Der frühere Chef der sächsischen Landeszentrale für politische Bildung, Frank Richter, hat kürzlich auf Phoenix eine erstaunliche Aussage getroffen: Nach der Wende 1989 habe man in Sachsen die vielen überflüssiggewordenen Russischlehrerinnen und Russischlehrer in den Schulen eingesetzt, damit die dort Sozialkunde und damit politische Bildung unterrichten. In massenhaft vielen Fällen sei das so gewesen. Dementsprechend habe in den Folgejahren die politische Bildung in und an den Schulen ausgesehen. Soll man sich das in etwa so vorstellen, als ob DITIP- Imame wegen des Lehrermangels an westdeutschen Schulen katholischen Religionsunterricht erteilten?
Das ist daneben und übertrieben. Aber wie dem auch sei: Der schlaue Richter, ein gelernter Theologe, hat blitzartig offen gelegt, woran es mangelte – und auch immer noch mangelt: an politischer Bildung. Im Nachklapp zu Richters Aussage habe ich umher telefoniert: Mit Freunden und Bekannten aus dem früheren Ostberlin und aus Brandenburg. Das spielte sich so ab: Zögern auf meine Frage; Antwort: Ja, das kann so sein. Und im Laufe des Gesprächs schälte sich heraus, dass die systembedingten Unterschiede bei der Verwendung von Worten wie Demokratie, Information, in Fernsehen und Zeitung, Kammer und Parlament, Mehrheit und Minderheit, Kompromiss und Abstimmung sehr lange bestanden haben. Ich fürchte, in vielen Köpfen existieren sie immer noch. Daher können sich Missverständnisse und Missvergnügen, Enttäuschung statt Verstehen durch die Jahre seit der Wende schleppen.
Die einen haben im langjährigen Prozess der Anpassung die neuen Inhalte akzeptiert; aber viele andere schleppen Missverständnisse und Misstrauen weiter mit sich herum. Die politische Bildung hat ja auch im Westen viele Jahre ein dahin siechendes Dasein geführt. Bis 1953 war mit der Deutschen Reichspartei eine teils offen nationalsozialistische, antidemokratische, antisemitische Partei mit Schwerpunkt Norddeutschland im Bundestag vertreten. Mit dem Einzug der AfD in den Bundestag lebte der Tabubruch wieder auf, denn auch diese Partei beherbergt Antisemiten, Antidemokraten, Nationalisten. Während der fünfziger Jahre waren schulische und außerschulische Information über Demokratie und Grundgesetz kaum entwickelt. Paul Schallück, Josef Reding und Heinrich Böll haben das bezeugt. Der 2005 verstorbene Autor Heinz Küpper (bekanntestes Werk: „Simplicius 45“) taucht in seinen Büchern und Geschichten tief in die kleinbürgerliche und stickige Welt des an Demokratie, Grundgesetz und Mitspreche nicht interessierten deutschen Kleinbürgertums ein.
Lebendige Demokratie braucht Zeit
Selbstbestimmung, demokratische Mitsprache waren damals Fremdworte, sieht man von Gewerkschaften, Sozialdemokratie und liberalen Autoren ab. Die erste offene Welle des Antisemitismus schwappte 1959 über Westdeutschland hinweg. Erst die Aufbrüche in den späten sechziger Jahren, die Bildungsrevolution der siebziger, eine neue Generation Lehrerinnen und Lehrer haben daran etwas geändert. Es hat also auch im Westen lange gedauert, bis eine lebendige Demokratie „Gastfreundschaft“ in den Familien genießen konnte. Durfte.
Politische Bildung ist die vielleicht „stärkste Waffe“ in der Auseinandersetzung mit Verächtlichmachern der demokratischen Institutionen. Sie ist aber auch die schwierigste Aufgabe, weil sie nicht wie der Fahrstuhl auf Knopfdruck reagiert. Daraus resultiert ein erster Vorschlag: Wir in Ost- wie Westdeutschland sollten anfangen, unsere auf beiden Seiten herrschenden Mythen abzubauen. Den Mythos vom vorherrschenden „Jammer-Ossi“ zum Beispiel. Denn bei Licht besehen stehen „Wessis“ den so Gescholtenen in nichts nach. Es gibt buchstäblich keine Änderung in Westdeutschland, die nicht von Einsprüchen und Demos begleitet wird. Tonlage und Lautstärke mögen sich unterscheiden, geschenkt.
In meiner Heimatstadt Bonn erlebe ich, dass öffentliche Bäder die wichtigsten Besitztümer von Stadt und Bürgerschaft sind; in einer Stadt, die rund 800 Millionen € Schulden in der Form von revolvierenden Kassenkrediten vor sich her schiebt.Das Bürgerengagement für Bäder schlägt den Protest gegen zu wenig preiswerten Wohnraum und die Sorge wegen der Ausbildungsplätze für Jugendliche aus zugezogenen Familien um Längen. Auch darin steckt eine Art Jammern.
In einem weiteren Punkt möchte ich – mein zweiter Hinweis – Frank Richter folgen: Wir sollten unseren Nationalfeiertag endlich auf den 9. November legen – auf einen Tag der Trauer mit Blick auf den 9. November 1938 und einen Tag der Freude mit Blick auf den 9. November 1989. Der Nationalfeiertag sollte Engagement wecken. Der heutige Nationalfeiertag ist ein Kunstgriff, ein Termin-Kompromiss, der Engagement nicht weckt. Drittens bin ich sehr dafür, politische Bildung wie eine bisher nicht verwendete Ressource zu nutzen: Statt Abi-Fahrten zu Europas großen Städten eine Woche obligatorische politische Bildung, bevor die Schultüren sich hinter den Abiturienten schließen. Und Landesgesetze sowie Tarifverträge, die mehr politische Bildung in den Ausbildungsberufen zur Pflicht machen. Wer will, dass Jammern zum Fremdwort wird, muss politische Bildung populär machen.
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