Wer sich verständnisvoll zu Russland äußert, zur Politik von Wladimir Putin, der wird sehr schnell in eine Ecke gestellt und als Russland-Versteher bezeichnet. Was kein Kompliment ist in deutschen Medien oder in Diskussionen an deutschen Stammtischen oder nur Tischen. Vergessen ist die „Gorbimanie“, die weite Teile der Republik in den 80er Jahren erfasste, die Begeisterungsstürme, die der Besuch von Gorbatschow einst in Bonn und in Dortmund bei Hösch entfachte. Mit Gorbi, so nannte man ihn fast liebevoll, war die Hoffnung auf den Wegfall des Eisernen Vorhangs und der Mauer verbunden, das Ende des Kalten Kriegs. Der Generalsekretär der sowjetischen KP wurde zu einer Art Star im Westen, umjubelt war er, fähnchenschwingend standen Menschen an den Straßen, Gorbi-Rufe begleiteten seinen Auftritt vor dem Bonner Rathaus. Wann hatte es das schon mal gegeben, bei einem Russen?! Aber das ist vorbei. Längst ist Russland das ewig Böse, wie es schon mal genannt wurde von US-Präsident Reagan. Ein Giftanschlag in England, vieles deutet auf eine Beteiligung des Kreml hin, aber auf Beweise warten wir nicht, die Sache ist doch klar. Putin, der einstige Geheimdienstmann, wird seine Finger im Spiel haben. Da braucht es keine stichhaltigen Beweise. Gut, die anderen Geschichten, die diesen Anschlag begleiten, sind auch nicht von Pappe.
Die Dämonisierung Russlands, sie ist wieder da. Wie einst in den 50er Jahren. Der Russe stand quasi vor der Tür, auf der östlichen Seite Berlins. Der Iwan, wie man ihn auch nannte, wenn man das Schreckensbild steigern wollte. Das Feindbild steht, dabei haben die Russen die schwersten Verluste im 2. Weltkrieg erlitten, um den Hitler-Faschismus zu besiegen, um Europa von dieser Art der schlimmen Diktatur zu befreien. Mindestens 25 bis 28 Millionen Tote, so die Bilanz. Verdrängt wird der Vernichtungskrieg, mit dem die Nazis und die Wehrmacht Teile der Sowjetunion zerstörten, ganze Dörfer vernichteten in ihrem Wahn. Geblieben sind die schlimmen Erfahrungen der Deutschen, als die Rote Armee einmarschierte. Es war Krieg, es wurde gemordet, verbrannt, vergewaltigt, verschleppt.
Als Brandt in Moskau den Ehrendoktortitel erhielt
Russland verstehen. Wer sich die Mühe geben will, lese die Bücher von Gabriele Krone-Schmalz, die ein paar Jahre Korrespondentin in Moskau war und Land und Leute kennengelernt hat. Ich habe mir zwei ihrer Bücher wieder zur Gemüte geführt. Das eine trägt den Titel: „Russland verstehen. Der Kampf um die Ukraine und die Arroganz des Westens.“ Die Lektüre lohnt sich für den, der mehr erfahren will und der sich nicht mit Vorurteilen abgeben will.
Krone-Schmalz bringt gleich zu Beginn ihres kleinen Werks Willy Brandt in einen Zusammenhang mit Michail Gorbatschow. Als der deutsche Ex-Kanzler und Friedensnobelpreisträger, Architekt der Ostpolitik neben Egon Bahr, 1989 in Moskau die Ehrendoktorwürde der Lomonossow-Universität zuteil geworden sei, habe er Gorbatschow gefragt, was er sich in diesen schwierigen Zeiten vom Westen wünsche. Gorbatschows Antwort sei gewesen: „Verständnis.“
Verständnis versucht die Autorin zu äußern. Aufgrund von Informationen, der Geschichte. Sie versucht, sich ein Bild zu machen, um es ihren Lesern mitzuteilen. Damit sie vielleicht darüber nachdenken. Wahrheiten sind immer so eine Sache. Zumal Sympathien dabei nicht unwichtig sind. Und Journalisten sind dagegen nicht gefeit. Der Satz, oder besser Lehrsatz des großen journalistischen Vorbilds, Hans-Joachim Friedrich, Journalisten dürften sich mit keiner Sache gemein machen, auch nicht mit einer vermeintlich guten, gilt. Aber ob er immer eingehalten wird, ist sehr die Frage. Oder ein anderer Satz von ihm: Journalisten seien überall dabei, gehörten aber nicht dazu. Weiß Gott. Friedrichs meinte, Journalisten müssten auf Distanz achten, nur so schafften sie es, Vertrauen zu erwecken beim Zuschauer.
Keine Nato-Ausdehnung nach Osten
Zurück zu Krone-Schmalz und ihren Russland-Erfahrungen. Wenn Putin sagt: „Der Zusammenbruch der Sowjetunion war die größte Katastrophe seit dem 2. Weltkrieg“, lohne es sich, diesen Satz ernst zu nehmen. Dieser Satz sei zentral, so die Autorin, wenn man die russische Perspektive verstehen wolle. Und sich nicht allein mit der westlichen Deutung zufrieden geben wolle, dass dieser Satz lediglich rückwärtsgewandtes Denken und imperialistische Ansprüche Moskaus verdeutlichten. Ich mache jetzt bewusst einen großen Sprung und zitierte den späteren US-Präsidenten Obama, der Putins Russland nur noch als Regionalmacht einstufte, eine Herabsetzung war das mindestens. Kann es da verwundern, dass sich der Mann im Kreml Gedanken macht über die Herrschafts-Pläne des Westens, die Ausdehnung der Nato bis weit in einstiges sowjetisches Gebiet hinein. Anders als damals, bei der Wende gedacht, als man Gorbatschow gegenüber Versprechen abgab, dass nicht daran gedacht sei, die Nato auszuweiten. Im Gegenteil, es war vom Bau des europäischen Hauses die Rede, in dem aber längst kein Zimmerchen mehr frei ist für die Russen. Aus Akten des State Departments in Washington gehe hervor, dass der damalige USA-Außenminister James Baker am 9. Februar 1990 bei seinen Gesprächen mit Gorbatschow und Schewardnadse im Kreml „eisenfeste Garantien“ versprochen habe, dass die Streitkräfte der Nato nicht nach Osten verschoben würden, wenn Moskau mit der Nato-Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands einverstanden sei. Jede Ausdehnung der Nato-Zone sei inakzeptabel, so Gorbatschow. Darauf habe Baker gesagt: „Dem stimme ich zu.“
Der Umbau der Sowjetunion zu einem neuen Russland, von der Herrschaft der Kommunisten hin zu rechtsstaatlichen Strukturen, von der Kommandowirtschaft zur Marktwirtschaft. Von der Sowjetunion zum Nationalstaat. Kein einfaches Unterfangen. Auch die damit entstehenden Probleme müssten erst genommen werden. In diesen Zeiten hätte Russland das gebraucht, worum Gorbatschow einst gebeten hatte: eine verständnisvolle Begleitung des Westens. Stattdessen folgten Drängelei, wurden Kredite und Hilfen an Bedingungen geknüpft, die nichts mit der russischen Realität zu tun hatten. Wörtlich: „Russland wurde weniger als Partner denn als Konkursmasse behandelt.“
Putins Signale Richtung Westen
Mehr noch, in die neue Sicherheitsarchitektur Europas war Russland nicht eingebunden. Putin, so Krone-Schmalz, habe „in Serie Signale Richtung Westen“ gesandt, was zu der Zeit in Russland nicht unumstritten gewesen wäre. Statt diese Chance zu ergreifen, sei die mediale und politische Diskussion von der KGB-Vergangenheit des neuen russischen Präsidenten dominiert gewesen.
Man lese das Kapitel über die EU, die Ukraine und Moskau und vergesse dabei nicht, dass die Krim altes russisches Land war. Und denke darüber nach, warum Brüssel die Ukraine dazu brachte, sich zwischen der EU und Russland zu entscheiden. Besser wäre doch eine Lösung der EU, der Ukraine und Russlands gewesen. Die gegenseitigen Abhängigkeiten zwischen der Ukraine und Russland, in 70 Jahren gewachsen, geliebt oder nicht, „lösen sich nicht dadurch auf, dass die EU mit wirtschaftlichen Chancen und Werten lockt.“ Warum hat man im Westen nicht zur Kenntnis genommen, dass die Schwarzmeerflotte der Russen auf der Krim stationiert war, deren Oberbefehlshaber in Moskau saß und nicht in Kiew? „Wie naiv und arrogant muss man sein“, fragt die Autorin, „um diese Zusammenhänge im Vorfeld eines EU-Assoziierungsabkommens, das die Ukraine faktisch rüberzieht, nicht im Blickfeld zu haben.“ Die Nato hätte dadurch ihre Ostgrenze um 1000 Kilometer verschoben.
„Es ist ein Trugschluss anzunehmen“, so das Urteil der Journalistin, „alle Menschen dieser Welt wünschten sich nichts sehnlicher als zum Westen zu gehören und nach dessen Regeln zu leben.“ Pikant jene Passage, in der sie ein Interview veröffentlicht, das sie einer deutschen Zeitung gab, das aber nicht gedruckt wurde. Darin stellt Krone-Schmalz auf die Frage des Kollegen, ob es klug gewesen sei von Putin, sich die Krim unter den Nagel zum reißen, fest: „Die Krim ist ureigenes russisches Land. Was Putin getan hat, ist keine Landnahme, sondern Notwehr unter Zeitdruck. Ich werfe dem Westen vor, die Bedeutung der Halbinsel für Russland nicht richtig eingeschätzt zu haben…Ich halte auch den Vorwurf, Russland habe gegen das Völkerrecht verstossen, nach diversen Gesprächen mit Völkerrechtlern nicht für berechtigt. Sanktionen zu verhängen, bringt nichts. Sie treffen im Zweifel die Falschen.“ Und dann noch einmal: „Es -gemeint Russland- kann nicht hinnehmen, dass neben der Schwarzmeerflotte auf einmal Nato-Kräfte auftauchen.“
Die USA werden gewürdigt, Moskau nicht
Ein anderer Punkt, der auch die doppelten Standards beleuchtet, mit denen die USA und Moskau eingeschätzt wurden. „Die USA ernteten noch fast 70 Jahre später große Dankbarkeit für ihre Hilfe bei der sowjetischen Blockade Berlins. Auch den Nachgeborenen wird diese grandiose Leistung vermittelt. Der liebevolle Begriff Rosinenbomber gehört zum festen Wortschaft. Doch wo bleibt die Dankbarkeit gegenüber Moskau für die deutsche Vereinigung?“, fragt die Autorin nicht zu Unrecht. Ohne Gorbatschow wäre die friedliche Wende nicht möglich gewesen, dass sie ohne einen Schuss fiel, verdanken wir ihm. Wer das nicht glaubt, kann das bei Hans-Dietrich Genscher, dem damaligen Außenminister nachlesen. Genscher hat noch kurz vor seinem Tod in einem Interview die Staatsmänner des Westens gebeten, auf Putin zuzugehen und ihm die Hand zu geben.
Immer wieder geschehe ein verzerrter Blick, sobald Russland involviert sei, so Krone-Schmalz. Das Bild von Russland und den Russen bleibe eindimensional und verletzend für diejenigen, die davon betroffen seien. Und: „Alles für bare Münze zu nehmen, wenn es aus Moskau kommt, ist genauso falsch wie alles für Propaganda zu halten, weil es aus Moskau kommt.“
Gerade wenn man den heutigen US-Präsidenten Trump und dessen egoistische Haltung-America first- nimmt, kann man Krone-Schmalz nur zustimmen, wenn sie feststellt: „Das geopolitische Interesse der USA, nach wie vor in der Welt die entscheidende Rolle zu spielen und dafür alle Weichen zu stellen, ist offensichtlich.. Eine prosperierende Zusammenarbeit zwischen der EU und Russland steht jedenfalls nicht an erster Stelle US-amerikanischer Interessen. “ Unter diesem Gesichtspunkt sollte man die Diskussion über russische Gaslieferungen nach Deutschland sehen und die amerikanischen Interessen, an Stelle der Russen das Gas-Geschäft mit Berlin zu machen.
Die Autorin zieht für sich das Fazit: „Es ist im ureigenen Interesse der EU, Russland als Partner zu haben. Wer diese Chance vertut, riskiert, dass Europa im Machtkampf künftiger Großmächte zerrieben wird.“ Das Urteil, vor ein paar Jahren gefällt, wirkt heute aktueller denn je.
Bildquelle: pixabay, EvgeniT, CC0 Creative Commons
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