Wahlen sind das Fundament der Demokratie, und wenn im nächsten Jahr in den Städten und Gemeinden von Nordrhein-Westfalen die Bürgermeister und Landräte gewählt werden, droht dieses Fundament zu erschüttern. Der Grund: Die CDU-FDP-Mehrheit im Landtag hat die Stichwahl zu den Kommunalwahlen wieder abgeschafft. Das hat zur Folge, dass Kandidaten gegen den Willen der Mehrheit ins Amt gelangen können.
Ein Unding, eine absolute Ausnahme in den deutschen Flächenländern und ein Vorgang, der auf parteitaktische Motive schließen lässt. Den Wahlämtern in den Kommunen droht für die Wahlen im Herbst 2020 womöglich eine juristische Hängepartie. SPD und Grüne haben Verfassungsklage angekündigt.
Thomas Geisel ist Oberbürgermeister von Düsseldorf. Der Sozialdemokrat gewann 2014 die Stichwahl gegen Dirk Elbers von der CDU. Das wurmte die Christdemokraten, denn im ersten Wahlgang hatte ihr Mann vorn gelegen. So etwas soll nun also nicht mehr vorkommen. Die Stichwahl wird gestrichen. Nach dem Willen der schwarz-gelben Regierungskoalition soll die einfache Mehrheit entscheiden. Je nach Anzahl der Kandidaten genügen dann weniger als ein Drittel der Stimmen, um ins Bürgermeisteramt gewählt zu werden, auch wenn zwei Drittel der Wähler ihre Stimme anderen Bewerbern gegeben haben.
So war es zum Beispiel 2009 in Monheim. Damals, im Jahr 2007, hatte die schwarz-gelbe Koalition im Düsseldorfer Landtag die Stichwahlen zu den Wahlen von Bürgermeistern und Landräten schon einmal abgeschafft, und dem damals erst 27 Jahre alten Daniel Zimmermann genügten gerade 30,35 Prozent der Stimmen, um als Kandidat der Jugendpartei PETO ins Rathaus einzuziehen. Bei der nächsten Kommunalwahl dann, zu der Rot-Grün die Stichwahl wieder ins Gesetz geschrieben hatte, brauchte Zimmermann sie gar nicht zu bestehen. CDU und SPD unterstützten ihn und verzichteten darauf, eigene Kandidaten aufzustellen.
Vor allem mit der drastischen Senkung der Gewerbesteuersätze hatte sich der politische Neuling in Monheim beliebt gemacht. Die Steuereinnahmen sprudelten, weil viele Unternehmen ihren Sitz in die Mittelstadt mit den billigen Hebesätzen verlegten. Die Kommunen freilich, aus denen die Firmen abwanderten, hatten das Nachsehen und haben es bis heute. Doch das ist eine andere unappetitliche Geschichte.
2011 hatte also eine große Mehrheit im NRW-Landtag für die Wiedereinführung der Stichwahl gestimmt. Nur die CDU stimmte dagegen; die FDP, die 2007 noch an der Abschaffung mitgewirkt hatte, unterstützte die rot-grüne Initiative, die den Gewählten mehr demokratische Legitimation sichern sollte. Wieder in der Regierung, haben es sich die Liberalen nun erneut anders überlegt und damit einigen Unmut an der eigenen Basis ausgelöst. Das Demokratiefeindliche an dem Vorgang empört viele von ihnen ebenso wie SPD und Grüne, die Verfassungsklage angekündigt haben.
Legt man die Meinung von Rechts- und Politikwissenschaftlern als Maßstab an, sollte der Verfassungsgerichtshof in Münster der Klage stattgeben. In der Anhörung des Landtags haben sich die Experten ganz überwiegend gegen die Abschaffung der Stichwahl ausgesprochen. Der Jurist Professor Dr. Martin Morlok beispielsweise stellte „ein erhebliches Demokratieproblem“ fest, und führte aus: „Der Verzicht auf eine Stichwahl stellte im Wortsinne eine Perversion der Mehrheitsentscheidung dar, nämlich eine Verdrehung der Ratio der Mehrheitsentscheidung zugunsten einer Minderheitsentscheidung.“
Bei Verfehlen einer absoluten Mehrheit sei die Durchführung einer Stichwahl ein „Gebot des Demokratieprinzips“, erläuterte Morlok. Der Hinweis auf die oftmals niedrigere Wahlbeteiligung bei Stichwahlen sei nicht stichhaltig: „Die Nichtteilnahme an einer Wahl kann ebenso wenig wie die Stimmenthaltung gegen den förmlich geäußerten Willen der Bürger ins Feld geführt werden.“ Der Rechtswissenschaftler sieht die Chancengleichheit der Parteien beeinträchtigt, da größere Parteien begünstigt und kleinere benachteiligt würden, letztlich werde der Wählerwille verfälscht, so dass die Abschaffung der Stichwahl „stärksten verfassungsrechtlichen Bedenken“ begegne.
Nun hatte zwar das höchste Gericht des Landes NRW im Jahr 2009 den Verzicht auf die Stichwahl bewilligt, doch hat sich seither die Parteienlandschaft weiter verändert. Zunehmend treten kleinere Parteien auf die kommunalpolitische Bühne, und genau diese Entwicklung hatte der Verfassungsgerichtshof im Blick, als er dem Gesetzgeber vor zehn Jahren eine permanente Prüfung der Legitimationsfrage auftrug. Der damalige Präsident des Gerichts, Michael Bertrams, äußert aktuell die Auffassung, dass die schwarz-gelbe Koalition heute diesem Hinweis zuwider handelt.
Diesen Standpunkt vertritt auch die Initiative „Mehr Demokratie“, die sich seit langem für eine Reform des Kommunalwahlrechts starkmacht, die den Wählern etwa durch das Kumulieren und Panaschieren mehr Einfluss einräumt. In der aktuellen Auseinandersetzung sagt „Mehr Demokratie“, „die Antwort auf eine sinkende Wahlbeteiligung kann doch nicht die Abschaffung von Wahlen sein“, und schlägt die Zustimmungswahl als Alternative zur Stichwahl vor: „Bei der Zustimmungswahl haben die Wähler die Möglichkeit, beliebig vielen Kandidaten jeweils eine Stimme zu geben. Die Bürger können damit alle Bewerber wählen, die ihnen neben ihrem Favoriten ebenfalls akzeptabel erscheinen. Gewählt ist der Kandidat mit den meisten Stimmen.“ Schon im ersten Wahlgang entscheidet der Wähler also, wem er im Falle einer Stichwahl seine Stimme geben würde.
Im Schatten der Stichwahl-Abschaffung haben CDU und FDP eine weitere zweifelhafte Reform ausgeheckt, die mit den demokratischen Prinzipien bricht. Die kommunalen Wahlkreise sollen sich nicht mehr an der Einwohnerzahl, sondern allein an der Zahl der Wahlberechtigten orientieren, das sind bei Kommunalwahlen Deutsche und EU-Bürger, nicht aber beispielsweise Türken.
Die „Sozialdemokratische Gemeinschaft für Kommunalpolitik“ (SGK) in NRW lehnt das rundweg ab: „Eine solche Änderung führt in der Praxis dazu, dass insbesondere die Wahlbezirke, in denen ein erhöhter Anteil an nicht-Deutschen und nicht EU-Bürgern ihren Wohnsitz haben, unnötig vergrößert werden.“ Das seien „gerade die Wahlbezirke, in denen die Menschen aufgrund der derzeitigen Gesetzeslage ohnehin von der Kommunalwahl ausgeschlossen sind“.
Diese Menschen würden „noch weiter von der Gesellschaft entfremdet, indem ihnen die Möglichkeit, mit ihrem Ratskandidaten Kontakt aufzunehmen durch den deutlich höheren Betreuungsaufwand der Kandidatinnen und Kandidaten erschwert wird“, sagt die SGK und betont: „Gerade diese Wahlbezirke bedürfen aufgrund ihrer sozialen Struktur einer erhöhten Aufmerksamkeit durch die Ratskandidatinnen und -kandidaten.“ Insbesondere die Kommunalpolitik lebe davon, dass jeder Einwohner seine Kandidatin oder seinen Kandidaten unmittelbar ansprechen könne.
Grundsätzlich gilt, dass ein gewählter Ratsvertreter der Ansprechpartner für alle Menschen ist, die in seinem Wahlkreis leben. Je mehr Menschen beim Zuschnitt eines Wahlkreises herausgerechnet werden, desto größer die Ungerechtigkeit, und zwar für die Wahlberechtigten und die nicht Wahlberechtigten gleichermaßen. Letztlich leistet die Reform einer Haltung Vorschub, die nur auf Wählerstimmen aus ist. Für das Miteinander in den Städten und Gemeinden wäre das eine fatale Entwicklung.
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