„Pflegenotstand“ im reichen Deutschland, so lautet eine der vielen Schlagzeilen in den Medien. Zu wenig ausgebildetes Personal, viel Stress, schlechte Bezahlung, Schichtdienst, in der Nacht hat ein Pfleger sich schon mal um 50 Patienten zu kümmern. Wehe, wenn da was Ernstes passiert! Aber wir haben doch die Pflegeversicherung, wendet der Laie ein. Ja, wenn wir die nicht hätten, wäre es noch schlimmer. Es scheint, als hätte die Gesellschaft den Ernst der katastrophalen Lage noch immer nicht begriffen.
Es lohnt sich, einen Blick zurück zu werfen auf die Anfänge dieser Versicherung. Der „Vater“ der Pflegeversicherung war Norbert Blüm, damals am Abend des 10.März 1994 war die fünfte Säule des Sozialstaats unter Dach und Fach, nach langen Verhandlungen, nach vielen Gesprächen zwischen den Koalitionsparteien CDU/CSU und der FDP, der SPD, die die Mehrheit im Bundesrat hatte, nach zähem Ringen und auch mit Tricks im Vermittlungsausschuß entschied eine Stimme, die des Landes Baden-Württemberg, weil deren Vertreter den Mut besaß, gegen die Weisung seiner Landesregierung für die Weiterbehandlung des Gesetzgebungsverfahrens zu stimmen. Und, schreibt Blüm, einer besonders habe ihm dabei geholfen: Horst Seehofer.
Vier Jahre Kampf hatten sich gelohnt. Als finanziellen Ausgleich für die Mehrkosten der Arbeitgeber wurde der Buß- und Bettag als Feiertag gestrichen. Blüms Versuche, mit Hilfe des Kardinals Joseph Ratzinger den zweiten Pfingstfeiertag als Feiertag aufzuheben, waren zuvor gescheitert, obwohl Ratzinger einräumen musste, dass der Pfingstmontag für die Arbeitnehmer im Vatikan kein bezahlter Feiertag ist. Doch die katholischen Glaubenswächter in Deutschland „standen Kopf“. Als dann noch der Schaustellerverband protestierte, weil er um seine guten Geschäfte bei den Volksfesten am Pfingstmontag fürchtete, musste Blüm diese Idee genauso fallenlassen, wie Gedankenspiele um den 1. Mai oder den 3. Oktober. So war das damals, Anfang der 90er Jahre.
Dramatische Klagen
Und heute? Wenn man die Diskussionen der letzten Tage im Fernsehen zum Thema Pflege, darunter in der Sendung von und mit Bettina Böttinger und von Frank Plasberg verfolgt hat, steht es um die Pflege der zumeist alten, bettlägerigen und/oder dementen Kranken nicht gut, fehlt es an allen Ecken. Es sind teils dramatische Klagen, die Betroffene äußern. Zum Beispiel eine Frau im Rollstuhl, die immer wieder auf Intensivstationen liegt, um dort beatmet zu werden: „Ich habe Angst, wenn ich klingele und keiner kommt.“ Die Frau erzählt, dass sie selbst den Pflegekräften ihre spezielle Krankheit beschreiben müsse. Dann wiederum bekommt man die Nöte von Krankenschwestern zu hören, weil sie als einzige Fachkraft Nachtdienst hätten und eben entscheiden müssten, wer zu erst Hilfe bekommt. Dabei könnten es alles Fälle sein, die dringend der Hilfe bedürfen.
Eine jüngere Altenpflegerin muß schon mal 12 Tage hintereinander arbeiten. Man stelle sich das vor, in welche schwierigen Situationen diese Frau kommen mag, wenn sie allein für 64 Bewohner die Verantwortung trägt. Sie hat sich wohl entschieden und will, da sie ganz offensichtlich überarbeitet ist, raus aus der Pflege. Dabei liebt sie ihren Beruf, weil „sie gern alten Menschen ein Lächeln ins Gesicht zaubern will.“
Eine Arbeit, die den Menschen Spaß macht, die aber an die Kräfte geht. Ausgebildete Pflegekräfte blieben nur durchschnittlich sieben Jahre im Beruf, erklärte die Pflegewissenschaftlerin Tanja Segmüller.
Unhaltbare Zustände in Heimen
Aufschlussreich, was der Auszubildende in der Pflege, Alexander Jorge, bei „Hart aber fair“ über den Pflegenotstand berichtete. „Sie liegen stundenlang in der Scheiße“. Drastisch, aber wahr. Und der junge Mann fragt sich, wie das sein könne in einem reichen Land wie Deutschland. Seine Berufswahl hat Jorge nicht bereut. „Ich will von innen heraus etwas verändern.“ Altenpflegerin Claudia Moll ist aus ihrem Beruf ausgeschieden, sie gehört der SPD-Fraktion im neuen Bundestag an. Frau Moll berichtete von den teils unhaltbaren Zuständen und räumte ein, dass sie ausgebrannt sei. Als einzige Fachfrau war sie früher nachts für bis zu 56 Pflegebedürftige zuständig und musste bei einem Ausbruch des Norovirus die Putzfrau um Hilfe bitten. Sie hatte früher mal Gesundheitsminister Größe(CDU) vorgeschlagen, sie einmal zwei Tage lang bei der Arbeit zu begleiten. Vergeblich. Da hätte der Minister die Praxis aus der Nähe erleben können.
Der einem breiten Publikum schon länger bekannte Samuel Koch war auch bei Plasberg zu Gast. Koch war 2010 bei „Wetten, daß“ verunglückt, seitdem sitzt er im Rollstuhl, er ist querschnittgelähmt. Koch berichtete, wie er nach dem Unfall große Angst hatte vor dem Ersticken und dass statt der Pfleger oft nur sein Vater da gewesen sei.
Eine Kraft für 13 Patienten
Zahlen machen das Armutszeugnis für das reiche Deutschland deutlich, wie Plasberg erläuterte. In Krankenhäusern sei eine Pflegekraft im Durchschnitt für 13 Patienten zuständig, in Norwegen und den USA liege die Quote nur bei der Hälfte. In Pflegeheimen seien während der Nachschichten für 50 Patienten nur ein Pfleger präsent.
Worum es neben der knochenharten und seelisch belastenden Arbeit auch geht, beschrieb Azubi Jorge: die Würde des Menschen. „Wer hat denn unseren Wohlstand erwirtschaftet?“, fragte er. Heute würden ja alle in Gleitzeit arbeiten gehen, maximal 40 Stunden pro Woche. Alle führen gute deutsche Mittelklassewagen. Und: „Wer hat das erwirtschaftet? Das sind die, die jetzt in der Scheiße liegen.“
Es fehlen Tausende von Pflegern. Dazu kommt, dass nicht alle, die in der Pflege arbeiten, auch als Pfleger ausgebildet sind. Hier ist erheblicher Nachholbedarf. Der Berufsstand müsse stärker anerkannt werden, hat vor Jahren schon der Mediziner Eckhart von Hirschhausen, der seit Jahren Fernsehen-Moderator ist, gefordert. Hirschhausen findet es zynisch, wenn jeder, der sich engagiert, als Gutmensch hingestellt werde.
Wer kann sich eine private Zusatzversicherung leisten?
Leicht, allzu leicht wird bei diesem Thema eingeworfen, die Bürgerinnen und Bürger müssten sich privat zusätzlich absichern. Wer das fordert, verkennt, wie wenig teilweise heute noch verdient wird, er verkennt, dass bei weitem nicht jeder pro Monat 50 Euro für eine private Versicherung auf den Tisch legen kann. Wie soll denn einer, der Mindestlohn bekommt, noch privat vorsorgen? Ein weiteres Problem: Oft genug wird erzählt, dass Pflege auch zu Hause geleitet werde. Das trifft zwar auch zu, ist aber auf die Dauer von vielen nicht zu leisten. Wie sollen denn die Kinder ihre alten Eltern zu Hause pflegen, wenn beide Ehepartner berufstätig sind? Die Pflege wäre zudem ein Raubbau an der Gesundheit der Kinder. Das können sie auf die Dauer nicht leisten.
Andrea Kaiser, Moderatorin, erzählte, dass die private Pflegeversicherung nicht einmal die Hälfte der Kosten eines Treppenlifts übernehme. Ihr Vater leidet unter Demenz, sie will ihn nicht in einem Pflegeheim unterbringen, wegen der Zustände in Heimen. Andererseits sorgt sich Frau Kaiser, wie sie einräumte, um die Gesundheit ihrer Mutter, die sich bei der Pflege des Mannes aufarbeiten könne. Eine Mutter, die seit vielen Jahren ihre schwerbehinderte Tochter pflegt, gab zu: „Ich bin ausgelaugt, kaputt.“ Sie muss immer dann einspringen, wenn der ambulante Pflegedienst ausfällt. Andere berichten von den schlimmen Zuständen in manchen Heimen. „Meine Schwiegermutter wurde im Heim ruhig gestellt“, schilderte ein Mann. Ohne Rücksprache mit den Angehörigen. Man spricht von heimlicher Euthanasie. „Es sterben täglich unterversorgte Menschen in Krankenhäusern und in Pflegeheimen“, so eine Pflegerin.
Das Problem wird zunehmen
Das Problem mit der Pflege wird zunehmen.
In der Sendung mit Bettina Göttinger äußerte sich auch der neue NRW-Gesundheitminister Karl-Josef Laumann(CDU). „Das Pflegen von Menschen darf in unserer Gesellschaft nicht weniger wert sein, als das Reparieren von Maschinen.“ In der Altenpflege fehlen heute rund 20000 Pflegekräfte, Experten rechnen bis 2030 mit einem Anstieg der Pflegebedürftigen um ein Drittel auf 3,5 Millionen und mit rund 400000 fehlenden Pflegekräften.
Bald 25 Jahre Pflegeversicherung
2019 werde die Pflegeversicherung 25 Jahre alt, schreibt Norbert Blüm in einem Buch „Verändert die Welt, aber zerstört sie nicht“. Damals war der Minister zu Recht siegesfroh, heute muss er besorgt sein. Dass die Versicherung nie fertig ist, gilt für alle anderen auch. Aber hier gehen wir auf eine gesundheitliche und menschliche Katastrophe zu, die zu bewältigen Milliarden Euro kosten wird und viel Engagement. Der Buß- und Bettag ist weg, aber wie wäre es, wenn man den zweiten Pfingstfeiertag ins Gespräch brächte, um die Kosten in den Griff zu kriegen? Für einen Dienst an der Menschheit, für die Würde des Menschen, wenn er alt und gebrechlich ist,
Es fehlen Regeln, klare Grenzen, Regeln für die Mindestanzahl von Pflegekräften pro Station. Gute Pflege braucht gut ausgebildete und besser bezahlte Pfleger, denen mehr Anerkennung der Gesellschaft entgegengebracht werden muss. Und sicher: Wir brauchen mehr Kontrollen, regelmäßig, Kontrolle der Heime und der Pfleger, damit wir von einer Qualität der Pflege sprechen können, die wir den Menschen in Not schuldig sind.
Quellen: TV-Sendungen mit Frank Plasberg“Hart aber fair“, Bettina Göttinger „Ihre Meinung“- Wege aus der Pflegekrise. Norbert Blüm: Verändert die Welt, aber zerstört sie nicht.“
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