Altes Kino

Gegen das Vergessen: Walker Percy: Der Kinogeher

Seinen 1961 in den USA erstveröffentlichten Debütroman hat Percy mit 45 Jahren geschrieben. Von Haus aus war er Mediziner, übte den Arztberuf aber nur kurze Zeit aus, da er an Tuberkulose erkrankte und nach der Ausheilung nicht mehr praktizieren konnte. Stattdessen wandte er sich philosophischen Themen zu und publizierte Aufsätze in einschlägigen philosophischen Zeitschriften. Erst danach kam er zum literarischen Schreiben. Von Peter Handke, der den Moviegoer  ins Deutsch übersetzt hat (deutsche Erstveröffentlichung 1980), erfährt man in der Nachbemerkung etwas über die Wirkungsgeschichte des Romans: Weder sei er je Kultbuch gewesen, noch ließe er sich in die amerikanische Romantradition einordnen; gleichwohl war ihm eine weite Verbreitung beschieden, auch international. Ihm, Handke, gilt er als die seltsam wahre, geltende Geschichte, jenseits der aktuellen Ideologien und Schreibtheorien. Nach Peter Koslowski (NZZ) ist es ein Werk von philosophischer Durchdringung und dichterischer Unmittelbarkeit.

Die Hauptfigur John Bickerson Bolling, Abkömmling einer seit Generationen in New Orleans ansässigen, angesehenen Familie, ist als Wertpapiermakler erfolgreich im Geschäft. Zunächst geriert sich Jack Bolling als Durchschnittsbürger, der in Gentilly, einem Vorort von New Orleans, ein sehr friedvolles Leben führt. Ich bin ein Modellmieter und ein Modellbürger, und es gefällt mir, alles zu tun, was von mir erwartet wird. Allerdings hatte seine Familie sich einen anderen Werdegang  erhofft: Es stimmt, dass meine Familie über diese Berufswahl ziemlich enttäuscht war. Einmal hatte ich daran gedacht, Recht oder Medizin oder gar reine Wissenschaft zu studieren. Ich habe sogar geträumt, Großes zu unternehmen. Aber es spricht viel dafür, solch bedeutende Ambitionen aufzugeben und das allergewöhnlichste Leben zu führen, ein Leben ohne die früheren Sehnsüchte; Aktien, Pfandbriefe und Wechsel zu verkaufen; wie alle Welt um fünf von der Arbeit wegzugehen; ein Mädchen zu haben, sich eines Tages vielleicht niederzulassen und einen Schock (sechs, d. V.) von eigenen Marcias, Sandras und Lindas aufzuziehen. Außerdem ist die Börsenmaklerei interessanter als man denkt. Es ist kein arges Leben.  

Das liest sich wie der Lebensentwurf eines desillusionierten Mittelklasseangehörigen oder gar Spießbürgers, dem die höheren Ziele in Leben und Beruf abhanden gekommen sind, der sich eingerichtet hat im Mittelmaß und durch Anpassung an den Status quo ein  zufriedenstellendes Leben führt. Bolling wirkt wie erleichtert, wenn er von den hinter sich gelassenen bedeutenden Ambitionen spricht, denen er nun nicht mehr nachhängen muss – Recht, Medizin, Philosophie zu studieren oder ein großer Unternehmer zu werden. Er verkörpert eine Haltung der reduzierten Ansprüche an das Leben, wirkt teilnahmslos oder unbeteiligt, antriebs- und interesselos.

Zunächst soll das Augenmerk auf die Besonderheiten der Hauptfigur gelegt werden, die entgegen dem ersten Eindruck durchaus nicht statisch konstruiert ist, sondern Entwicklungsperspektiven aufweist, die möglicherweise die Attitüde des Desillusionierten sprengen. Dafür soll der sozialen und familiären Einbettung Jack Bollings Beachtung geschenkt werden.

Eine besondere Beziehung verbindet ihn mit seiner Stief-Cousine Kate; mit ihr, die psychisch krank, suizidgefährdet, zerbrechlich und höchst eigensinnig ist,  die  ohne jede sexuelle Komponente auskommt. Immer dann, wenn Kate eine ihrer zahlreichen Krisen durchlebt, ist Bolling derjenige, dem sie sich öffnet. Die beiden sind in gewisser Weise seelenverwandt; an einer Stelle des Romans bezeichnet Bolling sie denn auch als seine Doppelgängerin: rußäugig, im Nirgendwo. Beide kennen sich sehr genau; zwischen ihnen finden sog. Scherzstreit-Dialoge statt; ihre Art, sich zu verständigen. Als Kate ihm mitteilt, dass ihr Onkel Jules ihn für einen Tatsachenmenschen hält, was Bolling zu schmeicheln scheint, antwortet ihm Kate: Aber mich täuscht du nicht. Du bist wie ich, nur ärger, viel ärger. An anderer Stelle sagt sie zu ihm: Du bist kalt, mein Lieber, kalt wie das Grab.

Die Art, wie Percy die Entwicklung Kates schildert, gehört zu den Glanzstücken des Romans. Es scheint ihr gut zu tun, die Möglichkeiten des Hasses zu entdecken. Sie lebt dadurch auf …. Ihr Haß rührt von einer Veränderung ihrer Denkweise her … Zunächst war sie das >Kind ihres Vaters< gewesen. In einer kritischen Periode ihrer Mädchenzeit war dann die agile, bezaubernde und vor allem intelligente Stiefmutter (die Tante Bollings, d. V.) ihr nah gekommen. Sie wurde zu dem ordnenden Element für all die Kräfte, die bis dahin fast nur als ein formloses Unbehagen gefühlt worden waren. Erst im Bannkreis dieser Frau erkannte Kate, wie fremd ihr die Art des Vaters war: sein gutmütiges Wesen, seine Stummheit vor seinem Gott, dem Herrn; seine unablässigen, sprachlos-lästigen Ermahnungen, bloß gut zu sein, auf die Schwestern zu hören und seinen Weg zu gehen, den stummen Weg von innerer Gläubigkeit zu äußerem Wohlbefinden. Ihre Stiefmutter hatte sich damals um sie gekümmert und sie befreit. In der älteren Frau (älter als eine Mutter und doch eine Art Schwester) fand sie die allermunterste Mitrebellin. Die Welt der Bücher, der Musik, der Kunst und der Ideen tat sich vor ihr auf. Später nahm die Stiefmutter freilich Anstoß an Kates politischen Aktivitäten … Auch das gehörte freilich inzwischen der Vergangenheit an und war nicht wirklich schlimm; vielleicht würde es sich in der Erinnerung zu den >Lehrjahren< verklären. Im Moment ist meine Tante jedoch selber das Opfer von Kates Dialektik der Feindschaften. Es war unvermeidbar, dass Kate ihre Stiefmutter durchschauen würde, so wie sie ihren Vater durchschaut hat … Mir ist es gleich, welchen Elternteil sie im Moment mag oder nicht mag. Beunruhigt bin ich nur von der Dürftigkeit ihrer weiteren Möglichkeiten. Wohin wird die Mechanik sie jetzt führen? Nach Onkel Jules: was dann? Ich fürchte, nicht zurück zu ihrer Stiefmutter, sondern in eine Sackgasse, wo sie sich der Mechanik bewusst werden muß. >Hasse sie also<, möchte ich ihr sagen.

Es sind nicht so sehr die Personen, die Objekt des Hasses von Kate sind: Sie sind es vielmehr als Repräsentanten eines Realitätsprinzips, das sie zutiefst verabscheut. Es ist nicht ganz klar, ob Bolling diese Ablehnung teilt, denn auch er scheint zu der überaus beeindruckenden Persönlichkeit der Tante ein zumindest ambivalentes Verhältnis zu haben. Seine Tante Emily, die ihn erzogen hat, spielt in Bollings Selbstwahrnehmung eine gewichtige Rolle; sie ist die Respektsperson schlechthin, der er viel zu verdanken und die einen großen Einfluss auf ihn hat. Meine Tante hat viel für mich getan. Nach dem Tod meines Vaters ging meine Mutter, als ausgebildete Krankschwester, zurück in ihr Krankenhaus nach Biloxi. Meine Tante bot sich an, mich zu erziehen. So habe ich den Großteil meiner letzten fünfzehn Jahre in ihrem Haus verbracht. Eigentlich ist sie meine Großtante. Aber sie ist so viel jünger als ihre Brüder, daß sie leicht die Schwester meines Vaters sein könnte – oder eher die Tochter aller drei Brüder, denn in ihrer eigenen Erinnerung ist sie immer noch deren großer Liebling, das Maskottchen eines wilden alten Kriegsstammes und von diesem sicher nie ganz ernst genommen, auch nicht in der Auflehnungsperiode, als sie den Süden verließ, in einem Wohlfahrtsinstitut in Chicago arbeitete und, wie so viele distinguierte Südstaatlerinnen, fortschrittliche Ideen annahm. Nachdem sie jahrelang der bunte Vogel gewesen war, den ihre Brüder gewähren ließen und sogar so haben wollten (der Höhepunkt ihrer Karriere war der Dienst als Freiwillige im Spanischen Bürgerkrieg, wo ich sie mir nur als eine teuflisch gutwillige, den Spaniern ganz unbegreifliche Yankee-Lady vorstellen kann), traf sie Jules Cutrer und heiratete ihn – einen Witwer mit Kind – binnen sechs Monaten, ließ sich im Garden District nieder und wurde so tüchtig und gewichtig wie ihre Brüder. Sie ist kein ‚Vogel‘ mehr. Wie es scheint, kann sie nach dem Tod der hervorragenden Brüder endlich das sein, was diese gewesen sind und was ihr als Frau verwehrt war: soldatisch innen und außen. Mit ihrem bläulichen Haar, dem scharfen, beweglichen Gesicht und den außerordentlich grauen Augen ist sie, fünfundsechzigjährig, immer noch gleichsam der junge Prinz.

Eine schillerndere Person ist kaum vorstellbar: Eine junge Frau, die sich gegen die Dominanz ihrer Brüder durchzusetzen hatte, voller Selbstbehauptungswillen und Abenteuerlust, offen für fortschrittliche Ideen und kampfesmutig – ja sogar soldatisch, d.h. in Hierarchien denkend und handelnd, auf die Durchsetzung von Autorität bedacht, streng und tüchtig, Würde und Respekt verkörpernd und für die Familientradition einstehend.

Immer wenn Bolling sich in ihrem Haus aufhält – und er kommt oft zu Besuch –, atmet er die Luft dieser Werte ein, und man spürt, wie ihn die ganze Situation einschüchtert. Doch sein Verhältnis zur Tante ist respektvoll, aber auch zwiespältig: Einerseits verspürt er ihr gegenüber Minderwertigkeitsgefühle, andererseits ist sie für ihn eine Instanz, die ihm einen gewissen Rückhalt verschafft – er versucht zumindest, an ihrer Stärke durch Anlehnung zu partizipieren. Ob die Tante ursächlich für seine Bindungsschwäche verantwortlich ist, darüber kann nur spekuliert werden.

So eng die persönlichen und familiären Beziehungen, in denen Bolling aufwuchs und die ihn geprägt haben, auch waren: Es ist eine ganz spezifische Erfahrung, die sein Leben verändern sollte. Jack Bolling war Teilnehmer am Koreakrieg; immer wieder träumt er davon und erinnert sich an ein Ereignis, das ihn zu einem Suchenden machte: Ich träumte vom Krieg, oder, besser gesagt, erwachte mit seinem Geschmack im Mund, dem Geschmack bitterer Quitten von 1951 und dem Fernen Osten. Ich erinnerte mich an das erste Mal, als die >Suche< mir begegnete. Als Verwundeter, der sich hinter einem Busch verschanzt hatte, beobachtet er einen Mistkäfer unter den Blättern. In mir erwachte da beim Zuschauen eine unmäßige Neugier. Ich war etwas auf der Spur. Ich gelobte: käme ich je aus dieser Lage heraus, würde ich die Suche ständig betreiben. Natürlich vergaß ich alles, sobald ich wiederhergestellt war und heimkam.   

Man fragt sich, was die Beobachtung eines Käfers in seiner argen Lage ausgelöst haben mag. Ist das Tierchen ein Sinnbild für das Leben schlechthin oder für die Mühen des Lebens, das ihm da vor Augen trat? Jedenfalls fasst er während dieses ebenso banalen wie einschlägigen Erlebnisses den Entschluss, sich auf die Suche zu begeben; wonach er sucht und was seine Beweggründe für das Suchen sind, das ist Thema des gesamten Romans.

Percy führt das Motiv früh ein, und es zieht wie ein roter Faden durch den Roman. Die Erinnerung an das Kriegserlebnis scheint das gleichförmige Alltagsleben, das Bolling mittlerweile geführt hat, zu irritieren: Aber unversehens haben sich die Dinge verändert. Meine friedvolle Existenz in Gentilly hat sich kompliziert. Heute früh, zum ersten Mal seit Jahren, erschien mir wieder die Möglichkeit der >Suche<. Die Suche ist etwas, das jeder unternähme, wäre er nicht in die Alltäglichkeit seines Lebens versunken. Heute Morgen zum Beispiel hatte ich das Gefühl, ich sei zu mir gekommen auf einer fremden Insel. – Und was tut ein Schiffbrüchiger? Er streunt herum und treibt Possen.  

Sich der Möglichkeit der Suche bewußt zu werden, heißt: etwas auf der Spur sein. Nicht auf der Spur sein, heißt: Verzweiflung.

Das ist es, was Bolling auch in seiner Selbstwahrnehmung von seinen Mitmenschen unterscheidet: Er ist sich dieser Möglichkeit der Suche bewusst, auch wenn er sie verdrängt hatte und erst ein Traum ihm die Erinnerung an seine Kriegserlebnisse wieder ins Gedächtnis ruft. Ihm ist klar geworden, dass die Versunkenheit in die Alltagsroutinen mit ihren Zwängen, Gleichförmigkeiten und ständigen Wiederholungen das Suchen verunmöglicht. Sich aber dessen noch nicht einmal bewusst zu sein, das ist der wahre Grund der Verzweiflung. Bolling vergleicht dies mit der Situation eines Schiffbrüchigen, der sich in völliger Isolation auf einer fremden Insel befindet. Diesem bleibt nur, herumzustreunen und Possen zu treiben, um sich zu orientieren, in welcher Lage er sich befindet; und, so könnte man hinzufügen: Er treibt Possen, um die Zeit totzuschlagen und der Langeweile zu entgehen. Was zunächst absurd erscheint, kennzeichnet in Wirklichkeit die existentielle Situation des modernen Alltagsmenschen, der sich oft isoliert und seiner Umwelt gegenüber entfremdet vorkommt. Dies ist Teil der philosophisch anmutenden Erklärungsversuche für das Wesen der Suche, wie Bolling sie betreibt, um seiner verzweifelten Lage zu entkommen. Es ist eine Aussage von höchster Brisanz, weil sie auf den Zusammenhang von Suche und dem Verfolgen einer Spur verweist, und das Fehlen des Spurenverfolgens mit dem Zustand der Verzweiflung gleichgesetzt wird.

Im Anschluss an diese Textstelle, die relativ am Anfang des Romans steht, wird erstmals das Thema Kino und Film ins Spiel gebracht: Die Filme handeln von der Suche, fälschen sie aber ab. Die Suche endet da immer in Verzweiflung. Sie zeigen zum Beispiel einen Zeitgenossen, der an einem fremden Ort zu sich kommt – und was tut er? Er schließt sich mit der örtlichen Bibliothekarin zusammen, fängt an, den Kindern des Ortes zu beweisen, was für ein netter Kerl er ist, und wird ansässig. Binnen zwei Wochen ist er so sehr im Alltäglichen versunken, daß er ebensogut tot sein könnte.

Bolling ist sich offenbar darüber im klaren, dass das Kino ihm bei seiner Suche kaum behilflich ist; im Gegenteil: Die Filme scheinen diese geradezu zu konterkarieren, da sie für gewöhnlich mit einem Happy End enden. Das heiß: Was immer sie an Dramatik und Konflikten darstellen, immer landen die Protagonisten wieder im alltäglichen Leben. Sie kehren in ihre gewöhnlichen Lebensbahnen und Routinen zurück und damit in die Verzweiflung, die Bolling in die Nähe des Totseins, des Nicht-Lebens und der Sinnlosigkeit rückt. Was aber sucht Bolling dann im Kino? Ist es die Nähe zu den Versprengten und Einsamen, die es nach Zerstreuung und Abwechslung von ihrem Alltagstrott verlangt? Auffallend ist, dass Bolling des Öfteren die Kinos der Vorstädte aufsucht, die besonders trist sind: Nur ein paar vereinzelte Kinogeher sitzen da verstreut in der Düsternis, die Nachmittagssorte, die gespenstischste von allen, jeder versunken in das eigene Elend. Suchende sind wohl kaum darunter. Dagegen ist für Bolling der Kinobesuch Teil dessen, was er später seine horizontale Suche nennen wird, und zwar deshalb, weil sich ihm die Gelegenheit zu einem Gespräch bietet: Bevor ich einen Film sehe, ist es für mich wichtig, etwas über das Kino zu erfahren oder über die Leute, die da beschäftigt sind; ich muß die Umgebung wittern, bevor ich hineingehe … Es ist auffällig, dass die meisten Leute niemanden zum Reden haben, das heißt, niemanden, der wirklich Lust am Zuhören hat. Sobald einem Menschen dämmert, dass man tatsächlich etwas über sein Geschäft hören möchte, geschieht etwas mit seinem Gesicht, das sehenswert ist. Dabei versteht er sich keineswegs als einer dieser professionellen Heilsbringer, die pfeifend daherkommen, um die Leute bei Laune zu halten. Solche Heilsbringer wollen gar nicht zuhören, sie sind nicht selbstsüchtig wie ich; sie sind nette Burschen, die sich selber zu Tode langweilen, und ihrem Publikum wird nicht wirklich geholfen … Nein, was ich tue, tue ich aus guten selbstsüchtigen Gründen. Würde ich nicht mit dem Kinobesitzer oder der Kartenverkäuferin reden, wäre ich verloren, metaphysisch gesprochen, >ausgesetzt<. Ich sähe die Kopie eines Films, der egalwo, zu egalwelcher Zeit gezeigt würde. Es ist gefährlich, kurzweg außerhalb von Zeit und Raum zu geraten. Man kann so zu einem Gespenst werden und nicht mehr wissen, wo man sich befindet. Wenn das Kino ihm schon bei seiner Suche keine Antworten liefert, so will Bolling sich zumindest seiner raum-zeitlichen Verortung vergewissern, um nicht völlig orientierungslos zu sein.

Es ist diese Dialektik des Alltagslebens, die Percy immer erneut beschwört: Auf der einen Seite wird das einfache, durchschnittliche Leben als ein zufriedenstellendes erfahren; andrerseits erscheint es als totes Leben oder das Leben von Toten. Der scheinbare Widerspruch löst sich dadurch auf, dass man die alltäglichen Abläufe und Gewohnheiten hinterfragt. Dann erscheint das, was sich an der Oberfläche als Normalität darstellt, als Sinnentleertheit und Wiederkehr des ewig Gleichen. Sich dessen bewusst zu werden, wäre für die meisten Menschen schmerzlich; man verdrängt diese Einsichten oder flüchtet sich in Alltagsroutinen, die zumindest ein gewisses Maß an Sicherheit und Orientierung verleihen: Man geht zur Arbeit, schaut fern und vertreibt sich mit mehr oder weniger sinnvollen Freizeitaktivitäten die Zeit. Der Sinn des Ganzen wird nicht hinterfragt; für Alternativen fehlen in aller Regel Zeit und Ressourcen, und es gibt nicht genügend Möglichkeiten. Es ist diese Versunkenheit in der Alltäglichkeit und der Zustand, nicht auf der Spur zu sein, die Percy am modernen Menschen diagnostiziert. Dass dieser Zustand eine zentrale Bedeutung für den Roman hat, kann man am Motto ermessen. Percy zitiert Kierkegaard: … das Besondere der Verzweiflung ist eben das: sie weiß nicht, daß sie Verzweiflung ist … Verzweiflung ist ein Zustand des Unbewussten, und die Verdrängung ist derart massiv, dass selbst das unglückliche Bewusstsein sich noch zu verbergen versucht. Es bedarf erst eines existentiellen Schocks, wie zum Beispiel eines Kriegserlebnisses, um auf die Spur zu kommen.

Die immer erneute Frage, wonach oder was Bolling sucht, stellt er rhetorisch selbst, wenn er sich in den Leser hineinversetzt: Was suchen Sie – etwa Gott? fragen Sie lächelnd? Um daraufhin mit statistischen Zahlen aufzuwarten, wieviel Millionen Amerikaner an Gott glauben (die große Mehrheit) und wieviele nicht (eine verschwindende Minderheit) und zu betonen, dass ihn diese Frage überhaupt nicht interessiert. Er sieht sich aber auch nicht in der Lage, das Ziel seiner Suche zu benennen: Ehrlich: ich weiß keine Antwort.

Auch das Lesen von Büchern ist für Bolling eine Möglichkeit, eine Form des Suchens. Was sucht er in Büchern und welche liest er? Heute lese ich Arabia Deserta (versteckt in einem Standard & Poor-Umschlag). Es folgt ein längeres Zitat aus diesem ethnographischen Werk, das hier nicht weiter von Belang sein soll. Dann fährt er fort: Es gab eine Zeit, da war dies das letzte Buch auf Erden, das ich als Lektüre gewählt hätte. Bis vor wenigen Jahren habe ich nur >grundlegende< Bücher gelesen, das heißt, Schlüsselbücher zu Schlüsselthemen, wie Krieg und Frieden, den Roman der Romane; A Study of History, die Lösung des Problems der Zeit; Schrödingers Was ist Leben? Einsteins Das Universum, wie ich es sehe, und dergleichen. Während dieser Jahre stand ich außerhalb des Universums und versuchte, es zu verstehen. Ich lebte in meinem Zimmer als >Irgendwer<, der >irgendwo< lebte, las grundlegende Bücher, und wenn ich Spaziergänge in der Umgebung unternahm und manchmal ins Kino ging, geschah das nur zur Zerstreuung … Das Haupterlebnis bei dieser Beschäftigung, die ich meine >vertikale Suche< nenne, hatte ich eines Nachts, als ich in einem Hotelzimmer in Birmingham ein Buch mit dem Titel Die Chemie des Lebens las. Als ich es beendet hatte, schien mir, daß die großen Ziele meiner Suche erreicht oder im Prinzip erreichbar seien, worauf ich hinausging und einen Film namens It happenend One Night sah, der auch für sich sehr gut war. Eine denkwürdige Nacht. Die einzige Schwierigkeit: Das Universum war geordnet, und ich war übriggeblieben. Da lag ich in meinem Hotelzimmer, am Ende meiner Suche, aber immer noch verpflichtet, einen Atemzug zu tun, und dann den nächsten. Jetzt aber betreibe ich eine andere Suche: eine >horizontale<. Folglich ist weniger wichtig, was in meinem Zimmer geschieht. Wichtig ist, was ich finde, wenn ich mein Zimmer verlasse und in die Umgebung aufbreche. Zuvor war ich weg zur Zerstreuung. Nun treibe ich mich ernsthaft herum und sitze und lese zur Zerstreuung.

Bei der Frage, was das Ziel der Suche von Bolling sei, könnte die Antwort lauten: Er will auf den Grund des Lebens vorstoßen, dem Leben selbst auf die Spur kommen, die Wahrheit über das Leben, die Welt und das Universum herausfinden. Hierfür nimmt er die Unterscheidung von vertikaler und horizontaler Suche vor; mit ersterer meint er wohl die Aneignung von Wissen über die Lektüre von Büchern (wenn er von grundlegenden Büchern und Schlüsselthemen spricht, klingt stilistisch ein ironischer Ton an; wahrscheinlich ist es selbstironisch gemeint, denn er sieht sich ja wieder als kleines Licht, Irgendwer, der hier irgendwo Werke der Weltliteratur und der bahnbrechenden Wissenschaften studiert). Und anscheinend ist er hierüber auch nicht viel weiter gekommen; jedenfalls nicht viel weiter als bis zu dem Punkt, wo ihn eine fundamentale Lebensäußerung seines Körpers, nämlich das Atmen, irritierend zurückwirft.

Bolling weigert sich, den Spuren seines Vaters zu folgen und dem Flair der Forschung nachzugeben. Wenn ich einen Flair für die Forschung hätte, so würde ich forschen. Tatsächlich bin ich nicht sehr hell. Meine Zensuren waren mittelmäßig. Meine Mutter und meine Tante denken, ich sei klug, weil ich ruhig und geistesabwesend bin – und weil mein Vater und mein Großvater klug waren. Sie denken, ich sei zum Forschen bestimmt, weil nichts andres zu mir passt – sie halten mich für einen Genius, den gewöhnliche Berufe nicht befriedigen könnten. Einen Sommer lang habe ich versucht, Forschung zu betreiben … Aber dann geschah etwas Besonderes. Ich fühlte mich sehr angezogen von den Sonntagnachmittagen im Labor. Durch die großen, staubigen Entlüftungsfenster kam die Augustsonne und musterte den Raum mit gelben Streifen. Das alte Gebäude tickte und knarrte in der Hitze … Die Gegenwart des Gebäudes verzauberte mich: minutenlang konnte ich auf dem Fußboden sitzen und das Steigen und Fallen der Stäubchen im Sonnenlicht betrachten. Als er einen Kollegen auf dieses kleine Wunder aufmerksam macht, zuckt dieser nur mit den Schultern und arbeitet einfach weiter. Er blieb ganz und gar unberührt von der Einzigartigkeit der Zeit und des Ortes. Er war überall zuhause … Er glich tatsächlich einem jener Wissenschaftler im Kino, die sich um nichts sonst kümmern als ihr Problem: ein Bursche mit einem >Flair für Forschung<; man wird noch von ihm hören. Aber ich beneide so jemanden nicht. Ich würde nicht mit ihm tauschen … Denn er weiß so wenig von dem Geheimnis, das ihn umgibt, wie ein Fisch von dem Wasser, in dem er schwimmt. Tausend Jahre könnte er forschen, und würde doch keine Ahnung davon kriegen … Ich begab mich hinunter ins Quarter, wo ich die restliche freie Zeit mit der Suche nach dem Geist des Sommers verbrachte, in Gesellschaft eines schönen und verwirrten Mädchens …, das sich vorstellte, eine Dichterin zu sein.

Es sind Erfahrungen wie diese, die Bolling veranlassen, seine vertikale Suche – man könnte von der Suche nach Höherem, Bedeutendem sprechen – aufzugeben. Er spürt, dass diese – obwohl gesellschaftlich angesehen – ihn dem wirklichen Leben entfremdet. Daraufhin vollzieht er seinen Strategiewechsel hin zur horizontalen Suche, die er einzig als ernsthaftes Herumtreiben kennzeichnet – im Unterschied zum Spaziergang, der der Zerstreuung dient. Er begibt sich für diese Form der Suche nach draußen, und im Zimmer zu sitzen und zu lesen, dient diesmal umgekehrt der Zerstreuung. Doch wir wissen immer noch nichts Genaues über Bollings Ziele und Beweggründe des Suchens. Nur eines ist gewiss: von der horizontalen Suche verspricht er sich eine größere Nähe zum Leben; er braucht die sinnliche Gewissheit, im Hier und Jetzt zu sein, und diese Suche scheint er empirisch und methodisch durchaus ernsthaft anzugehen. So hat er es sich zur Gewohnheit gemacht, stets auch die nächste Umgebung eines Kinos in Augenschein zu nehmen. Dieses Kinogeher-Phänomen nennt er Bezeugung.

Heutzutage gilt doch, dass die Umgebung, in der ein Mensch lebt, für ihn nicht mehr bezeugt ist. Mit aller Wahrscheinlichkeit lebt er da in Traurigkeit dahin, während in ihm sich die Leere ausbreitet und schließlich die ganze Umgebung aushöhlt. Doch wenn er einen Film sieht, der ihm die eigene Gegend zeigt, vermag er, wenigstens eine Zeitlang, als jemand zu leben, der Hier ist und nicht Irgendwo.

Man könnte diese Stelle so interpretieren: Der Lebensraum der Menschen, insbesondere in den Städten, schrumpft und verunmöglicht es, authentische soziale Erfahrungen zu machen. Mit zunehmender Unwirtlichkeit der Städte (Mitscherlich) ist er auch darauf angewiesen, Ausweichstrategien zu entwickeln. Eine davon ist der Kinobesuch, der ihm zumindest die Illusion einer noch intakten Umgebung lässt. Der Film verschafft ihm ein Abbild davon, und im Umkreis des Kinos sucht er nach einer Bestätigung dessen, was er im Film gesehen hat. Findet er einiges von dem wieder, ist es bezeugt; das heißt: Er hat sich des Hier und Jetzt mittels der eigenen sinnlichen Wahrnehmung versichert, und das verschafft ihm für eine kurze Zeit das Gefühl von Sicherheit, ja Identität.

Bezeugung zielt auf Phänomene des Raums. Um sich der Zeit zu vergewissern, bedient Bolling sich des Wiederholungs-Experiments. Zu diesem Zweck greift er auf eine Erfahrung zurück – ob im Film oder in der Wirklichkeit – die er vor einiger Zeit gemacht hat und die ihm in der Gegenwart erneut aufscheint. Er erklärt das Experiment wie folgt: Was ist eine Wiederholung? Eine Wiederholung ist die Wieder-Herstellung einer vergangenen Erfahrung, zu dem Zweck, das entschwundene Segment Zeit auszusondern, dergestalt, daß sie, die entschwundene Zeit, als sie selber erfahren werden kann, ohne die übliche Verfälschung durch Ereignisse, die die Zeit verklumpen läßt wie Erdnüsse in Melasse. Diese Erklärung kommt ihm anscheinend selbst zu akademisch und kompliziert vor, also bringt er ein Beispiel. Letzte Woche zum Beispiel habe ich eine >zufällige Wiederholung< erlebt. Ich stieß in der Bücherei auf eine deutschsprachige Wochenzeitschrift mit einer Reklame für Nivea … Da erinnerte ich mich, die gleiche Reklame vor zwanzig Jahren in einem Magazin auf dem Schreibtisch meines Vaters gesehen zu haben, mit derselben Frau; dasselbe großporige Gesicht, dieselbe Nivea-Creme. Und die Geschehnisse der dazwischenliegenden zwanzig Jahre wurden annulliert: die dreißig Millionen Toten, die unzähligen Folterungen, Entwurzelungen, Vertreibungen. Nichts Schwerwiegendes konnte sich ereignet haben – denn die Nivea-Creme war dasselbe wie zuvor. Nur die Zeit selbst war übrig, als paradiesisch sanfte Erdnußcreme-Erstreckung.

Bolling meint, mit diesen Gedankenexperimenten dem Phänomen der Zeit auf die Spur zu kommen; er ist überzeugt davon, dass die entschwundene Zeit greifbar werden kann, wenn sich eine Erfahrung – hier die sinnliche Wahrnehmung einer Reklame in einer Zeitschrift – exakt wiederholt. Zieht er daraus den Schluss, dass die Zwischenzeit zu annullieren, auszusondern und vielleicht  zu überspringen wäre und damit alle Erfahrungen und Erlebnisse, die in ihr vorgekommen sind? Es scheint so. Das hätte den Vorteil, dass man sich der Traumata der Kriegserfahrungen und Erinnerungen entledigen könnte, ein für allemal. Unabhängig davon, ob er irrt oder nicht, ist die Konstruktion seiner Gedanken als solche hoch interessant. Man ist an eine Zeitmaschine erinnert, mit der in der Science-fiction-Literatur oder in entsprechenden Filmen auch mit Zeit experimentiert wird. Jedenfalls ist die Wiederholung ein weiteres Instrument oder Medium für die von Bolling betriebene Suche.

Als Zwischenresümee ergibt sich, dass Bolling sich der Realität versichert, indem er sich ganz auf die eigene Wahrnehmung von Raum und Zeit zurückzieht. Sie verschafft ihm die sinnliche Gewissheit des Hier und Jetzt. Und diese ist Voraussetzung für ein Mindestmaß an Identitätsbildung; eine Erfahrung, die ihm die abstrakten Erkenntnisse der Wissenschaft vorenthalten haben, von denen er sich zunehmend distanziert. Daher ist es nur konsequent, wenn er die vertikale Suche durch die horizontale Suche ersetzt. Sein Herumstreunen und Sich-umschauen entbehrt insofern nicht der Systematik: Er macht auf diese Weise Realitätserfahrungen, die er weder im Ghetto der Wissenschaft, noch im sogenannten normalen Leben mit all seinen unbewussten Zwängen und mechanischen Abläufen machen könnte. Bolling entwickelt sich zu einem sensiblen und präzisen Beobachter der Alltagswirklichkeit.

Der Roman endet damit, dass die Hauptfigur resigniert ihre Suche aufgibt und mit der Eheschließung in ein bürgerlich geordnetes Leben einsteigt. Um diesen Lebenseinschnitt zu erklären, bedarf es der Rückblende auf eine Auseinandersetzung Bollings mit seiner Tante. Nachdem er von einer gemeinsamen, aber vor ihr geheim gehaltenen Reise mit Kate zurückgekehrt ist, macht die Tante ihm größte Vorhaltungen. Sie will wissen, ob er mit Kate geschlafen hat, intim geworden ist – das wäre in ihren Augen ein Verstoß gegen den Ehrenkodex der Familie: „>Intim ist nicht ganz das Wort< (so hatte Bolling geantwortet). Ich bin neugierig, was also das Wort ist. All die Jahre habe ich vorausgesetzt, daß zwischen uns die Worte im großen und ganzen dasselbe bedeuten – daß zwischen Leuten von Ehre ein gemeinsamer Bedeutungszusammenhang besteht, in dem Haltung und Anstand so natürlich funktionieren wie das Atmen. In den wichtigen Momenten des Lebens – Erfolg und Mißerfolg, Heirat und Tod – haben Leute unserer Art doch immer einen Instinkt für das rechte Maß besessen. Was immer wir sonst getan oder gefehlt haben – das war immer wirksam. Ich werde dir ein Geständnis machen. Ich schäme mich nicht, das Wort >Klasse< zu gebrauchen. Noch in einem anderen Anklagepunkt will ich mich schuldig erklären. Der Anklagepunkt: Leute meiner Klasse glaubten, bessere Leute zu sein. Wir sind besser, weil wir uns mit unseren Verpflichtungen nicht herausreden, weder auf uns selbst noch auf andere. Wir lobpreisen nicht Mittelmäßigkeit um der Mittelmäßigkeit willen. Oh, ich weiß, daß man heutzutage viel Schmeichelhaftes über deinen wunderbaren gewöhnlichen Menschen hört – es war mir immer sehr aufschlußreich, daß er völlig zufrieden ist, so genannt zu werden, denn genau das ist er auch: gewöhnlich; gewöhnlich wie die Hölle. Unsere Zivilisation wird nicht wegen ihrer Technologie im Gedächtnis bleiben, nicht einmal wegen ihrer Kriege, sondern für ihre ungewöhnliche Ethik. Sie ist die einzige in der Geschichte, die die Gewöhnlichkeit zu einem nationalen Ideal verklärt hat. Andere waren korrupt; doch unsere Korruption ist die Gesichtslosigkeit … Es ist nichts Neues an den Diebereien, Lügen und Ehebrüchen; neu ist, daß heutzutage Lügner, Diebe und Ehebrecher auch noch beglückwünscht werden wollen, und von der Öffentlichkeit auch beglückwünscht werden, sofern ihre Konfession hinreichend psychologisch ist oder mit authentischer Aufrichtigkeit hinreichend einen Herzton trifft. Ich kenne heutzutage niemanden, der nicht aufrichtig ist. Wir sind die aufrichtigsten lauwarmen Laodizäer, die je das Abflußrohr der Geschichte hinuntergeschwemmt worden sind.“ Meine Tante dreht sich herum und schaut mir ins Gesicht, gar nicht ohne Humor. „Ich habe mein Bestes für dich getan. Mehr als alles andere wollte ich dir das besondere Erbe der Männer unserer Familie übermitteln: einen gewissen Geist, eine Heiterkeit, einen Sinn für Pflicht, eine unauffällige Nobilität, eine Sanftmut, eine Herzensfreundlichkeit im Umgang mit Frauen. Erklär mir nur eins: Wie ist es gekommen, daß dir nichts von dem allen jemals etwas bedeutet hat?“

Aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Bolling hat die moralische Haltung seiner Tante stets respektiert: Es ist nicht wahr, dass nichts von dem, was du aufgezählt hast, mir jemals etwas bedeutet hat. Im Gegenteil: nie habe ich auch nur eins deiner Worte vergessen. Ich habe tatsächlich das ganze Leben darüber nachgedacht. Meine Einwände – genaugenommen gar keine Einwände – können nicht auf die übliche Art ausgedrückt werden. Wahr ist, dass ich sie überhaupt nicht ausdrücken kann.

 Die Worte der Tante verfehlen auch diesmal nicht ihre Wirkung; Bolling nimmt an der weiteren Unterredung aus lauter Nachdenklichkeit, Einschüchterung oder auch Verzweiflung nur noch einsilbig teil. Er verfällt an seinem dreißigsten Geburtstag, der eine Art Zäsur darstellt, in Selbstzweifel und Resignation. Um schließlich festzustellen: Nichts habe ich gelernt, nichts sonst habe ich von meinem Vater geerbt als eine gute Nase für jede Spezies der umlaufenden Scheiße. Es ist mein einziges Talent, in diesem wahren Jahrhundert,  dem großen Scheißhaus des wissenschaftlichen Humanismus, wo die Bedürfnisse befriedigt sind, jedermann eine warmherzige und kreative Person wird und prosperiert wie ein Mistkäfer, und die Leute tot-tot-tot sind, und die Malaise sich niedergelassen hat wie radioaktiver Niederschlag, und die Angst der Leute nicht die Bombe ist, sondern das Ausbleiben der Bombe … Und da, dreißig Jahre alt geworden, weiß ich gar nichts, und nichts bleibt mir als das Verlangen. Meine Suche habe ich aufgegeben; sie ist meiner Tante nicht gewachsen, ihrem Richtertum, und ihrer Verzweiflung über mich und über sich selber.

Bolling stellt alles, was seine Selbstachtung und Fähigkeiten betrifft, radikal in Frage; aber im Unterschied zu vielen seiner Zeitgenossen ist er sich seiner Verzweiflung bewusst. Immerhin hat er noch eine Vorstellung davon, was Leben bedeutet, von der er das der Alltagsmenschen absetzt, die für ihn einfach nur tot sind, wenn sie leben, und die in ihrer moralischen Verkommenheit auch die Bombe, d.h. den Krieg brauchen, angepasste Durchschnittsbürger, bis zu Unkenntlichkeit ihrer selbst verformt. Bolling wird ein Medizinstudium aufnehmen, Kate heiraten und sie auch in Zukunft beschützen, so wie er es bisher auch getan hat. Als er dies der Tante mitteilt, ist es das, was sie von ihm erwartet hatte. Sie lächelt zu mir auf, ein Lächeln, das mehr als alles Vorangegangene ein Ende markiert. Lächelnd reicht sie mir die Hand, in ihrem Partystil. Daß sie dabei meinen Namen nicht nennt, kennzeichnet meinen neuen Status am besten.

Bolling ist Realist genug, um zu wissen, wie sein künftiger Status aussehen wird; er weiß, worauf er sich einlässt und was ihm bevorsteht: Zurück zum Stillstand, zur Unentschlossenheit, zur allgemeinen Bedeutungslosigkeit. Dass er sich dennoch sehenden Auges darauf einlässt, hat damit zu tun, dass er über keine wirkliche Alternative verfügt; wie denn auch in einer von Leere und Entfremdung durchdrungenen Welt.

Kann man aus diesem Grund von einem Scheitern Bollings sprechen? Oder anders formuliert: Was sind die Gründe, die für seine erfolglose Suche verantwortlich sind? Deutlich wird, dass Bolling dem geschlossenen liberal-konservativen Weltbild der Tante kein eigenes entgegensetzen kann. Es sind die Werte des „alten“ Amerika, die von denen, die damit aufgewachsen sind, aufrechterhalten werden, auch wenn die Realität längst über sie hinweg gegangen ist. Bolling kann mit diesen Werten nichts mehr anfangen; weder mit dem Soldatischen, also die unhinterfragte Anerkennung von Autorität und Hierarchie; noch mit der Religion, deren Gott längst durch das Geld ersetzt wurde, auch wenn die Leute weiterhin aus Gewohnheit zur Kirche gehen. Was er kennengelernt hat, das ist jener Geist des Kapitalismus, dessen Sinn darin besteht, Geld um seiner selbst willen zu vermehren und anzuhäufen; das ist die neue Metaphysik.

Dass Bolling sich überhaupt auf die Suche macht, hat damit zu tun, dass er erfahren hat, dass die Welt eine andere geworden ist, in der die alten Werte ihre Bedeutung verloren haben. Sie werden zu hohlen Phrasen, denen keine Realität mehr entspricht. Bolling hat ein Gespür für die Sinnlosigkeit des modernen Lebens, die Leere der alltäglichen Existenz mit ihren Routinen und ewig gleichen Abläufen; ja für die Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz. Und auch wenn seine Suche letztlich nicht zum Erfolg führt, weil er gar nicht genau weiß, wonach er sucht; es spricht für seine Aufrichtigkeit und Sensibilität, dass er den Versuch unternommen hat.

Bleibt die Frage, wie die Figur des Bolling zu deuten ist. Die Tatsache, dass er ein Suchender ist, unterscheidet ihn von den Alltagsmenschen, deren Dasein er verachtet. Man könnte ihn einen Romantiker nennen, wären ihm nicht alle Wege zurück in die heile Welt der Vergangenheit – der Mythos vom alten Amerika – versperrt. Am ehesten trifft noch eine Deutung zu, wie sie Dieter Wellershoff in einem längeren Essay am Beispiel als Typ des Gleichgültigen charakterisiert hat: Danach zählt für den Gleichgültigen nur das konkrete Leben, das er als reine Faktizität wahrnimmt und nur aus Momenten, Gewohnheiten, Bedürfnissen und sinnlichen Befriedigungen besteht; er ist Kenner des einfachen Lebens, in dem er sich eingerichtet hat, wenn auch auf Widerruf. Er verharrt in der Attitüde der gefrorenen Reaktion als letzter Station eines bitteren Lernprozesses: er glaubt nur noch an das, was er hat, alles andere – Ansprüche, Hoffnungen, Pläne – verschenkt er. Die scheinbar sichere Identität des Gleichgültigen beruht auf Verzicht. Es ist eine Ruhe nach dem Sturm, in Erwartung neuer Stürme, die er bestenfalls zu überleben hofft, und in Erwartung des Todes. Die vorweggenommene Auslöschung hat beides in ihm verschärft, das Bewusstsein seiner Überflüssigkeit und seiner Einzigartigkeit, seine Verachtung und seine Zärtlichkeit für das Leben.

Percys Hauptfigur kann als eine weitere Variante dieses Typus angesehen werden; zumindest gibt es erstaunliche Übereinstimmungen. Dies scheint auch Peter Handke in einer Nachbemerkung zum Roman im Sinn zu haben; jedenfalls sieht er in Percys Kinogeher ein(en) Held(en) …, wie er nach Camus‘ Fremdem kaum mehr möglich schien.

Die letzten Sätze des Epilogs nehmen noch einmal Bezug auf das Motto von Kierkegaard: Was meine Suche betrifft: ich bin nicht geneigt, noch viel darüber zu sagen. Erstens, wie der große dänische Denker erklärte, fehlt unsereinem die Autorität, über solche Dinge anders als erbaulich zu reden. Und zweitens ist es viel zu spät für Erbaulichkeit; die Zeit ist eine andre als die seine.

Kierkegaard hatte über die Verzweiflung als unbewusstem Zustand gesprochen. Verzweifelt ist, wer keine Spur verfolgt, keine Neugier entwickelt, keiner Erkenntnis nachstrebt, keinen Ehrgeiz hat – also der Gleichgültige. Verzweifelt ist aber auch derjenige, der dies erkennt und sich damit nicht zufriedengeben will – einer wie Bolling, der eine biographische Transformation vom angepassten Durchschnittsmenschen zum Sucher durchlaufen hat, der aber mit seiner Suche letztlich gescheitert ist. Im Bewusstsein des Ungenügenden seines Lebens begibt er sich erneut, aber doch geläutert in die Attitüde der gefrorenen Reaktion als Gleichgültiger.   

Dieter Wellershoff hatte in seiner Darstellung des Gleichgültigen formuliert: Es ist der Schock des Glaubensverlustes, den bereitsKriegserlebnisse auslösen können. Es ist Kate, die diese einfache Wahrheit ausspricht. Als sie ihm vom Unfalltod ihres Verlobten erzählt, bemerkt sie scheinbar beiläufig: Daß er (der Tod, d. V.) mich zum Leben erweckt hat. Das ist mein Geheimnis, so wie der Krieg dein Geheimnis ist. Der Tod des Verlobten hat ihr unversehens den Raum zum Leben verschafft, so wie für Bolling der Krieg ursächlich für seine Suche war – für all seine Versuche, seinem Leben Sinn und Perspektive zu verleihen. Aber das ist immer nur eine Möglichkeit ohne Erfolgsgarantie. Dass all seine Versuche scheitern, lässt auf Seiten Bollings Ernüchterung eintreten, aus der er die defensive Konsequenz des individuellen Rückzugs zieht; damit weist Bolling alle Attribute auf, wie sie Wellershoff am Typus des Gleichgültigen ausgemacht hat. Die Suche selbst ist das Entscheidende, nicht ihr letztlicher Erfolg; das könnte die Botschaft sein, die Percy uns vermitteln möchte.

Bildquelle: Pixabay, Bild von Herm, Pixabay License

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Joke Frerichs, Dr. rer. pol.; Studium der Politikwissenschaft; Soziologie; Philosophie; Germanistik, lebt als freier Autor in Köln. Er schreibt Romane, Gedichte, Essays und Rezensionen.


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