Es gibt in der Eremitage in St. Petersburg ein großes Aquarell von Benjamin Paterssen, das den Newski Prospekt um das Jahr 1800 zeigt. Es ist ein prächtiges Bild mit dem Blick die Allee hinunter zur an der Newa gelegenen Admiralität. Eine blaue Kutsche, gezogen von sechs Schimmeln, fährt am Gostiny Dvor vor, der großen Einkaufshalle, die 200 Jahre später elegante Geschäfte beherbergt. Ein Hund läuft über die breite Straße, weicht elegant gekleideten Reitern aus. Noch gibt es die riesige Kasaner Kathedrale von Andrei Voronikhin nicht, die in den 10 Jahren danach entstehen soll und bis heute eines der beeindruckendsten Gebäude in dieser noch jungen Stadt an der Baltischen See ist.
Die Metropole in dieser Zeit des sich entwickelnden russischen Neoklassizismus ist international. Sie ist ein Marine- und ein Handelszentrum, sie ist der Sitz der Zaren und Zarinnen. Sie zieht europäische Militärs, Edels- und Handelsleute an, bevorzugt aus Italien, Frankreich, den Niederlanden und vor allem aus den deutschen Gebieten. Die Französische Revolution spielt keine große Rolle, die Invasion Napoleons ist noch Jahre entfernt. Knapp 100 später – Zar Nikolaus II. regiert nicht sehr erfolgreich – ist St. Petersburg 200 Jahre alt, 1,3 Millionen Menschen leben in ihr. Der erste Weltkrieg ist weit entfernt, die Revolution und die Vernichtung des Zarentums sind es auch.
Etwa 45 000 Deutsche wohnen hier, wundern tut das niemanden. Sie gehören zur Stadt seit Peter dem Großen. Der Zar vermählte seine Nichten mit deutschen Adeligen. Die Deutschen besiedelten die Wassiliewski – Insel, arbeiteten auf den Werften, gründeten Handwerksbetriebe, Brauereien. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind ein Drittel der Geschäfte,Salons, Kaufhäuser entlang des Newski Prospekt deutsch. Es gibt zwei deutsche Zeitungen, Gesellschaften, Vereine. Die Spuren sind noch immer zu besichtigen, trotz der Verheerungen in Leningrad, die durch die Belagerung und den Beschuß, die Bombardierungen durch die Wehrmacht, durch die Hungerepidemie zwischen 1941 und 1944 entstanden.
„Die Nazi – Aggression traf meine Familie mit aller Wucht und in voller Grausamkeit,“ erinnert sch Valentin Falin. „Meine Großmutter und meines Vaters Schwester mit fünf Kindern fielen ihr zum Opfer, auch drei von fünf Kindern meiner anderen Schwester, ihre Ehemänner, nahe und entfernte Verwandte mütterlicherseits, die in Leningrad und Umgebung wohnten. Zählt man die Angehörigen meiner Frau hinzu, ergibt sich, daß von den 27 Millionen sowietischen Bürgern, die der Hitler – Invasion zum Opfer fielen, 27 Menschen mir mir verwandt und verschwägert waren.“ Es gibt aus dieser Zeit ein schwarz – weiß Foto, das zeigt das „Haus Singer“ am Newsji Prospekt gar nicht weit vom Gostiny Dvor, dem heute selbst für Petersburger Verhältnisse teuren Einkaufszentrum. Das „Singer“, schräg gegenüber der Kasaner Kathedrale ist ein Eckhaus im Jugendstil und trägt auf der turmartigen Dachspitze eine Weltkugel, die weit über den Prospekt ragt. Im Erdgeschoß und im ersten Stock ist ein großer Buchladen und ein Cafe. Das ist immer gut besucht. Einen Platz an einem der Tische am Fester zu kriegen, ist schwer. Hat man ihn ergattert, gibt man ihn nicht wieder auf und schaut über den „Newski“ auf die Kasaner Kathedrale mit dem überdimensionalen Kutusowski – Denkmal in Erinnerung an dessen Triumph über Napoleon an der Beresina. Jewgeni, (der Name ist von der Redaktion geändert) er lebt auf der Wassilewski – Insel, sitzt manchmal mit Freunden aus dem Ausland hier, hört ihnen zu, blickt sich scheu um. Man könnte ihm zuhören. „Und wer?“ Er zuckt mit den Schultern. Die Stadt sei international, offen sei sie nicht. Die Fassaden der Stadt seien prächtig, in den Kulissen sei es gefährlich. Ein leichtes Schmunzeln. „Wir haben gelernt, viel auszuhalten.“
Dazu gehört auch die seiner Meinung nach zunehmende Entfernung zu Europa, auch zu Deutschland. Das empfinden nicht nur die Gesprächspartner in St. Petersburg so. Ähnlich ist es auch in Kaliningrad oder in Odessa. Sie wären auch weniger vorsichtig, weniger zurückhaltend. Alle drei Städte sind unterschiedlich lebendig, mit unterschiedlicher Geschichte, unterschiedlichen Kulturen und sehr verschiedenen Verbindungen, Beziehungen zu Deutschland. Doch hängt eine merkwürdige, ängstliche Schweigsamkeit über ihnen. Gemeinsam ist ihnen, daß sie sich vom westlichen Europa weniger beachtet fühlen. Zurück gedrängt, hinter Grenzen, die mehr und mehr den Charakter von Demarkationslinien haben, wie es der litauische Schriftsteller Tomas Venclova vor kurzem formulierte. Jewgeni in St. Petersburg meinte, der Westen schaue nur nach Moskau: „Das reicht nicht.“ Innenpolitisch sei die Lage nicht gut: „Wenn wir beide durch die Stadt laufen würden mit einem Plakat, auf dem steht : St. Petersburg ist wunderbar, würden wir verhaftet. Es dürfen in der Stadt keine Plakate gezeigt werden.“ Das sei doch ein Witz!? – Nein, sei es nicht. So sei die Situation.
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