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Home Politik

„Vorwärts und nicht vergessen…“. Einige ungeordnete Anmerkungen zum Zustand der SPD

Joke Frerichs Von Joke Frerichs
5. September 2019
SPD Wahlergebnisse 1949-2017

 

Um es gleich vorweg zu sagen: Ich bin kein SPD-Mitglied mehr. Ich bin schon bei Bildung der ersten Großen Koalition aus Protest aus der Partei ausgetreten. Ich konnte nicht verstehen, dass der Widerstandskämpfer Willy Brand mit dem Ex-Nazi Kiesinger eine Koalition eingegangen war. Gleichwohl habe ich 40 Jahre lang die SPD gewählt. Bis 2005. Die neoliberale Wende der SPD (Agenda 2010; Schröder/Blair-Papier) habe ich nicht mehr mitgemacht. Ich kann also keine Innenansicht der SPD bieten und schon gar nicht mit Insiderwissen aufwarten, sondern befinde mich in der Rolle des interessierten und manchmal auch staunenden Beobachters.

„Vorwärts und nicht vergessen, worin unsere Stärke besteht“, heißt es im Solidaritätssong von Bertolt Brecht. Beim gegenwärtigen Zustand, in dem die SPD sich befindet, hat man den Eindruck, dass viele ihrer Führungsfiguren vergessen haben, woher sie kommen und deshalb auch nicht wissen, wie es mit der Partei weitergehen soll. Wenn man sie reden hört, kann man nicht glauben, dass sie wissen, wo den einfachen Leuten der Schuh drückt. Sie scheinen in einer Kunstwelt zu leben, wo sich jeder wichtiger nimmt, als er tatsächlich ist.

Die Partei leistet sich z.Zt. eine monatelange Personaldebatte; offenbar eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen in den letzten Jahren. Auf der Strecke bleiben dabei meist inhaltliche Klärungen. Das jetzige Verfahren ist eine Art Gegenkonzept zur bisherigen Hinterzimmerpolitik; immerhin ein gut gemeinter Versuch, die Parteibasis an der Entscheidung zu beteiligen. Es ist auch ein Versuch, wieder mehr Aufmerksamkeit zu erlangen. Es wird jedoch darauf ankommen, ob dabei deutlich wird, für welche inhaltlichen Positionen die jeweiligen Kandidaten stehen. Einigen fehlt es bisher an einem „Alleinstellungsmerkmal“. Das kann sich ja im Laufe des Verfahrens noch ändern. Allerdings lässt das Format der Regionalkonferenzen befürchten, dass dies auch nach den Vorstellungsrunden kaum der Fall sein wird.

Nur bei einem weiß man, wofür er steht: bei Olaf Scholz. Er steht für ein Weiter so in der GroKo und garantiert damit den schleichenden, aber sicheren Niedergang der ehemaligen Volkspartei. Zur Erinnerung: Scholz war als Generalsekretär der SPD mitverantwortlich für die Agenda 2010, mit der die Partei ihren beispiellosen Absturz einleitete. Seither verlor sie  Millionen von Wählern (ich bin einer davon) und Hunderttausende an Mitgliedern. Mit ihrem Einschwenken auf den neoliberalen Mainstream begann der Abbau des Sozialstaats (z.B. die Abkehr von der solidarischen, gesetzlichen Rente); die Privatisierung von Bahn und Post und die rigide Sparpolitik mit verheerenden Folgen für die Infrastruktur (Bildung; Verkehr; innere Sicherheit; Gesundheit; Wohnungsbau usw.). Man könnte zahlreiche weitere Beispiele anführen. Das Schlimme daran ist: Diese Politik wurde der Bevölkerung als alternativlos dargestellt. Schröder kündigte bereits 2003 auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos an, den größten Niedriglohnsektor in Europa zu schaffen, mit der Folge, dass viele von ihrer Arbeit kaum noch leben können; von der damit programmierten Altersarmut ganz zu schweigen.  Und ein weiteres kommt hinzu: man weiß nicht mehr, wofür die SPD außen- und sicherheitspolitisch steht. Der jetzige Außenminister eiert herum und ist schnell dabei, wenn es um Sanktionen gegen Russland geht. Als Trump dagegen das Iran-Abkommen gekündigt hat, hat man von ihm kaum etwas gehört. Besorgt soll er gewesen sein.

Die Beispiele zeigen, dass die SPD ihren Niedergang weitgehend selbst zu verantworten hat. Ohne eine schonungslose Aufarbeitung und Korrektur der Agendapolitik wird sich die Partei kaum erholen. Die Partei, die sich einst als Sachwalter der sozial Schwächeren verstand, hat dafür gesorgt, dass aus Menschen, die einen Rechtsanspruch auf Arbeitslosengeld haben, Bittsteller wurden, denen man misstraut und bei geringsten Anlässen mit Sanktionen droht. (Originalton Schröder: Es gibt kein Recht auf Faulheit). Für viele Betroffene sind die mit Hartz IV verbundenen Prozeduren entwürdigend und diskriminierend. Ja man kann sagen, dass Hartz IV zu einem Synonym für Abgehängtsein geworden ist. (Ich habe in letzter Zeit des Öfteren mit Hartz-Empfängern gesprochen; vielleicht sollten die Politiker das auch einmal tun).

Unklar ist, wie die Partei verloren gegangenes Vertrauen wiedergewinnen will. In den letzten Jahren wurde nach jeder verlorenen Wahl eine Aufarbeitung der Ursachen und eine Neuorientierung angekündigt. Aber bei diesen Ankündigungen blieb es dann meist, weil ja  schon wieder Koalitionsverhandlungen anstanden. Besonders nach der letzten Bundestagswahl leistete die Partei sich einen Zickzackkurs, der für Außenstehende  kaum noch nachvollziehbar war. Wie sollte denn z.B. Andrea Nahles als Parteivorsitzende einen Neuanfang einleiten und gleichzeitig als Fraktionsvorsitzende die Politik der Regierung vertreten? Das Ganze war von vornherein eine grandiose Fehlkonstruktion.

Als Martin Schulz seinerzeit davon sprach, mehr Gerechtigkeit schaffen zu wollen, schnellten die Umfragewerte der SPD in die Höhe. Er „vergaß“ dann nur, zu liefern. Der Vorgang zeigt, dass das Potential für eine andere Politik durchaus da war. Aber das Beispiel zeigt auch: man darf historische Möglichkeiten nicht verstreichen lassen – sonst bestraft einen das Leben. Es gab jahrelang eine Mehrheit für Rot-Rot-Grün. Jetzt, wo es dafür zu spät ist, kokettiert man damit. Das ist ziemlich unglaubwürdig und zeigt nur den Grad an Verzweiflung.

Zu befürchten ist, dass Olaf Scholz mit Unterstützung einiger Medien neuer Vorsitzender der SPD wird. Angeblich ist er ja ein „politisches Schwergewicht“. Nur Akzente gesetzt hat er bisher nicht – außer der Verteidigung der „Schwarzen Null“. Dabei wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, Investitionen zugunsten der Infrastruktur zu tätigen. Das wäre auch eine nachvollziehbare Politik für künftige Generationen.

Aber zu befürchten ist: mit Scholz wird alles so weitergehen wie bisher. Einige der Kandidaten für den Vorsitz haben angekündigt, aus der GroKo austreten zu wollen. Damit aber steht die Partei vor dem nächsten, selbst verschuldeten Dilemma: wenn sie austritt, würde das vom Wähler wohl kaum honoriert werden, weil es zu sehr nach einem taktischen Manöver aussehen würde (s. Lindner-Effekt). Es sei denn, es gäbe gravierende Gründe dafür, die sich auch kommunizieren lassen.

Stichwort Kommunikation: Der Partei fehlt es seit langem an einer produktiven Diskussions- und Streitkultur. Die Kommunikation verläuft zu sehr von oben nach unten. Und der Umgang miteinander lässt erheblich zu wünschen übrig. Beispiel: Als vor kurzem ein junger Parteigenosse einmal über den Tellerrand des Alltagsgeschäfts hinaus dachte, stellte einer der  älteren Parteigranden vom rechte Flügel im öffentlichen Fernsehen die rhetorische Frage, was der denn wohl geraucht haben mag. Das ist nicht weiterführend, sondern einfach nur zynisch. Eine inhaltliche Auseinandersetzung sieht anders aus. Bleibt zu hoffen, dass die laufenden Regionalkonferenzen einen Schub in Richtung innerparteilicher Demokratie bringen.

Es hilft alles nichts: konkrete politische Konzepte, die zu mehr sozialer Gerechtigkeit führen, müssen entwickelt werden. Möglichst sollten sie nicht als bürokratische Monster  daherkommen, sondern als praktische, nachvollziehbare, jedem verständliche politische Maßnahmen (z.B. Einführung einer Vermögenssteuer; Schließung von Steuerschlupflöchern; eine alterssichere Grundrente usw.). Nur so kann die Partei wieder in die Offensive kommen. Und es braucht Personen, die diese Politik glaubhaft vertreten können.  

Bildquelle: Von Frakturfreund in der Wikipedia auf Deutsch – Von Frakturfreund am 2. Oktober 2009 in die deutschsprachige Wikipedia geladen. Von ihm selbst mit Gnuplot neu erstellt (im SVG green durch darkred ersetzt), Copyrighted free use,

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Tags: #SPDERNEUERNGeschichte der SPDGroKoGroße Koalition 1966Soziale GerechtigkeitSPDSPD-Vorsitz
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