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Keine Sternstunde des Journalismus „Mach’s noch einmal Deutschland“

Norbert Blüm Von Norbert Blüm
4. Oktober 2015
Norbert Blüm

Zum Stern-Artikel „Mach“s noch einmal Deutschland“ vom 24. September 2015, Stern Nr. 40, schreibt der frühere Bundesarbeitsminister Dr. Norbert Blüm(CDU) den folgenden Leserbrief, den das Magazin „Stern“ bisher nicht veröffentlichte.

„Mach’s nicht mehr, Wüllenweber“ fällt mir ein, wenn ich im Stern vom 24.09.2015 „Mach’s noch einmal Deutschland“ lese. Den Artikel hat der Autor Wüllenweber offenbar in der Hängematte oder auf der Toilette geschrieben. Eine Anstrengung des Kopfes war jedenfalls nicht im Spiel.

„Ohne Gerhard Schröder wäre Helmut Kohls Einheit eine Rohrkrepiererei geblieben“, schreibt Wüllenweber. Auf den Satz muss erst einmal einer kommen. Ohne Kohl und andere, zu denen Schröder gar nicht zählt, hätte nicht einmal ein Rohr krepieren können, weil es gar keine dichten Rohre in der maroden DDR –Wirtschaft mehr gab. Die DDR war im Oktober 89 bereits bankrott. Das wusste zwar das SED-Zentralkomitee, Herr Wüllenweber konnte es nicht wissen, denn die Nachricht stand in einem SED-Geheimpapier. Freilich, die bittere Wahrheit war 1990 schon erkennbar, als die Treuhand noch gar nicht am Leben war.

Größte Sozialreform seit Bismarck

Zum von Wüllenweber beklagten BRD-Reformstau der 90-er Jahre so viel:

  • Die größte Sozialreform seit Bismarcks Sozialgesetzgebung war die sozialstaatliche Wiedervereinigung Deutschlands.
  • 4 Millionen Renten wurden innerhalb von 6 Wochen ausgerechnet, umgestellt und ab dem 1. Juli 1990 in DM ausgezahlt.
  • Eine Arbeitsverwaltung mit 12.000 Mitarbeitern, von denen 9.000 das Arbeitsförderungsgesetz noch nie gelesen hatte, war in acht Wochen aus dem Boden gestampft.
  • Ein staatlich verwaltetes „Gesundheits-Einheits-System“ verwandelte sich innerhalb von 6 Monaten in ein gegliedertes System und freie Arztwahl und Selbstverwaltung.
  • Die Unfallversicherung war nach 4 Wochen funktionsfähig.
  • Eine Kriegsopferversorgung entstand aus dem Nichts

Die Schaffung der „Wirtschaft-, Finanz- und Sozialunion 1990“ glich dem Umladen von zwei Güterzügen bei voller Fahrt, die sich zudem noch in Gegenrichtungen bewegten.

Projekt war ein Generationenprogramm

Normalerweise ist ein solches Projekt ein Generationenprogramm. In anderen Ländern des „Ostblocks“ ist der Aufbau eines funktionierenden Sozialstaates heute noch nicht abgeschlossen. Hierzulande waren an der Jahrhundertreform Tausende von „Ossis und Wessis“ beteiligt. Sie allesamt sind über alle Schatten ihrer liebgewonnenen Gewohnheiten gesprungen. „Ossis“ mussten sich über Nacht auf ein neues System einstellen und aufbauen. „Wessis“ halfen unkonventionell und uneigennützig beim „Aufbau Ost“

In alten Westzeiten hätten wir für eine solche Reform 5 Enquetekommissionen, 10 Modellversuche und 20 Beauftragte einsetzen müssen und 30 Jahre warten, bis es angefangen hätte zu klappen.

Ich kenne keine vergleichbare Leistung in anderen „Reformländern“.

Sternstunde des Sozialstaats

Wiedervereinigung war die Sternstunde des solidarischen Sozialstaates. 25 Jahre später kommt ein „Stern-Klugscheißer“ daher und weiß alles besser. Der „Sterndeuter“ versteht vom Sozialstaat so viel, wie der Astrologe von der Astronomie.

Ich hätte Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen statt Jobs beschaffen sollen, schreibt er. Aber, verehrter „Besserwisser“, in Bitterfeld und sonst wo war „verseuchte Erde“ und nicht viel mehr. Ohne Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wäre auch mancherorts gar nichts mehr entstanden. Industrieflächen mussten an vielen Stellen erst entsorgt werden, bevor etwas Neues entstehen konnte.

Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen waren ein Notbehelf und manchmal sogar kreativ. Radwege zu bauen, ist immer noch sinnvoller als sinnlos zuhause als Arbeitsloser herum zu hocken.

Wenn schon Geld bezahlt werden muss, dann für Arbeit statt für Arbeitslosenunterstützung.

Auch Arbeitslosigkeit kostet Geld

Entgegen der Annahme des Sozialfachmannes Wüllenweber kostet nämlich auch die Arbeitslosigkeit Geld, und unter dem Strich, wenn die Folgekosten dazu gerechnet werden, sogar mehr als Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen.

Bei der viel gescholtenen Frühverrentung handelt es sich um die pragmatische Entscheidung, ob 58-Jährige in Rente oder 20-Jährige in Arbeitslosigkeit gehen sollen. „Besser die Alten in Rente als die Jungen in Arbeitslosigkeit“, so hieß das Notprogramm. Als Dauerlösung war dies nie vorgesehen. Selbst das westliche Vorruhestandsgesetz war befristet.

Immerhin sind wir mit vorübergehender Frühverrentung im Vergleich zu anderen Ländern mit einer relativ geringeren Jugendarbeitslosigkeit durch den Umbruch gekommen.

Die Finanzierung der Einheitskosten wurde im Übrigen entgegen der Schwafeleien des Fachmanns Wüllenweber durch enorme staatliche Bundeszuschüsse mitfinanziert. Der Steuerzahler war also mit im Boot. So erhielt die Bundesanstalt für Arbeit 1992 fünf Mrd. und 1993 dreizehn Mrd. Bundeszuschüsse, 1994 3,8 Mrd. , 1995 sieben Mrd. Vergleichbares gilt für die Rentenversicherung.

Keine Sparrücklagen gebildet

In die Rentenkasse konnte entgegen anders lautende Meldungen niemand greifen, weil im Umlagesystem keine Sparrücklagen gebildet werden. Wo nichts ist, kann auch nichts genommen werden.

Aus der DDR kamen nicht nur Rentner, sondern auch Beitragszahler. Freilich, die hohe Arbeitslosigkeit verursachte große Einnahmeausfälle auch in der Rentenversicherung, der Bund beteiligte sich am Ausgleich mit Hilfe der Beiträge der Bundesanstalt für Arbeit. Das entspricht dem Zuständigkeits- und Verantwortungsprinzip. Die höheren Ausgaben verursachten insgesamt höhere Bundeszuschüsse zu Arbeitslosen- und Rentenversicherungen. Bundeszuschüsse finanziert nicht der Beitrags- sondern der Steuerzahler.

Die Sozialkassen sind Solidarkassen. Das unterscheidet sie – Gott sei Dank – vom Geldtopf der Privatversicherung. Seit eh und je gab es in der Sozialversicherung Finanzausgleich zum Beispiel zwischen Angestellten- und Arbeiterversicherung und der Knappschaft. Ausgleich zwischen Sozialkassen ist keine Erfindung der Wiedervereinigung, sondern entspricht dem Grundgesetz der Solidarität.

Freilich, das und anderes muss man nicht wissen, wenn man im Stern sozialpolitische Artikel schreibt. Sachkenntnis macht nur unsicher. Walter Wüllenweber ist ein sehr sicherer Schreiber und offensichtlich über alle Zweifel erhaben.

Seine rentenpolitischen Einsichten werden ihr Waterloo erst in einigen Jahren erleben. Dann wird die Folge der Riester-Rente die Rentner voll erwischen. Die durch Riester ausgelöste Absenkung des Rentenniveaus ist die Schiene, über die der Nachschub der neuen Altersarmut rollt. Wer im Übrigen auf Kapitaldeckung setzt, muss die Jahre seit der Finanzkrise am Nordpol auf einer Eisscholle ohne Funkverkehr verbracht haben. Das Desaster der kapitalgedeckten Alterssicherung ist ein globales Fiasko.

Privatversicherungen als Gewinner

Zur Ironie der Schröder’schen Rentenpolitik gehört, dass die Gesamtbelastung der Jungen dennoch höher geworden ist, dafür aber die Leistung niedriger. Das Geheimnis, weniger Leistung für mehr Beiträge lüftet sich, wenn man bedenkt, dass die Riester-Rente ohne Arbeitgeberbeiträge finanziert, also von den Arbeitnehmern allein bezahlt wird. Die Verwaltungskosten der Privatversicherungen sind außerdem erheblich höher als in der guten alten Rentenversicherung.

Die bevorzugten Gewinner der Schröder’schen Rentenpolitik sind die Privatversicherungen. Wie jubelte doch Schröder-Freund und Wahlkampffinanzier Maschmeyer nach der Einführung der Riester-Rente auf der Hauptversammlung seiner Firma.

„Wir stehen jetzt von dem größten Boom, den unsere Branche je erlebt hat. Es ist so, als würden wir auf einer Ölquelle sitzen. Sie ist riesig groß, und sie wird sprudeln.“ Wo er recht hat, hat er recht.

Das alles gehört zu den von Wüllenweber bewunderten Reformen. Diese in den 90-er Jahren durch „Stau“ verhindert zu haben, rechne ich mir nachträglich als Verdienst an!

Relativ gut durch die Finanzkrise

Deutschland ist relativ gut durch die Finanzkrise (bis jetzt) gekommen, nicht wegen der Schröder’schen Reformen, sondern trotz dieser, weil es im Unterschied zu anderen Staaten noch einen einigermaßen funktionierenden Sozialstaat besitzt (z.B. ohne Kurzarbeit mehr Arbeitslosigkeit)

Schröder in Ehren. Aber die Wiedervereinigung hat er nicht gerettet. Das war nachgeholtes Übersoll, Herr Wüllenweber. Merke: Blinder Eifer schadet nur.

Wüllenweber entlarvt sich selbst.

Wie borniert muss man eigentlich sein, um sich an dem Satz zu vergreifen: „Die Geschichte der ersten eineinhalb Jahrzehnte des wiedervereinigten Deutschlands ist eine Geschichte des Scheiterns.“ Basta!

Mit einem solchen Satz, salopp daher gesprochen, übergeht ein Stern-Deuter die realen Leistungen der „Wiedervereinigungsgeneration“ in Ost und West. Das müssen wir uns nicht gefallen lassen.

Es war nicht alles Gold, was glänzte. Aber verstecken müssen wir unsere Leistungen nicht. Wiedervereinigung war die größte Sozialreform der letzten 100 Jahre.

Bildquelle: Wikipedia, Bundesarchiv, B 145 Bild-F078539-0037 / Schaack, Lothar / CC-BY-SA 3.0

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Tags: ArbeitslosigkeitDeutsche EinheitNorbert BlümRentenSozialreformenSozialversicherungSternWüllenwevber
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