Dieter Wellershoff wurde am 27.6. auf dem Kölner Friedhof Melaten beerdigt. In einer Trauerfeier wurde das Werk dieses großen Schriftstellers noch einmal gewürdigt. Wir haben dies in unseren Beiträgen für den Blog der Republik versucht und schließen mit dem folgenden Text unsere Hinweise auf sein Werk vorerst ab.
In einem Interview bezeichnet Wellershoff sein Schreiben als einen fortschreitenden Verzweigungsprozeß. Demnach lassen sich seine Texte als Varianten eines übergreifenden Gesamtthemas lesen, wobei die verschiedenen Textformen einen gemeinsamen thematischen Hintergrund enthalten. Für ihn ist Literatur ein Medium zur Erweiterung und Vertiefung unserer Wahrnehmung des Lebens.
Inzwischen glaube ich auch sagen zu können, daß meine Bücher, ob erzählend oder reflektierend, Auseinandersetzung mit einer historischen Gesamtsituation sind, die das Lebensgefühl vieler heutiger Menschen bestimmt. Es ist das Bewußtsein, in einer komplexen, undurchschaubaren, von Zufällen durchwirkten und von niemandem beherrschbaren, prozeßhaften Welt zu leben. Es gibt in ihr keine für alle verbindliche Zentralperspektive mehr und keine daraus abgeleiteten normativen Verhaltensmuster, sondern nur, in vielerlei Gestalt, das suggestive Gebot, zu versuchen, seine Fähigkeiten zu entfalten und – natürlich im Zusammenhang mit anderen Menschen – sein persönliches Glück zu finden. Da sich in diesem Lebensspiel die verschiedensten Menschen begegnen, ist das eine krisenhafte, illusionsanfällige Situation.
Arbeiten in Cafés und nach dem Dienst
Wellershoff schildert in Der lange Weg zum Anfang, unter welch schwierigen Bedingungen er lange Zeit schreiben musste. Er arbeitete anfangs als Lektor beim Verlag Kiepenheuer & Witsch und fand kaum Zeit, einen längeren Text zu schreiben. Irgendwann machte er dem Verleger Witsch den Vorschlag, ihm statt einer überfälligen Gehaltserhöhung zwei freie Tage pro Woche zum Schreiben einzuräumen.
Drei Tage in der Woche arbeitete ich nun als Lektor, war also mit fremden Manuskripten beschäftigt. Und dann nahm ich für drei Tage wieder die Arbeit am Roman auf. Das wurde dadurch erschwert, dass unsere Wohnung nach der Geburt unseres dritten Kindes zu klein geworden war. Ich musste anderswo arbeiten, versuchte es in Cafés oder nach Dienstschluß im Verlag.
Um es gleich vorweg zu sagen: Seinen frühen Texten merkt man es nicht an. Sie enthalten bereits viele der typischen Merkmale des späteren Schreibens von Wellershoff: Da ist einmal die ungeheure Dichte und Präzision; seine Fähigkeit zur Empathie; die Konstruktion der Figuren, die oft wie hermetisch von einander getrennte Monaden daherkommen. In seinem ersten Roman Ein schöner Tag wird die Isolierung der Personen noch dadurch unterstrichen, dass Wellershoff sie kapitelweise entwickelt. Jede Person für sich. Damit erreicht wird zugleich ein ständiger Perspektivwechsel – je nachdem, wer gerade als Beobachter der anderen Personen auftritt.
Noch ein Merkmal des späteren Schreibens von Wellershoff taucht in diesem frühen Roman bereits auf: die Figur des gesellschaftlichen Außenseiters. Wellershoff selbst sagt dazu: Dieser war die erste Verkörperung der Figur des gesellschaftlichen Verlierers, die in meinen nächsten vier Romanen eine zentrale Rolle spielt. Das Beharren auf diesem Motiv und seine fortschreitende Variation zeigt das große Erregungs- und Phantasiepotential, das für mich in diesem Thema steckte. Zweifellos hängt das mit den schwierigen, zeitweise auch bedrohlichen Situationen meines eigenen Lebens zusammen, aber auch mit Dramen, die sich in meiner Umgebung abspielten. Ich schrieb meinen ersten Roman in der Mitte der sechziger Jahre, als der Schein einer Gleichheit aller, der es in den ersten Nachkriegsjahren leicht gemacht hatte, Armut und Mangel zu ertragen, endgültig zerfallen war und die Unterschiede von gesellschaftlichen Gewinnern und Verlierern immer schärfer hervortraten.
Diffizile Gefühlslagen ausleuchten
Wellershoff gelingt es, die Kontexte, innerhalb deren sich die innerpsychischen Spannungen der einzelnen Personen als ständiger Wechsel von Erregungszuständen und alltäglicher Routine abspielen, minuziös darzustellen. Seine Fähigkeit, sich in die Personen und ihre Zwangslagen hineinzuversetzen, ermöglicht es ihm, noch so diffizile Gefühlslagen auszuleuchten und deren „innere Notwendigkeit“ plausibel erscheinen zu lassen. Nichts wirkt aufgesetzt; alles scheint sich wie von selbst und ganz zwangsläufig zu entwickeln, ohne dass es den Akteuren gelingt, dem Geschehen eine andere Wendung zu geben. Ihnen fehlen nicht nur die materiellen Voraussetzungen fürs Gelingen; es hapert auch an ihrem Willen, die Dinge zu ändern. Zu sehr bleiben sie gefangen in ihren Alltagszwängen. Nichts scheint schwerer veränderbar zu sein als die alltäglichen Routinen. Die Freiheit der Wahl, wie sie etwa Sartre proklamiert, bleibt für viele Menschen eben auch nur ein abstraktes Postulat – das zeigt Wellershoff in seinen Texten auf ebenso beklemmende wie überzeugende Weise.
Weitere Varianten seines literarischen Anliegens lassen sich an seiner Novelle Zikadengeschrei zeigen. Sie erschien erstmals 1995. Von der Anfangsszene an wird ein atmosphärischer Klang erzeugt, der einen bis zum Schluss in den Bann zieht. Ein Architekt namens Böhring fährt mit seiner Frau Ina, einer Psychologin, und Tochter Julia an die spanische Mittelmeerküste in Urlaub, wo sie sich eines der Bungalows in einer ummauerten Wohnanlage gemietet haben.
Ina hat sich viel vorgenommen für die freie Zeit am Strand: sie will sich entspannen, viel schwimmen und viel lesen. Als Lektüre hat sie sich Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit ausgesucht. Und sie gedenkt, jeden Vormittag, den sie am Strand verbringt, darin zu lesen. Sie tut dies mit einer außergewöhnlichen Konzentration. Auf ihren Mann wirkt ihre Lektüre wie eine Abkapselung; er fühlt sich ausgeschlossen. Er, dem eine solche Lesetätigkeit oder auch nur das Herumliegen am Strand kein Vergnügen zu bereiten scheint, zieht sich nach kurzen Strandaufenthalten auf die Veranda des Bungalows zurück.
Latenter Konflikt zwischen Eheleuten
Böhring ist von einer inneren Unruhe getrieben, deren Ursache ihm selbst nicht ganz klar ist. Seine Frau pflegt sein Verhalten mit der Bemerkung zu kommentieren, er könne sich halt nicht entspannen. Leicht vorwurfsvoll. Hier wird ein latenter Konflikt zwischen den Eheleuten angedeutet. Eine Nichtübereinstimmung, die aber nicht virulent wird, um den Aufenthalt nicht zu belasten. Überhaupt bleibt zwischen den Eheleuten vieles unausgesprochen. Die Beziehung könnte man als routiniert bezeichnen: man kennt sich gegenseitig sehr genau, weiß, wie der Andere in bestimmten Situationen reagiert. Zur Konfliktvermeidung steht jedem der Beiden ein gewisses Repertoire an Ausweichstrategien zur Verfügung, so dass potentielle Konflikte gar nicht erst aufkommen.
Gleichwohl spürt der Leser im Falle Böhrings ein leises Brodeln, ein Unausgefülltsein, eine latente Sehnsucht. Jedenfalls scheint das ganze Urlaubskonzept mit der erzwungenen Untätigkeit und einer gewissen Kasernierung in den Mauern des Areals nicht seine Sache zu sein. Durch die Schilderung der inneren Gefühlslagen Böhrings gelingt es Wellershoff nahezu unmerklich, einen Spannungsbogen aufzubauen: Was wird geschehen? Gerät das Paar doch in einen offenen Konflikt? Mitnichten, man bleibt kontrolliert, auf Distanz, auch emotional.
Dann tritt ein Ereignis ein, das sich zunächst in seiner Tragweite kaum einschätzen lässt: eine scheinbar harmlose Begegnung wird zum Auslöser emotionaler Erregungen. Anlässlich einer Einkaufstour in den Nachbarort trifft Böhring auf eine Frau, deren Gesicht urplötzlich vor ihm auftaucht. Sie trägt ein Kopftuch und eine große Sonnenbrille. Das Gesicht ist zur Hälfte aufgrund einer Gesichtslähmung entstellt: Wie versteinert durch eine unerwartete Bedrohung, starrte er auf die bleckende Grimasse, nicht anders, als habe er in der Stille, die zwischen ihnen herrschte, ein Fauchen gehört – da hatte sich die Frau brüsk von ihm abgewandt. Wie eine Spiegelfechterei sah er die unversehrte Seite ihres Gesichtes: ein schönes, kraftvoll gezeichnetes Profil, das zu ihrer Größe und stolzen Haltung passte, in der sie ihn stehenließ und auf einen Mann in einem hellen Leinenanzug zuging, der einige Schritte weiter auf sie wartete.
Tiefe, unerklärliche Wirkung
Diese kurze Begegnung hinterlässt eine tiefe, zunächst unerklärliche Wirkung auf Böhring; er kann diese Frau nicht mehr aus seinen Vorstellungen verbannen. Zumal sich herausstellt, dass sie mit ihrem Mann im Nachbarbungalow eingezogen ist – eine räumliche Nähe, die die geschilderte Szenerie wie in Schwingungen versetzt. Plötzlich interessiert sich der Architekt für die Proust-Lektüre von Ina. Er fragt sie, scheinbar ganz nebenbei, wovon der Roman, den sie liest, denn eigentlich handelt. Daraufhin erklärt sie ihm, etwas unbeholfen, dass es um die Bedeutung der Zeit für das menschliche Leben geht. Aber Marcel, die Hauptfigur, findet in einer Reihe unverhoffter Erinnerungen sein vergangenes Leben wieder und wird darüber zum Schriftsteller.
Täuscht Böhring sein Interesse am Romaninhalt lediglich vor, um von seinen inneren Gefühlslagen abzulenken, die man ihm nicht anmerken soll? Ist es sein Empfinden, ausgeschlossen zu sein, sobald Ina ihre Lektüre fortsetzt? Oder ist es ihm mittlerweile ganz recht, dass sie sich abkapselt, da auf diese Weise unbemerkt bleibt, in welcher emotional aufgeladenen Irritation er sich befindet?
Es handelt sich um eine weitere Schlüsselszene der Novelle. Nicht zufällig dürfte Wellershoff die Proust-Lektüre gewählt haben. Die Suche nach der verlorenen Zeit – ist sie es vielleicht, die Böhring umtreibt? Die seine innere Unruhe ausgelöst hat? Sind es die unverhofften Erinnerungen an sein vergangenes Leben? Das Gefühl der Vergänglichkeit, des Unwiederbringlichen? Einiges spricht für diese Deutung des Geschehens.
Aber warum fühlt sich Böhring von der Frau mit dem entstellten Gesicht, mit der er noch nicht einmal ein Wort gewechselt hat, so angezogen? Was fasziniert ihn an ihr? Was verkörpert sie für ihn? Hat diese Attraktion etwas mit dem Motiv des Doppelgesichts zu tun, das versehrt und schön zugleich ist? Oder ist sie gar ein Trugbild – eine auf einer Sinnestäuschung beruhenden Erscheinung? Hervorgerufen durch uneingestandene Sehnsüchte oder verdrängte sexuelle Phantasien? Es gehört zweifellos zur Kunst Wellershoffs, dass es für alle diese Vermutungen durchaus Indizien gibt, er es aber bei Andeutungen belässt. Das Unausgesprochene, sich aus der gesamten Konstruktion der Novelle ergebende Sinngebilde ist es, das einen in Spannung hält.
Im unwegsamen Hinterland
Die novellentypische unerhörte Begebenheit ist mit der kurzen Begegnung auf dem Markt noch nicht erschöpft. Es kommt zur zweiten Begegnung mit der fremden Frau. Ausgerechnet im unwegsamen Hinterland, wohin Böhring allein eine Wanderung unternimmt, begegnen sich die Beiden erneut. Als Böhring schon überlegt, ob oder wie er die Frau ansprechen soll, bemerkt er, dass sie sich in einer Notsituation befindet: sie hat sich den rechten Fuß verstaucht. Sie ist unfähig, sich allein fortzubewegen. Böhring erscheint als ihr Retter. Wie selbstverständlich kümmert er sich um ihren Fuß, stellt eine böse Schwellung fest und bietet ihr seine Hilfe an, indem er sie auffordert, ihren Arm fest um seinen Hals zu legen, so dass sie sich, Körper an Körper zusammengeschmiegt, humpelnd und sehr langsam in Richtung der Wohnanlage fortbewegen können.
Da sie fast so groß war wie er, konnte sie ihren Arm um seinen Nacken legen, so dass er mit beiden Schultern einen Teil ihres Gewichts trug, während sie langsam, doch eng verklammert … in kurzen Schritten und Schwüngen vorwärts kamen. … Sie gingen weiter, über Steinsplitter und Steinhalden hinweg … mit dem langsamen, humpelnden Gang des dreibeinigen Wesens, zu dem sie geworden waren, ein Wesen aus zwei aneinandergefesselten Körpern, die sich ständig berührten und gegenseitig zu erkennen gaben und die manchmal vor Erschöpfung stehen blieben und sich gegeneinander lehnten, eingehüllt in Betäubung, und dunkel miteinander verschmolzen.
Die ersehnte Nähe kommt durch eine außergewöhnliche Situation zustande; die körperliche Berührung zwischen ihnen wird durch die gegebenen Umstände geradezu erzwungen. Es gelingt Dieter Wellershoff, diese Szene erotisch aufzuladen, ohne dass es zu einem Liebesakt kommt. Und doch ist es in gewisser Weise ein solcher – eine Überlagerung oder Verschränkung von erotischer Berührung aneinander gepresster und ineinander verschlungener Körper in Form eines Liebesdienstes: Im Stürzen … fing er sie mit beiden Armen auf und zog sie an sich. Sie hielt sich an seinen Schultern fest und barg ihr erhitztes Gesicht in seiner Halsbeuge. So standen sie reglos da, wartend, daß der Schmerz in ihrem geschwollenen Gelenk nachließ. Unter seinen Augen war das schwarze Gewölle ihrer Haare, und ohne daß sie sich rührte, drückte er seine Lippen hinein. Er spürte, wie sich ihre Hand bestätigend auf seinen Nacken legte, und auf einmal verflogen alle seinen Gedanken, und etwas schloß sich um sie zusammen und grenzte sie beide in einsamer, selbstgenügsamer Schwere gegen die Welt ab.
Von seinem Arm umfasst und gehalten
Kurz nach dieser Begegnung reist die Frau ab. Er sieht noch, wie sie von ihrem Mann aus dem Haus geführt wird, humpelnd, von seinem Arm umfasst und gehalten und schwer auf seine Schultern gestützt, also genau so, wie er selbst sie aus dem unwegsamen Gelände geführt hatte – aber welch ein Unterschied besteht doch in den scheinbar gleichartigen Handlungen: Hier der für immer Besiegte, vergeblich sich Sehnende; dort der Ehemann; der vermeintliche Sieger.
Zum Schluss bleibt die Frage, was es mit dem Titel der Novelle auf sich hat. Wellershoff deutet es an einer Stelle an. In südlichen Gefilden ist das laute Sirren der Zikaden in den heißen Monaten des Jahres allgegenwärtig: Die stille Ausbreitung des Lichts schien immer mehr Zikaden in Erregung zu versetzen, lauter männliche Tiere, die mit ihren unermüdlichen Schwirrgeräuschen die Weibchen herbeiriefen, die jetzt überall, bereit zum Abflug, im Gras und auf den Sträuchern saßen. Er hatte gelesen, dass es auch stumme männliche Zikaden gab, die in der Nähe eines Musikanten auf herbeifliegende Weibchen lauerten und sie überwältigten, während die andere Zikade mit ihren Schwirrgeräuschen fortfuhr, um die Schwirrgeräusche ringsum zu übertönen.
Das Werben der Zikaden – ein Symbol für die Gefühle Böhrings? Dann wäre nur noch die Frage, ob sich Böhring eher als stumme oder sirrende Zikadevorkommt?
Bei Wellershoffs Novelle handelt es sich um ein kurzes, aber umso gehaltvolleres, schwergewichtiges und formvollendetes Stück Literatur, das vor allem den inneren Zuständen, Vorstellungen, Sehnsüchten, erotischen Phantasien gewidmet ist; das außergewöhnliche, unerwartete Situationen voller Spannung ausleuchtet. In einem ruhigen, zuweilen melancholisch grundierten Erzählton, gelingt es dem Autor, das routinierte Miteinanderumgehen und -auskommen sowie die eingeschliffene Vertrautheit einer in die Jahre gekommenen Ehe, mit der ungestillten Sehnsucht nach einer erfüllten Liebe zu konfrontieren. Eine Novelle mit offenem Ausgang, in der die Widersprüche des Lebens – das Schöne und das Hässliche; die Konflikte und das Streben nach Harmonie; die Ruhe- und Unruhezustände der Innen- und Außenwelt in einer brillanten Sprachmelodie zur Aufführung kommen.
Ästhetisches Adrenalin
Als Beispiel für das essayistische Werk Wellershoffs mag der Essay über den Kriminalroman dienen. Darin reflektiert er über einige sozialpsychologische Aspekte dieses Genres und fragt sich, was dessen Faszination ausmacht. Nach Wellershoff wird im Kriminalroman gewissermaßen ein ästhetisches Adrenalin freigesetzt, wodurch der Einzelne sich zumindest zeitweise dem Normierungszwang der Gesellschaft entzieht. Er führt dem Menschen seine dunklen Seiten vor, malt diese phantastisch aus und zeigt dann, wie dieser zivilisatorischen Bedrohung zu begegnen ist.
Jede Kultur will nach Wellershoff die Zukunft voraussehbar und machbar gestalten. Ihr institutionell gesichertes Repertoire an Operationsregeln, Kenntnissen und Konformitäten, in das sie ihre Mitglieder einübt und über dessen Einhaltung sie wacht, ist Praxis gewordene Vorausschaubarkeit. In der Normalität des Alltagslebens kann dies leicht in Langeweile ausarten; in eine dauernde Unterstimulierung der Erlebnis- und Handlungsbereitschaft durch das „und so weiter und so weiter“. Es besteht also ein Wechselspiel zwischen dem Bedürfnis nach Sicherheit und dem entgegengesetzten, aber mindestens so fundamentalen Bedürfnis nach Stimulierung.
Diesem Bedürfnis versucht der Kriminalroman zu genügen: er hebelt das Realitätsprinzip durch die Darstellung von Gewalt- und Angstphantasien aus, um diesen zeitweiligen Befreiungsschub danach wieder aufzuheben. Der Detektiv beweist der Gesellschaft die Gültigkeit ihres Realitätsprinzips, indem er das Verbrechen begreifbar macht. Er ist es, der unklare, mehrdeutig auslegbare Situationen sukzessive beseitigt und das Vertrauen in das gesellschaftliche Normensystem wiederherstellt. Das jedenfalls ist der Idealfall. Solange jedoch ein Verbrechen nicht aufgeklärt ist oder ein Täter noch frei herumläuft, wird das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der staatlichen Organe erschüttert; es kann dann zu einer Situation der Unsicherheit und des Argwohns kommen, die – oft befeuert durch die Medien – , in ängstliche und feindliche Grundstimmungen ausartet und die Bereitschaft zu kollektiven Hysterien, Treibjagden auf Sündenböcke und aggressiven Handlungen gegenüber Minderheiten begünstigt.
Viele Aspekte und Motive
In seinem Roman Einladung an alle spürt Wellershoff einer Vielzahl dieser Aspekte und Motive nach. Der Roman beruht auf einem authentischen Fall, den Wellershoff vor Ort gründlich recherchiert hat. Er handelt von der Flucht des Gewohnheitsverbrechers Bruno Findeisen. Dieser hat wegen zahlreicher Einbrüche jahrelang im Zuchthaus gesessen. Als er entlassen wird, kommt es seitens der Behörden zu einem Missverständnis: Zwischen Polizei und Bewährungshelfer klappt die Verständigung nicht. Die Direktion der Strafanstalt hatte vergessen, die Behörden davon in Kenntnis zu setzen, dass Bruno Findeisen aus achtjähriger Sicherungsverwahrung in seine Heimatstadt entlassen wird. Ohne externe Hilfe bleibt Findeisen völlig auf sich selbst gestellt und fällt in sein altes Rollenverhalten zurück. Er beginnt wieder zu stehlen: alles, was er zum Überleben braucht: Nahrungsmittel; Kleidung; Geld. Er übernachtet, soweit es die Jahreszeit erlaubt, im Freien – meist in Waldgegenden. Im Winter versteckt er sich in Holzverschlägen oder Wochenendhäusern, in die er einbricht. Eigentlich handelt es sich bei seinen Delikten um Bagatellen. Durch die Häufung jedoch verunsichert er eine ganze Gegend. Als er dann auf der Flucht einen Polizisten erschießt, wird er zum meistgesuchten Verbrecher des Landes. Die Medien nennen ihn einen Bluttäter. Überall sind Plakate mit seinem Konterfei angebracht: auf Bahnhöfen, Postämtern, in Geschäften und an Hauswänden. Je länger seine Flucht dauert, desto hysterischer wird die Stimmung unter der Bevölkerung. Alle dürfen sich eingeladen fühlen, an der Jagd auf den Täter teilzunehmen. Für die Polizei wird der Fall zur Prestigeangelegenheit.
Wellershoff schildert am Beispiel des Kriminaloberrats Bernhard – des Gegenspielers von Findeisen – dessen Unfähigkeit, sich in das Denken und Handeln des Verbrechers hineinzuversetzen. Bernhard ist ein ausgezeichneter Theoretiker. Er entwickelt Verschiedene Bausteine zu einer Theorie des Verbrechens, in denen er sein Verständnis von Verbrechen und deren sachgemäßer Bekämpfung darlegt. Darin enthalten sind interessante Erwägungen zu allgemeinen Phänomenen des Verbrechens und zur Psyche des Verbrechers. Gleichwohl bleiben diese aber letztlich zu abstrakt, um im gegebenen Fall zum Erfolg zu führen. Findeisen wird nicht aufgrund der logischen Schlüsse gefasst, die Bernhard aus seinen theoretischen und methodologischen Studien zieht. Im Gegenteil: Alle darauf basierenden Fahndungstechniken versagen im konkreten Fall. Die Psychologie des Verbrechens erschließt sich den rationalen Erwägungen nicht. Die strikte Trennung von Tatsachen und subjektiven Motiven, die der Kriminalist vornimmt, verhindert gerade, sich in die Psyche des Täters hineinzuversetzen; sein Handeln zu begreifen.
Wellershoff geht es darum, unsere bekannten Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster infrage zu stellen. Durch den ständigen Perspektivwechsel versucht er, den Leser zu irritieren; ihm vor Augen zu führen, dass seine gewohnten Denk- und Wahrnehmungsweisen immer nur Ausschnitte und Einzelaspekte der Wirklichkeit erfassen; der Gesamtzusammenhang aber oft undurchschaut bleibt.
Abweichler und Konformität
Wellershoffs Roman thematisiert die Beziehung von Individuum und Gesellschaft, Abweichler und Konformität. Der Verbrecher verletzt die allgemein anerkannten Normen der Gesellschaft. Um deren Einhaltung sicherzustellen, greifen die Verfolger selbst auf Mittel zurück, die ihnen im normalen alltäglichen Umgang miteinander nicht gestattet sind. Wenn man annimmt, daß in jedem Menschen aggressive und destruktive Triebe angestaut sind, dann tut der Verbrecher genau das, was im geheimen alle tun möchten. Der Normale versöhnt seine aggressiven Wünsche mit seiner Moral, indem er den Verbrecher verfolgt.
In dem Kapitel Bausteine einer Theorie der Konformität lässt Wellershoff den Kriminaloberrat Bernhard darüber reflektieren, wie Konformität in einer Gemeinschaft entsteht bzw. wie sie gesichert werden kann: Verzichten, Opfer bringen, warten, Umwege machen, lernen, einsehen, belohnt werden. Die Konformität wird bekräftigt durch Lächeln, Zuhören, Nicken, Schulterklopfen. Die Konformität ist die Übereinstimmung. Sie wird abgegrenzt durch Verweigerung. Die Kultur als das System der allgemeinen Lebenserhaltung verlangt von jedem ihrer Mitglieder Leistungen und Verzichte, und deshalb müssen wir alle ein Stück in ihr sterben. Sterben, um leben zu können. Manchmal möchte ich um mich schlagen oder aus dem Fenster springen. Aber niemand merkt etwas davon. Ich bin nur etwas still.
Wellershoff zeigt sich hier als Freudianer: Die allgemeinen Kulturleistungen beruhen auf Triebverzicht. Die Balance ist äußerst prekär. Sie kann durch unvorhergesehene Ereignisse und kleinste Störungen aus dem Gleichgewicht geraten. Insofern erinnert der Abweichler – hier in Gestalt des Verbrechers – die Gemeinschaft der Konformisten daran, wie zerbrechlich die Ordnung ist, die sie so vehement verteidigen. Welcher Typ Mensch wird da herangezogen? Sind es die folgenden Merkmale, die den normgerechten Menschen ausmachen? Planen. Vorbeugen. Sich bescheiden. Sich anpassen.
Warum leiden wir eigentlich?
Ich habe das Gefühl, daß alles, was ich gesagt habe, automatisch war. Ich weiß nicht, wer ich bin. Ich denke manchmal, ich bin jemand anderes. Ich habe Angst. Ich weiß nicht, wovor. Wer erklärt mir, was ich falsch mache? Ich möchte nicht ins Rutschen geraten und dann nicht anhalten können. In viel größerem Maße, als wir es glauben, sind wir Maschinen. Warum leiden wir eigentlich? Wie geht es euch? Alles okay? Nichtigkeit, die sich von der Nichtigkeit des anderen nährt. Schmutzige Zähigkeitsproben, überwachsen von dem Schimmel der Intimität und gegenseitigen Verachtung. Pseudoharmonisches Zusammenklumpen. Der Charakter als Panzer. Die flexible Konformpersönlichkeit. Abweichler sorgen für den Kontrasteffekt.
Wellershoff führt uns den Konflikt zwischen Norm und Abweichung vor Augen und vor allem, dass die Differenz zwischen beiden nicht so groß ist, wie wir oft meinen.
Überaus subtil und kunstvoll konstruiert er diesen Zusammenhang, indem er zeigt, wie in den Vorstellungen der sogenannten Normalen, all jene Phantasiegebilde entstehen, die sie auf den Abweichler, den Verbrecher projizieren.
Es sind Passagen wie diese, die verdeutlichen, mit welcher Präzision Wellershoff die überaus komplizierten Mechanismen psychischer Transformationen schildert. Dadurch erreicht seine Darstellung einen Grad an Objektivität, der weit über den geschilderten Einzelfall hinausweist. Damit sprengt er den Rahmen des Kriminalromans. Wie im klassischen Kriminalroman wird am Ende zwar die alte Ordnung wiederhergestellt; aber Wellershoff vermeidet eine affirmative Aneignung des Romans dadurch, dass der Verbrecher zum Kläger gegen die gesellschaftliche Ordnung wird: Durch den Zufall eines behördlichen Versagens – die Nichtbenachrichtigung des Bewährungshelfers – wird Findeisen nach seiner Entlassung sofort wieder auf sich selbst zurückgeworfen und von der Möglichkeit, sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren, ausgeschlossen, so dass er nahezu zwangsläufig wieder auf die schiefe Bahn gerät. Deutlich wird aber auch, dass der Einzelne der Gesellschaft bedarf, um zu überleben. Wird ihm diese Möglichkeit versagt, scheitert er. Dieses notwendige Scheitern zeigt Wellershoff in aller Konsequenz.
Im Mittelpunkt steht ein Dorfpfarrer
Mit seinem letzten Roman Der Himmel ist kein Ort widmet Wellershoff sich einem weiteren zentralen Thema unseres Daseins: dem Glauben. Im Mittelpunkt steht ein junger Dorfpfarrer, der mehr und mehr den Boden unter den Füßen verliert. Er lebt allein im dörflichen Pfarrhaus. Die Freundin hat ihn verlassen. Er selbst bewältigt mehr recht als schlecht die kirchliche Alltagsroutine. Eines Nachts wird er an einen Unfallort gerufen. Ein Wagen ist in den nahegelegenen Baggersee gefahren. Der Fahrer hat überlebt. Die Frau kann nur noch tot geborgen werden. Der gemeinsame Sohn ist bewusstlos und liegt fortan im Koma. Schon bald danach gibt es im Dorf die unterschiedlichsten Deutungen des Unfalls. Von Spannungen unter den Ehepartnern ist die Rede. Auch die Tatsache, dass der Mann überlebt hat, gibt Anlass zu Spekulationen. Täglich berichtet die örtliche Presse von vermeintlich neuen Indizien. Der Pfarrer versucht mit dem Mann ins Gespräch zu kommen, was nicht recht gelingt. Der Mann bleibt verschlossen und misstrauisch. Gegenüber der Dorfgemeinde, die längst ihr Urteil über diesen gefällt hat, hält der Pfarrer an der Unschuldsvermutung zugunsten des Mannes fest. Zwar nehmen auch bei ihm die Zweifel zu, je mehr er über ihn erfährt; gleichwohl gerät der Pfarrer mehr und mehr in Gegensatz zur Mehrheitsmeinung im Ort.
Dies ist der Ausgangspunkt einer sich verschärfenden Sinnkrise, die allmählich auch an den Grundfesten seines Glaubens rührt. Als er während einer Predigt versucht, seinen Standpunkt vor der Gemeinde zu erklären, erfährt er kalte Ignoranz. Das Motto der Predigt: Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet – zur Versöhnung gedacht – wirkt auf die Gemeinde wie eine Provokation. Dem Pfarrer wird plötzlich bewusst, wie hohl die religiösen Formeln angesichts der realen Ereignisse klingen.
Wellershoff stellt die verschiedenen Facetten der Lebenskrise des Pfarrers dar. Mit einem Kunstgriff gelingt es ihm, diese auf Aspekte der Glaubenskrise hin zu fokussieren: Er lässt den Pfarrer an einer wissenschaftlichen Tagung teilnehmen, die das Ziel hat, theologische Fragen der Zeit im Dialog mit Philosophen, Soziologen und Religionshistorikern zu reflektieren.
Einer der Referenten führt aus, wie sich die Religion von der alles beherrschenden Sinndeutungsinstanz und lebensgestaltenden Macht in der traditionalen Gesellschaft, zu einer altehrwürdigen Hintergrundautorität in der Moderne entwickelt und dabei nach und nach an Funktionen und Gestaltungsräumen einbüßt. Mit der verfassungsrechtlich garantierten Religionsfreiheit seien Konfessionen zu einer Art Konsumgut geworden, von der jeder nach Bedarf seinen persönlich dosierten Gebrauch macht. Einer der Redner führt aus: Religion sei Privatsache geworden und verflüchtige sich in subjektiven Varianten oder lebe zum Feiertagsritual reduziert wie ein braves und geschütztes Haustier innerhalb der säkularisierten Gesellschaft weiter, die mit ihrer gesammelten Medienmacht anstelle der Sorge um das Seelenheil Tag für Tag die Jagd nach dem vielgestaltigen Glück irdischer Selbstverwirklichung propagiere. Das aktuelle Wunschbild körperlicher und seelischer Wellness und des gesellschaftlichen Erfolgs habe die religiöse Erlösungshoffnung überlagert und als etwas Unüberprüfbares und Vages in den Hintergrund gedrängt.
Kirche als Nische für Zuflucht
Es ist zu vermuten, dass Wellershoff seinen Protagonisten die eigenen Zweifel an der sinnstiftenden Funktion der kirchlichen Institutionen in den Mund legt. Demnach ist die Kirche mit ihren Betreuungsangeboten zu einer gesellschaftlichen Nische für Zuflucht suchende Menschen geworden, die in der Unübersichtlichkeit und Instabilität der Leistungsgesellschaft menschliche Nähe und Wärme vermissen. Die Formelhaftigkeit, zu der die Glaubensinhalte in ihrer rituellen Vermittlung erstarrt sind, wird dabei von den Kirchenbesuchern als Preis der Geborgenheit in Kauf genommen. Weder glauben noch zweifeln sie an den Glaubensverheißungen. Die meisten sagen sich: Vielleicht ist doch etwas daran. Man kann es ja nicht wissen.
Mit diesen und ähnlichen Formulierungen gelingt es Wellershoff, die Grenzen kirchlicher Glaubwürdigkeit auszuloten. Auf der Tagung werden grundsätzliche Standpunkte kritisch hinterfragt und – jenseits aktueller Anlässe – diskutiert. Dabei wird deutlich: die Zweifel überwiegen. Nur scheinbar widersprechen dem Ereignisse wie Kirchentage oder z.B. der Weltjugendtag, der alle paar Jahre Hunderttausende junger Menschen zusammenführt. Bezogen darauf äußert ein Tagungsteilnehmer seine Zweifel, ob derartige Veranstaltungen als Zeichen einer Renaissance der Religion angesehen werden können: Das glaube ich eigentlich nicht. Was ich persönlich bisher wahrgenommen habe, waren an Massenereignisse gebundene, flüchtige Stimmungen, die sich selbst genug waren und sich selbst konsumierten. Wenn`s vorbei ist, läuft man auseinander, und nichts bleibt zurück außer dem Bedürfnis nach einem neuen Event und neuen Massenbegeisterungen.
Von diesen mehr oder weniger äußeren Erscheinungsformen kirchlichen Geschehens, die man teilen oder auch nicht teilen kann, geht Wellershoff sukzessive auf Grundfragen der Religion über. Auf die Frage: Wer oder was ist Gott? Hierauf antwortet einer der Referenten:
Gott ist die Summe der Erzählungen über Gott. Man kann auch sagen: eine von Menschen geschaffene, Halt und Orientierung stiftende Fiktion … Der Gottesbegriff ist die personifizierte menschliche Antwort auf die Seinsfrage. Doch der Satz der biblischen Schöpfungsgeschichte: Gott schuf den Menschen sich selbst zum Bilde, steht schroff und steil, ohne Anlehnung an bekannte Fakten für sich da. Man kann ihn nur glauben oder nicht. Wenn wir dagegen die Beziehung der beiden tragenden Worte umkehren zu dem Satz: Der Mensch schuf Gott sich selbst zum Bilde, dann wird die Aussage anschlussfähig an alle evolutionsgeschichtlichen und kulturgeschichtlichen Faktenzusammenhänge. Der Mensch ist nicht aus einem Schöpfungsakt hervorgegangen, sondern ist als das bisherige Endprodukt der schon über zwei Milliarden Jahre andauernden Evolution des Lebens vor etwa zweieinhalb Millionen Jahren in Erscheinung getreten … Er war unfertig und veränderungsfähig, ein Bündel verborgener Möglichkeiten. Ein problematischer, weitreichender Wurf, von dem sich nicht sagen lässt, wohin er noch führen wird.
Gott in übermenschlicher Größe
Nach seinen Ausführungen zur biblischen Schöpfungsgeschichte problematisiert der Referent das Gottesbild des Christentums. Dass es lange Zeit verboten war, sich ein Bild von Gott zu machen; wie es zur Herausbildung monotheistischer Religionen gekommen war; zum Absolutheitsanspruch des einen Gottes. Er fährt dann fort: Im Alten Testament begegnet uns Gott zwar in übermenschlicher Größe und Macht, aber durchaus analog zu den damaligen menschlichen Lebensformen als Herrscher, Stammesoberhaupt, Richter oder Vater. Und er zeigt sich als ein Wesen von archaischer Emotionalität: zornig, strafend, Opfer und Unterwerfung fordernd und den Andersdenkenden und Feinden – und manchmal allen Menschen – Vernichtung androhend. In all diesen Erzählungen von Gott, die bis heute wie unbewegliche Felsbrocken im Bewusstsein der Menschen liegen, drückt sich das menschliche Verlangen nach einem mächtigen Schutzherrn aus.
Von diesem Gottesbild des Alten Testaments führt – religionsgeschichtlich – ein weiter Weg zur versöhnlichen Botschaft der Bergpredigt; ein Weg, auf dem widersprüchliche Glaubensinhalte in Einklang gebracht werden müssen. Dabei handelt es sich um den fundamentalen Gegensatz zwischen dem monotheistischen Gott, der keine anderen Götter neben sich dulden wollte und der Tatsache, dass er mit Jesus einen Beisitzer an die Seite gestellt bekam, der ein ganz anderes, sensibleres Programm vertrat … Um diesen Widerspruch zu überbrücken, musste der Mensch Jesus erst durch das Nadelöhr seines Todes gehen, um so imaginär zu werden, dass er in den göttlichen Rang erhoben werden konnte. Aber war er nun noch derselbe?
Diese Umdeutungen und Neuinterpretationen der bisherigen Glaubensinhalte und ihrer Ambivalenzen waren nach Ansicht des Referenten zweifellos eine strategische Leistung der Apostel und vieler nachfolgender religiöser Denker, indem sie einerseits die Gegensätze verschmolzen und Jesus Christus als die Menschwerdung Gottes interpretierten, andererseits aber den alten Gott als metaphysische Garantiemacht im Hintergrund lebendig erhielten. Ohne sich auf Gott berufen zu können, wäre Jesus ein Wanderprediger geblieben, der wie viele andere mit der Zeit wieder aus dem Gedächtnis der Menschen verschwunden wäre. Da er den Mühseligen und Beladenen aus der Seele gesprochen hatte, fand seine Lehre in den antiken Sklavengesellschaften zwar wachsenden Zulauf. Aber gerade diese Klientel verlangte göttlich beglaubigte Heilsbotschaften und erwartete wunderbare Errettungen.
Er sah es und es war gut
Auf der Tagung prallen die Meinungen hart und unversöhnlich aufeinander: Zwischen denen, die in der Schöpfung nicht nur das Zufallsprodukt der Evolution, sondern ein göttliches Geschenk sehen und die der biblischen Schöpfungsgeschichte nahe stehen, in der es heißt: Gott sah alles an, was er gemacht hatte, und siehe da, es war gut. Und denen, ob es ein und derselbe Gott ist, von dem hier die Rede ist: Einschließlich Pest, Cholera und Krebs? Einschließlich Krieg und Völkermord? Und noch anders gefragt: Ist Gott auch zuständig für die Milliarden auseinanderdriftenden Galaxien und ihr rasendes Verschwinden im dunklen Raum und für die Schwerkraftfallen der schwarzen Löcher in ihrer Mitte, die ganze Sternsysteme verschlingen und zu Nichts zusammenpressen. Oder ist er nur der Lokalgott eines kosmisch gesehen winzigen, bedeutungslosen Planeten?
In den zitierten Passagen zum Thema Glauben sind die zentralen Aussagen des Romans zusammen gefasst; insbesondere auch die an anderer Stelle auftauchende Frage: Wie konnte der archaische Gottvater dem Sterben des gekreuzigten Gottessohnes ungerührt zusehen? Warum ruft dieser im Augenblick seines Sterbens: Mein Vater, warum hast du mich verlassen? Wie steht es überhaupt um dieses zentrale Symbol des Christentums: Der leidende, gekreuzigte Sohn als Abbild für die Dramatik der menschlichen Existenz, die durch Irrtum, Vergänglichkeit und Leiden geprägt ist? Zwar wird durch die Auferstehungsgeschichte diese Grunderfahrung des Menschen wieder aufgehoben, da die Mehrheit der leidenden Menschen einen solchen Trost braucht, der Distanz zur Übermacht der bedrängenden Realitäten schafft – aber, bemerkt einer der Tagungsteilnehmer lapidar: Sterben müssen wir noch immer.
Dass dieser Disput um Grundfragen des Glauben mit seinen unvereinbaren Gegensätzen nicht dazu angetan ist, die Sinnkrise des Protagonisten zu mildern – ja seine Zweifel und Selbstzweifel dadurch zusätzliche Nahrung erhalten, liegt auf der Hand. Wellershoff erweist sich als souverän im Umgang mit ambivalenten Stimmungen und Gefühlen in einer Zeit, in der die Gewissheiten einer sinnstiftenden Ordnung mehr und mehr verloren gehen. Ein lesenswerter, nachdenklich stimmender Roman, der Fragen aufwirft, die viele Menschen bewegen dürften.
Das zuletzt Gesagte gilt für alle Werke Wellershoffs. Er versteht es, existentielle Probleme des modernen Menschen in einer Weise aufzugreifen, die zum eigenen Nachdenken zwingt. Da werden Probleme mit äußerster Konsequenz durchdekliniert; nicht beschönigt oder ignoriert. Wellershoff gelingt dies auf eine umsichtige, unaufgeregte Art – nicht belehrend und doch so lehrreich, dass man viele seiner Bücher gleich wieder zur Hand nehmen möchte.
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