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Wie ein Bogenschütze niedergehalten wird. Anschauung aus Israels 10-Tage-Krieg gegen den Iran

Jochen Luhmann Von Jochen Luhmann
1. November 2025
Mesopotamische Bogenschützen, Steintafel aus dem Britischen Museum

1.     Differenz zwischen militärtechnologischen Entscheidungen der NATO und ihren Narrativen

Das Zeitalter der Digitalisierung hat militärtechnologisch zu erheblichen Neuerungen geführt. In den leitenden Narrativen wird das nicht immer mitvollzogen, aus Gründen, die recht gut nachvollziehbar sind. (Militärische) Sicherheitspolitik ist Politik nach außen; die Narrative sind zentraler Teil der Absicherung des sicherheitspolitisch eingeschlagenen Wegs nach innen.

Die Technologie der Raketen wurde während des Zweiten Weltkriegs entwickelt. Der Durchbruch in der Entwicklung ihrer Steuerbarkeit und Zielgenauigkeit erfolgte erst mit der Entwicklung der Halbleiter und sensorischer Systeme auf Basis der Quantenphysik. Selbststeuernde Systeme, also Waffenautomaten zu Luft, zu Land und zur See (auch unter Wasser), stehen für die jüngste Stufe dieser Entwicklung. Dabei stehen Waffensysteme und Beobachtungssysteme in Wechselwirkung.

Mit diesen neuen Technologien wurde Zweierlei erreicht: Es kann sowohl verbessert angegriffen als auch verbessert verteidigt werden. Doch bedauerlicherweise hat sich auch ergeben, dass verbesserte Verteidigung (Abwehr) bislang deutlich teurer ist als effektiverer Angriff. Schutz erfordert High-Tech, Angriff hingegen ist, im Extrem, mit Garagentechnik leistbar.

Für die Narrativ-Entwickler der NATO ist das ein Dilemma. Auch wenn Israel gezeigt hat, dass Raketenabwehr erfolgreich möglich ist – allerdings unter den speziellen Bedingungen eines hochtechnologischen Staates auf kleinem Gebiet und einem Gegner, der technologisch und in den Ressourcen weit unterlegen ist (Hamas und Hisbollah). Die erhebliche finanzielle Unterstützung seitens der USA hat ihren Teil zur Ermöglichung beigetragen.

Das leitende Narrativ bedient sich eines Bildes, welches einer anschaulichen, Jahrtausende alten Waffentechnik entstammt: Schutz durch die Abwehr von „Pfeilen“ sei mit digitaler Hochwerttechnik möglich, „Iron Dome“ ist einer der geläufigen Ausdrücke dafür. Der „Drohnenwall“, den Frau von der Leyen gegenwärtig angeblich auf Anforderung bzw. Bedarfsbestimmung seitens der NATO im Gleichklang mit deren Generalsekretär Rutte verspricht, folgt demselben rhetorischen Strickmuster.

Die offizielle Vorgehensweise der NATO in Europa ist in zwei Domänen zu unterteilen. Da ist das Handwerklich-Militärische einerseits und die Narrativ-Erfindung, die Strategie für die Kommunikation hin zur eigenen Bevölkerung, zur Herrschaft über deren Bewusstsein, andererseits.

Im militärischen Bereich ist man sich allseits einig: Spezifisch, pro Abwehr eines „Pfeils“ (Billigrakete, Drohne), ist die Abwehr mit kinetischen Mitteln pro Stück mehrfach teurer als der Angriff. Bei Drohnen, anders als bei Raketen, ist es nicht ganz so schlimm, da gibt es immerhin die Hoffnung, dass das noch gedreht werden könnte. Man setzt auf die Entwicklung einer sehr kostengünstigen Abwehr-Technologie, d.i. mit Beeinflussung der Steuerung gegnerischer Drohnen qua Einsatz elektromagnetischer Mittel. Generell aber gilt der Konsens: Eine flächendeckende Abwehroption gegen diese Art von Bedrohung könne eine westliche Gesellschaft sich ökonomisch nicht leisten. Wirklicher Schutz, die pure technische Verteidigungsoption, sei zu teuer. Deswegen brauche es eine Alternative.

Der wurde in der Narrativ-Domäne der doppelbödige Name „Verteidigung durch Abschreckung“ angeheftet. Um eine Verteidigung im Wortsinne handelt es sich dabei nicht mehr. Die Idee ist vielmehr, im leitenden Narrativ formuliert: Man will den gegnerischen Bogenschützen auf seinem Territorium ausschalten können, ihm das androhen, bevor der die vielen Pfeile in seinem Köcher abzuschießen vermag. Das erfordert einen sog. „prä-emptiven“ Schlag gegen ihn. Das aber wäre völkerrechtswidrig. Um das doch zu dürfen, muss man die Angriffsintention des gegnerischen Bogenschützen rechtzeitig erkennen und dann vorsorglich („präventiv“) seinerseits „angreifen“; d.h. ihn samt seinen vielen Kollegen „ausschalten“. Das wäre völkerrechtskonform. Mit dem Genehmigungsvorbehalt für den „Verteidigungsfall“ gemäß Artikel 115a Grundgesetzes (Beschluss des Bundestages mit Zweidrittelmehrheit, Zustimmung des Bundesrates) kommt man dann natürlich in Konflikt. Ist dies zeitlich nicht möglich (Gefahr im Verzug), ist die Parlamentsbeteiligung unverzüglich nachzuholen. Absatz (4) gestattet explizit eine präventive Vorgehensweise. Er lautet:

„Wird das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen und sind die zuständigen Bundesorgane außerstande, sofort die Feststellung nach Absatz 1 Satz 1 zu treffen, so gilt diese Feststellung als getroffen und als zu dem Zeitpunkt verkündet, in dem der Angriff begonnen hat.“

Die Formulierung „in dem der Angriff begonnen hat“ hat man mit Abs. (1) zu lesen als „ein … Angriff unmittelbar droht“. D.h. in dem Augenblick, da dies „erkannt“ worden ist, greift Abs. 4.

Dieses angebliche „Sicherheitskonzept“ hebelt mindestens das Angriffskriegsverbot nach Art. 51 UN-Charta systematisch aus, das ist offensichtlich. Ob es tatsächlich wie versprochen Sicherheit bringt, steht in den Sternen – erfolgreich kann schließlich vermutlich nur derjenige sein, der zuerst zu schießen sich entscheidet. Es handelt sich um ein militärisches Konzept, welches eine höchst labile Situation hervorruft. Es ist ein Vabanque-Spiel. Mit ihr „Sicherheit“ zu versprechen, verbietet sich eigentlich. Die NATO-Planer räumen denn auch ein: So werde das höchstmögliche Niveau von Sicherheit erzeugt.

Vor diesem Hintergrund ist es aufschlussreich, im Detail zu erfahren, wie Israel es in seinem 10-Tage-Krieg gegen den Iran in der Realität vermocht hat, dieses aggressive bzw. prä-emptive Verteidigungskonzept mit verblüffendem Erfolg umzusetzen. Es steht im Raume zu schließen, dass die NATO-Planer sich von diesem Vorbild abschauen, was ihnen übertragbar erscheint.

2.     Wie Israel die Bogenschützen im Iran weitgehend ausschaltete

Eine Besonderheit in der Konfliktsituation zwischen Israel und dem Iran ist der auf rund 1.000 km bemessene Abstand zwischen beiden Konfliktparteien. Das ist in der für uns relevanten Situation zwischen NATO-Staaten und Russland nicht der Fall. Im Zentrum steht hier der „Suwalki-Korridor“, jene enge Schlüsselpassage, die, eingeklemmt zwischen der russischen Exklave Kaliningrad und Belarus, Polen mit den baltischen Staaten auf dem Landweg verbindet. Durch diese „hohle Gasse“ werden große Mengen an NATO-Militär und Militärgütern im Ernstfall ihren Weg nehmen können müssen, um den baltischen Staaten zu Hilfe zu eilen. Eine Distanz von 1.000 km, die die NATO-Staaten von Russland trennt, existiert hier nicht.

Zu den Zielen Israels bei der Vorbereitung eines Krieges dieses Typs, mit dem korrekten Bild Operation „Rising Lion“ betitelt, gehörte Zweierlei:

  1. Von dem Arsenal an zielgenauen Langstrecken-Raketen des Iran präventiv möglichst viele außer Gefecht zu setzen – wenn auch der Retorsionsschlag des Iran am 14. Juni 2025 zeigte, dass die gemeinsame Raketen-Abwehr-Kapazität Israels und der USA in der Region hinreichte, um Israel vor diesen „Pfeilen“ aus dem Iran weitgehenden Schutz zu bieten.
  2. Die Flugabwehr des Iran, also dessen Fähigkeit, Kurzstrecken-„Pfeile“ gegen angreifende Militärjets einzusetzen, weitgehend auszuschalten. Motiv dafür war das Ziel der Israelischen Streitkräfte (IDF), für die eigenen raketenbestückten Kampfjets eine unbeschränkte Einsetzbarkeit zu gewährleisten. Mit deren „Pfeil“-Fähigkeiten sollten dann, bei regional ungeschütztem Luftraum, die zentralen Kriegsführungsfähigkeiten des Iran zerstört werden.

Dieser Plan Israels ist in erstaunlich hohem Maße aufgegangen, wenn auch natürlich nicht zu 100 %.[1]

Weit vor Beginn der Operation der IDF am 13. Juni 2025 um 3:00 h in der Nacht waren Hunderte von Mossad-Agenten im Iran stationiert worden. Zusammen mit Mitarbeitern in der Zentrale hatten sie etliche Monate zuvor damit begonnen, Spezialwaffen auf iranischem Territorium für den allfälligen Einsatz vorzubereiten. Das waren die sprichwörtlichen „schlafenden Löwen“, die am entscheidenden Tag „erwachen“ sollten.

Diese „erwachten“ Mossad-Agenten führten drei, verdeckt vorbereite, Operationen vom Territoriums des Iran aus durch.

  1. Mit einer Flotte von Drohnen, die in den Iran geschmuggelt worden waren, zerstörten sie in den frühen Morgenstunden des 13. Juni, kurz vor Beginn der israelischen Luftangriffe, Abschussbasen von Boden-Boden-Raketen mit strategischer Reichweite auf der Esfajabad-Basis in der Nähe von Teheran, also in NATO-Sprache „Long Range Fire“-Bestände. So wurde verhindert, dass zumindest diese gegen strategische Ziele in Israel zum Einsatz gebracht werden konnten. Dieser Teil der Langwaffen-Bogenschützen im Iran wurde präzise getroffen, aber nicht mit eigenen Langwaffen-Bogenschützen sondern mit einer Überraschungsoption auf kurze Distanz vom eigenen Territorium aus. Und sie wurden nicht vollständig außer Gefecht gesetzt, vielmehr starteten die Streitkräfte des Iran mehr als 500 solcher Raketen und etwa 1.100 Drohnen gen Israel. Dieser Angriff führte zu 31 Todesopfern und zu mehr als 3.000 Verwundeten in Israel. Insgesamt kam es zu 36 Raketentreffern (und nur einem Drohnentreffer) in besiedelten Gebieten. Die extrem unterschiedliche Trefferhäufigkeit zwischen Raketen und Drohnen ist die eigentliche Botschaft.
  2. Der israelische Auslandsgeheimdienst hatte außerdem Angriffsdrohnen im Iran zur Verfügung, die auf Fahrzeugen installiert waren. Diese wurden an diesem Morgen in Stellung gebracht, die Drohnen zerstörten eine Reihe iranischer Flugabwehrsysteme, vornehmlich im westlichen Teil des Iran.
  3. Schließlich positionierte der Mossad, ebenfalls im westlichen Teil, präzisionsgelenkte Raketensysteme in Reichweite diverser iranischer Boden-Luft-Raketen-Batterien, also der Flugabwehr. Als die israelische Kampagne begann, wurden diese Systeme ferngesteuert aktiviert, um die iranischen Abwehr-Raketen nach Abschuss, also im Flug, zu zerstören und so diese Bedrohung für israelische Kampfjets auszuschalten. Unbemannte Systeme wurden zum Schutz bemannter Systeme eingesetzt.

Diese drei Operationen ebneten zunächst fast 200 israelischen Kampfjets den Weg. Am ersten Tag warfen sie mehr als 330 Sprengkörper auf über 100 Ziele ab. Ziel dieser Angriffe waren auch hochrangige Militärs, Nuklearanlagen und sogar Wissenschaftler, die angeblich in das Nuklearprogramm des Iran involviert waren. Militärisch aber war das Schwerpunktziel, im Westen des Iran die Luftüberlegenheit zu erreichen. Das gelang.

Drei Tage später, bis zum 16. Juni 2025, waren mehr als 865 Ziele an 350 Orten im Iran angegriffen worden – Israel verfügte inzwischen über die Lufthoheit auch im zentralen Teil des Iran, mit Teheran. Zwei weitere Tage später, bis zum 18. Juni 2025, hatte Israel über 1.000 Ziele angegriffen.

3.     Résumée

Die Darstellung des israelischen Vorgehens zeigt eindrücklich, dass die Luftüberlegenheit nicht durch einen Schlag zu Beginn einer kriegerischen Auseinandersetzung zu erreichen ist – ein Präventionsschlag erreicht relative Vorteile, ist aber nicht schon entscheidend.

Umso verstörender ist die Tatsache, dass hohe Funktionsträger im Bundesministerium für Verteidigung „Präemptionsschlägen“ das Wort geredet haben.

 

[1]   Faktisch gehörte zu den von Israel verfolgten Zielen weit mehr. U.a. die Tötung von Ayatolla Chamenei sowie die Bevölkerung Teherans zur Flucht aus der Stadt zu veranlassen; beides in der Erwartung, so einen Regime Change in Teheran veranlassen zu können. Verteidigungsminister Katz wird aus einer Sitzung mit dem Satz zitiert:

„relocating the population is practical and symbolic. We should strike civilian national infrastructure that destabilizes the leader. ”( https://www.timesofisrael.com/a-historic-moment-leaked-transcripts-reveal-secret-deliberations-at-start-of-iran-war/)

 

Bildquelle: Pixabay

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