Gut 30 Jahre ist es her, da erscheint in der Bundesrepublik Deutschland ein Artikel, der für Aufsehen sorgt. In ihm wird das System der DDR einer sehr eingehenden kritischen Analyse unterzogen. Von einem in der DDR lebenden Autor: Thomas Asperger. Die Zeitschrift ist Lettre International. Die deutsche Ausgabe erscheint in Westberlin. Tatsächlich ist Thomas Asperger ein Pseudonym, das sich der Professor für Biomathematik Jens Reich zugelegt hatte und über das er vor kurzem gesagt hat, er habe sich bei den Versuchen, die Lage in der späten DDR zu begreifen, auch mit den Theorien des Autismus beschäftigt. „Wir fühlten uns eingeengt in unserer DDR Welt“, führte er vor einigen Tagen in der Berliner Zeitung aus, „und ich fand keine wirklich befreiende Sprache. Wir kamen kaum aus der Phraseologie des politischen Gesprächs hinaus. Mich interessierte der klinische Autismus.“ 80 Jahre ist der 1939 in Göttingen als Sohn eines Arztes und einer Heilgymnastin nun, der in der zweiten Hälfte der 50ger und in den frühen 60ger Jahren an der Berliner Humboldt-Universität Medizin und Molekularbiologie studierte, anschließend in Jena eine biochemische Fachausbildung an der dortigen Universität machte.
Einer breiteren Öffentlichkeit wurde er bekannt als er 1994 auf Vorschlag der Grünen als unabhängiger Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten kandidierte. Anfang dieses Jahrtausends dann wurde er Mitglied des Nationalen Ethikrats. Die Grünen hat dieser so ungemein politische Wissenschaftler dann viele Jahre gewählt, tut das aber nicht mehr, weil ihm deren Position in der Frage der Gentechnologie zu fundamental, zu verbohrt ist: „Ich wähle jetzt erst einmal die SPD. Ich will nicht, dass sie verschwindet, erzählte er dem Kollegen Arno Widmann vor einigen Tagen. Der 80jährige hat ein spannendes, abwechslungsreiches Leben hinter sich. In Halberstadt aufgewachsen und nach seinen Studienstationen in Berlin und Jena, wurde er 1968 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut für Molekularbiologie der Akademie der Wissenschaften in Berlin-Buch. Im Jahr nach der Invasion der Warschauer-Pakt-Staaten 1968 in der Tschechoslowakei gründete er mit 30 anderen an Kultur und Politik Interessierten den Freitagskreis. Dieser Kreis war ein erster Versuch ein „verrottendes System“ einer kritischen Analyse zu unterziehen unter den Augen und Ohren der Staatssicherheit.
Und obwohl Reich in der 70ger Jahren mehrmals am sowjetischen Institut für Biophysik der Akademie der Wissenschaften in Puschtschino in der Nähe Moskaus arbeitete und 1980 Professor für Biomathematik am Zentralinstitut für Molekularbiologie in Berlin-Buch wurde, war seine Karriere dort 1984 mit der Zurückstufung zum wissenschaftlichen Mitarbeiter praktisch beendet. Der Stasivorwurf war einfach: Seine Kontakte in der Westen ließen ihn nicht als zuverlässigen Staatsbürger und Wissenschaftler erscheinen. 1989 dann schrieb Reich an dem Septemberaufruf „Aufbruch 89 – Neues Forum“ mit und saß schließlich als Abgeordneter von Bündnis 90 / Die Grünen in der letzten und frei gewählten Volkskammer bis zum Ende der DDR. Der groß gewachsene, schlanke Mann war anschließend als Gastprofessor in Heidelberg und Harvard tätig und am 1992 wieder in Berlin-Buch als Arbeitsgruppenleiter am Max-Delbrück-Zentrum. Auf die Zeit Ende der 80ger zurückblickend ist Jens Reich auch heute der Auffassung, man habe damals das klare Bewusstsein gehabt, so habe es in der DDR nicht weitergehen können. Aber niemand hätte eben auch eine Vorstellung gehabt, wie es hätte weitergehen sollen.
Bildquelle: Bundesarchiv, Bild 183-1989-1104-036 / Link, Hubert / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de
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