Gleichgültigkeit ist keine Option, wenn in der unmittelbaren Nachbarschaft die Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Zehn Tage nach der Präsidentschaftswahl in Belarus (Weißrussland) hat sich ein Sondergipfel der Europäischen Union mit den Vorwürfen der massiven Manipulation, der brachialen Polizeigewalt und den Perspektiven für eine freiheitliche demokratische Entwicklung befasst.
Die 27 Mitgliedsländer der EU erkennen den Ausgang der Wahl nicht an. Das ist gut so. Die Fälschungen waren derart dreist und geradezu größenwahnsinnig, dass alles andere einen Verrat an den demokratischen Grundwerten bedeutet hätte. Im Übrigen aber reagiert die EU zurückhaltend, und auch dafür gibt es gute Gründe.
Der Konflikt birgt hochexplosives Potenzial, und die EU muss alles daran setzen, eine gewaltvolle Eskalation zu vermeiden. Belarus darf nicht zum Spielball geopolitischer Interessen werden, aber ein Schweigen zu den schweren Misshandlungen, von denen Tausende Demonstranten nach ihrer Freilassung berichten, zu den Vorwürfen der Folter und Erniedrigungen in den staatlichen Gefängnissen verbietet sich.
Das deutliche Signal an die aufbegehrende belarussische Bevölkerung lautet: Europa steht euch zur Seite, wenn ihr um eure Freiheit kämpft, und es lässt euch nicht im Stich, wenn ihr faire und ehrliche Wahlen erstreitet, um nach 26 Jahren unter Präsident Alexander Lukaschenko das autoritäre Regime abzuschütteln.
Wie genau der Weg dahin aussehen kann, ist offen. Die Opposition, die erst binnen weniger Wochen zu einer machtvollen Bewegung herangewachsen ist, hat kein fertiges Konzept; mit Swetlana Tichanowskaja ist eine zentrale Figur ins litauische Exil gegangen, und die Handlungsfreiheit ihrer Mitstreiter in Minsk ist durch staatlichen Druck und Repressionen erheblich eingeschränkt. Für einen nationalen Dialog sind die Bedingungen und die Gesprächspartner noch nicht erkennbar.
Lukaschenko klammert sich an die Macht. Doch weder gelingt es ihm, eine nennenswerte Anhängerschaft im eigenen Land zu seiner Unterstützung zu mobilisieren, noch lässt Russlands Präsident Wladimir Putin sich momentan zu einer Einmischung hinreißen, die seinem engsten Verbündeten das Amt retten soll. Es sei denn, so das Signal aus dem Kreml, es gäbe eine militärische Bedrohung von außen. Die hat Lukaschenko zwar prompt behauptet, als er auf eine Verstärkung von NATO-Truppen an der polnischen Grenze verwies, doch geglaubt hat Putin ihm das nicht.
Belarus ist wirtschaftlich von Russland abhängig und hält als Gegenpfand die Transitfunktion für russische Gaspipelines in der Hand. Der Streit um verbilligte Energielieferungen und unbezahlte Rechnungen flammt immer mal wieder auf. In der Vergangenheit hat Lukaschenko gern mit der Orientierung gen Westen kokettiert, wenn zwischen Minsk und Moskau der Haussegen schief hing. Erst voriges Jahr besuchte er Österreich. Doch die wirtschaftliche Misere ist inzwischen spürbarer geworden und der verantwortungslose Umgang mit der Corona-Pandemie hat die Bevölkerung zusätzlich gegen den Langzeitherrscher aufgebracht.
Offiziell sind Russland und Belarus seit mehr als zwei Jahrzehnten in einer Union verbunden. Der 1999 geschlossene Bund, der an vergangene Sowjetzeiten anschließen sollte, schlummerte all die Jahre vor sich hin, bis Wladimir Putin ihn kürzlich für seine persönlichen Ambitionen entdeckte und über eine eigene Anschlussverwendung nach Ablauf seiner Amtszeit im Kreml nachsann. Mittlerweile hat Putin sein Problem per Verfassungsänderung gelöst, die ihm praktisch lebenslängliches Amtieren gestattet. Den Umweg über die russisch-weißrussische Union braucht er nicht mehr. Aber natürlich will er den kleinen Partner auch nicht an den Westen verlieren.
Putin lässt Lukaschenko offenbar abblitzen und verbindet die eigene Zurückhaltung mit einer entsprechenden Mahnung zur Nichteinmischung an die USA und die EU. Letztere setzt, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel im Anschluss an den Sondergipfel erklärte, auf eine rein belarussische Lösung. Das ist sinnvoll. Anders als die Ukraine bekäme Belarus die Chance auf einen eigenen unblutigen Weg, der nicht von konkurrierenden Einflussinteressen belastet wird und auch nicht aufs Neue den Ost-West-Konflikt anheizt.
Gewaltfreiheit muss das oberste Gebot sein und ein friedlicher Dialog der Weg zur Beilegung des Konflikts. Das setzt allerdings gegenseitiges Vertrauen in die Redlichkeit auf beiden Seiten voraus, und Vertrauen zwischen Ost und West ist derzeit Mangelware. Die Gefahr, dass Machenschaften von Geheimdiensten und Söldnern die fragile Lage in Belarus anheizen und zur Eskalation beitragen, ist nicht gebannt.
Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ist theoretisch eine Instanz, die eine vermittelnde Rolle spielen kann. Allerdings braucht sie dazu ihrerseits eine Aufwertung, denn in den zurückliegenden Jahren hat sie viel von ihrer Bedeutung eingebüßt. Das folgt aus dem generellen Erstarken des Militärischen als Mittel der Politik und dem nachlassenden Interesse an gewaltfreien Konfliktlösungsstrategien. Die Lage in Belarus ist geradezu ein Appell zur Neubesinnung auf die Kraft des Dialogs und den Wert des friedlichen Ausgleichs.
Bildquelle: Wikipedia, Alex Zelenko / CC BY-SA
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