine Vernichtungsprognosen 1926 geschrieben. Kurze Zeit später, so zitiert das Buch Joseph Goebbels, den späteren Propagandachef der Nazis, habe dieser getönt: „Deutschland den Deutschen! Heraus mit dem Gesindel! Wir wollen für unser deutsches Volk eine judenreine deutsche Kultur ..“ Weitere Zitate von NS-Mitgliedern, NSDAP-Abgeordneten und eines Gaukommissars folgen, vom Inhalt her gleichen sie Mordaufforderungen der schlimmsten Art. Er sah den Krieg voraus, schrieb 1939 von der „Züchtigung der slawischen Völker“ durch den deutschen Staat. Man könnte meinen, er hätte damit den Kriegsbeginn am 1. September 1939 vorausgesehen. Und was die Zukunft Österreichs angeht, den Anschluss, vertat sich der Autor lediglich um zwei Jahre.
Am 6. Dezember 1942 wurde Siegfried Lichtenstaedter im Alter von fast 78 Jahren im Konzentrationslager Theresienstadt ermordet. Nach Angaben der Lagerverwaltung starb er an „Altersschwäche“. An ihn zu erinnern, seine Werke gerade jetzt veröffentlicht zu haben, ist ein Verdienst von Götz Aly, der Recht hat mit seiner Feststellung: „Und so lesen sich viele Texte des ungewöhnlichen Autors Siegfried Lichtenstaedters, als seien sie gestern für uns Heutige geschrieben worden.“ Denn die Gespenster, die Lichtenstaedter beschrieb, sie sind wieder da: Nationalismus, Rassismus, Minderheitenhass, Intoleranz, ja Antisemitismus.