Zugegeben: ich lese ihn immer wieder gerne, den alten Märker mit seiner ruhigen Erzählweise und seinem Blick aufs Soziale. Die Sensibilität für soziale Ungleichheit in Zeiten der preußischen Monarchie Ende des 19. Jahrhunderts, in denen die Gesellschaft in Stände und Klassen tief gespalten und extrem hierarchisch strukturiert war, zeigt sich in beiden Prosastücken in der Zuspitzung auf das Geschlechterverhältnis. Ihr Thema sind sogenannte Mésalliancen, also standesübergreifende Liebesbeziehungen. Es war schlicht unstatthaft, ja undenkbar, als männlicher Abkömmling einer Adelsfamilie eine Frau aus dem Volke zu ehelichen; und es war den Angehörigen dieser niederen Stände und Klassen gleichermaßen klar, dass nicht sein durfte, was nicht sein konnte. Das Unglück war vorherzusehen. Was aber tun, wenn man sich verliebt? Anhand zweier ähnlich gelagerter Fälle von Cross-Class-Liebesbeziehungen schildert Fontane in diesen Erzählwerken die menschliche Tragödie des Scheitern, aber auch – bevor alles zu Bruch geht – ein Aufgebot an Emotionen und warmherziger Mitmenschlichkeit jenseits der Konventionen und herrschenden Moralvorstellungen.
Fontane sah den Roman Irrungen – Wirrungen und die Erzählung Stine in einem Komplementärverhältnis: ‚Stine‘ ist das richtige Pendant zu ‚Irrungen – Wirrungen‘, stellenweise weniger gut, stellenweise besser. Es ist nicht ein so breites, weite Kreise umfassendes Stadt- und Lebensbild wie ‚Irrungen – Wirrungen‘, aber an den entscheidenden Stellen energischer, wirkungsvoller.
Er schrieb die Stücke in Teilen parallel, den Roman beendete er 1887, die Erzählung zwei Jahre später.
Der Roman spielt in Berlin. Die junge Weißwäscherin Lene Nimpsch und Baron Botho von Rienäcker, der als Offizier im Militärdienst steht, bilden ein Liebespaar. Ihre Beziehung (man weiß nicht, wie sie entstanden ist, die Geschichte setzt mit ihr ein) ist voller Zärtlichkeit und tief empfundener Zuneigung. Botho besucht Lene und ihre alte Mutter in ihrer bescheidenen Behausung unter dem Dach der resoluten Nachbarin Frau Dörr gerne, weil er ein Herz für die einfachen Leute hat. Hier, unter diesen, geht es direkt und unverkrampft zu. Man spricht, wie einem der Schnabel gewachsen ist und hat nichts zu verbergen. Und er erkennt gerade in seiner Geliebten die Herzensbildung und ureigene menschliche Klugheit, die er vor jeder formalen Bildung zu schätzen weiß.
Fontane gibt den einfachen Leuten ihre eigenen Sprache, d.h. sie sprechen in ihrem Dialekt (die märkische Mundart). Dieses Stilmittel einzusetzen (er tut dies auch in der Stine im Berliner Dialekt), war in der zeitgenössischen Literatur noch die Ausnahme und eher verpönt, wirkt jedoch umso lebensnäher und echter, als wenn er ihnen eine hochdeutsche Ausdrucksform oktroyierte, die dagegen eher steif wirkt.
Bei aller Gefühlstiefe bleibt ein Fremdheitsempfinden auf Seiten Lenes, sobald Botho von seinen Offizierskameraden und seinem sozialen Umfeld spricht; sie weiß, dass er in einer anderen Welt lebt, in der er gesellschaftliche Konventionen zu berücksichtigen und standesgemäße Verpflichtungen zu erfüllen hat – er ist nicht frei in seinen Entscheidungen, und er verkehrt in sozialen Kreisen, die ihr verschlossen sind. Und so spürt sie, dass diese Liebe absehbar ein Ende haben wird.
‚Nein, nein. Es war niemand schuld; dabei bleibt es, daran ist nichts zu ändern. Aber daß es so ist, das ist eben das Schlimme daran. Wenn wer schuld hat, dann bittet man um Verzeihung, und dann ist es wieder gut. Aber das nutzt uns nichts. Und es ist auch nichts zu verzeihen.‘
‚Lene …‘
‚Du mußt noch einen Augenblick hören. Ach, mein einziger Botho, du willst es mir verbergen, aber es geht zu Ende. Und rasch, ich weiß es.‘
‚Wie sprichst du nur?‘
‚Ich hab es freilich nur geträumt,‘ fuhr Lene fort. ‚Aber warum hab ich es geträumt? Weil es mir den ganzen Tag vor der Seele steht. Mein Traum war nur, was mir mein Herz eingab … Daß ich diesen Sommer leben konnte, war mir ein Glück und bleibt mir ein Glück, auch wenn ich von heut ab unglücklich werde.‘
‚Lene, Lene, sprich nicht so …‘
‚Du fühlst selbst, daß ich recht habe; dein gutes Herz sträubt sich nur, es zuzugestehen, und will es nicht wahrhaben. Aber ich weiß es: gestern, als wir über die Wiese gingen und plauderten und ich dir den Strauß pflückte, das war unser letztes Glück und unsere letzte schöne Stunde.‘
Dieser Dialog verrät so manches: Lenes Klugheit, indem sie die Unmöglichkeit dieser Liebesbeziehung nicht zu einer Schuldfrage erklärt, die individuell zurechenbar und damit entschuldbar wäre, sondern – wenn auch unbewusst – die Macht der gesellschaftlichen Verhältnisse und Normen dafür verantwortlich macht, die über das individuelle Wünschen und Wollen dominiert. Auch ahnt sie die Konfliktlage, in der sich Botho befindet und die ihn zur Verdrängung der von ihr ausgesprochenen realistischen Einsicht hinreißt.
Und was Lene als eine Gewissheit verspürt, gerade so, als hätte sie einen sozialen Instinkt, tritt auch wirklich ein: der junge Baron wird von seiner Mutter aufgefordert, eine standesgemäße Ehe zu schließen, damit die Familie aus ihren finanziellen Engpässen herauskommt. Botho muss sich von Lene trennen, heiratet seine Cousine, eine vermögende, junge Adlige; um über den Konflikt hinwegzukommen, trennt er Liebe und Gefühle vom Ehestand und sieht damit auch seine Vorstellungen von Ordnung erfüllt.
‚Arbeit und täglich Brot und Ordnung. Wenn unsere märkischen Leute sich verheiraten, so reden sie nicht von Leidenschaft und Liebe, sie sagen nur: ‚Ich muß doch meine Ordnung haben.‘ Und das ist ein schöner Zug im Leben unseres Volkes und nicht einmal prosaisch. Denn Ordnung ist viel und mitunter alles. Und nun frag ich mich: War mein Leben in der ‚Ordnung‘? Nein. Ordnung ist Ehe.‘
Bei aller Zuneigung zu Lene und aller Verbundenheit mit den einfachen Leuten – hier gewinnen die konventionellen Standesprägungen doch die Oberhand. Es klingt alles nach Rechtfertigung, wenn Botho sein eigenes Handeln in den Kontext der Normen des Volkes stellt: auch die einfachen Märker strebten nach Ordnung (in Form von Eheschließungen), statt sich ihren Gefühlen hinzugeben. Der Nutzen und die gesellschaftlichen Regeln stünden auch beim Volk über den Leidenschaften. So erscheinen seine Ordnungsliebe wie sein Bekenntnis zum einfachen Leben der kleinen Leute zwiespältig: sie haben einen legitimatorischen Charakter. Dass der junge Baron auch nach seiner Eheschließung mit Käthe Lene nicht gänzlich aus seinem Gefühlshaushalt verbannen kann bzw. dass er den Rest seiner Empfindungen infolge des Konformitätszwangs brutal unterdrücken muss, zeigt sich letztendlich im Akt der von ihm insgeheim verbrannten Liebesbriefe von der einst Geliebten.
Während der Roman Irrungen – Wirrungen als Gesellschaftsstück konzipiert ist, ist die Erzählung Stine wie ein Kammerspiel arrangiert. Drei Frauen, Stine und ihre Schwester Pauline wohnen zur Untermiete bei den überaus neugierigen und geizigen Polzins in einem Berliner Mietshaus und sind eng mit der Varietee-Künstlerin Wanda befreundet. Es kündigt sich hoher Besuch an, der nicht das erste Mal hier vorbeischaut: der alte Graf Haldern, sein Freund, ein alter Baron (sie nennen sich untereinander Sarastro und Papageno, was ihre Liebe zur Musik zu bekunden scheint) und der Neffe des alten Haldern Waldemar. Der junge Herr ist zum ersten Mal zu Gast in diesem Etablissement. Angesichts des angekündigten Besuchs gerät die gastgebende Pauline (wahrscheinlich die ehemalige Geliebte des alten Grafen) in Aufregung: Der Alte kommt, heißt es.
‚Jott, man hat doch keine ruhige Stunde.‘
‚Was ist denn?‘
‚Er kommt heute wieder.‘
‚Nu, Pauline, das is doch kein Unglück. Bedenke doch, daß er für alles sorgt. Und so gut, wie er ist, und gar nich so.‘
… von oben herab, möchte man ergänzen. Und da der Graf und sein Gefolge eine anständige Bewirtung zu erwarten scheinen, müssen in Windeseile alle Vorkehrungen getroffen werden: Wanda herbeizitieren, Essen und Trinken vom Feinsten besorgen usw.
So jovial sich der alte Graf auch gibt, gleich bei der Vorstellung zeigt sich das hierarchische soziale Gefälle unter den Beteiligten:
‚Darf ich die Herrschaften miteinander bekannt machen?‘, fragte jetzt Sarastro verbindlich mit anscheinend ernstester Miene. ‚Mein Neffe Waldemar (dieser verbeugte sich), Frau Pauline Pittelkow, geborenen Rehmann, Fräulein Ernestine Rehbei, Fräulein Wanda Grützmacher. Einer Vorstellung unseres Freundes Papageno bedarf es nicht; er genießt des Vorzuges, allen Anwesenden bekannt zu sein.‘
Hoch interessant dann Fontanes Kommentar:
In der Art, wie diese Vorstellung von den drei Damen aufgenommen wurde, zeigte sich durchaus die Verschiedenheit ihrer Charaktere: Wanda fand alles in Ordnung, Pauline brummte was von Unsinn und Afferei vor sich hin, und nur Stine, das Verletztende der Komödie herausfühlend, wurde rot.
Das Schauspiel, das sich über Abend und Nacht im Zimmer der schönen Pauline abspielt, zeigt: hier wird zwar fürstlich getafelt, hier wird Kleinkunst dargeboten, hier wird gelacht und getanzt, kurzum: ein vergnüglicher Abend verbracht, so wie die Herrschaften das gerne haben, und wofür der alte Graf auch bezahlt. Das bedeutet: Hier wird ein Stück aufgeführt, in dem es vorgezeichnete Rollen gibt, die ungleich verteilt sind. Der alte Graf tut so als ob … comme il faut … es Damen der Gesellschaft wären, dabei sind sie einfache Frauen aus dem Volk, mehr oder weniger erfahren, gerissen oder naiv: Stine arbeitet als Näherin, ihre Schwester Pauline ist verwitwet, hat zwei Kinder von verschiedenen Männern und schlägt sich mit Gelegenheitsarbeiten durch; nur die Varietee-Sängerin meint von sich, schon mal auf den Brettern der große Welt gestanden zu sein, wenn auch aus der Perspektive von unten. Es ist kein Hurenstück (wie der Autor selbst betont), wohl aber ein bezahltes Vergnügen, bei dem die Musikliebhaber und Genießer, die sogenannten Herrschaften, voll auf ihre Kosten kommen. Und es ist die in solchen Vergnügungen unerfahrene Stine, die diese Komödie, wenn nicht durchschaut, so doch das Verletzende, die Herablassung den Frauen gegenüber, empfindet.
Schon während dieser privaten Soiree üben sich zwei der Beteiligten in Zurückhaltung: Stine und Waldemar. Die junge Frau, voller Schüchternheit und Unerfahrenheit, wahrscheinlich aus anderen Motiven als der junge Graf, der von seinem Onkel immer wieder in seinem Verhalten zurechtgewiesen und damit bloßgestellt wird. Die Geschichte will es, dass es zu Annäherungen, Zärtlichkeiten, ja einer Liebesbeziehung zwischen ihnen kommt. Doch zunächst geht es um etwas anderes.
Waldemar geht auf Stine zu, indem er sie besucht. Die junge Frau, die den Grafen noch mit der Vergnügungsnacht verbindet, ist darauf bedacht, als anständiges Mädchen wahrgenommen zu werden, er solle sich nicht in ihr irren. Waldemar erklärt sein Motiv, mit Stine sprechen zu wollen damit, dass er ihre soziale Notlage erahnt und ihr aus ehrlichen Motiven helfen will. Er selbst bezeichnet sich als einen psychisch und körperlich kranken Menschen (infolge schwerster Verwundungen im Krieg sowie einer überaus strengen Erziehung), der in seinem jungen Leben bisher nur Leid und Elend gesehen und so etwas wie Glück noch nicht erfahren hat.
Die Unterredung hat sodann einen zutiefst sozialen Sinn. Es geht darum, wie leicht Frauen in Verruf geraten, die einer niederen sozialen Klasse angehören und sich mit Männern aus höheren Kreisen abgeben, wie zum Beispiel Stines Schwester Pauline:
‚Ja, bei denen gibt es freilich Anstoß, und meine Schwester, wenn sie mit denen zusammentrifft, muß oft böse Worte hören. Aber so heftig sie sonst ist, so ruhig ist sie dabei. Sie hat nämlich einen sehr guten Verstand und ein großes Gerechtigkeitsgefühl, und wenn sie solche Worte hört, dann sagt sie: ‚Ja Stine, das ist nun mal nicht anders; wer sich in den Rauch hängt, der wird schwarz.‘
‚Nun gut. Aber einen je besseren Verstand Ihre Schwester hat, und je mehr sie zugibt, so wie sie lebt, das Urteil und Gerede der Leute herauszufordern, desto mehr muß sie doch leiden unter der Mißachtung, die sie trifft.‘
‚Es wäre vielleicht so‘, nahm Stine wieder das Wort, ‚wenn alle Menschen in einerlei Weise dächten. Aber das ist nicht der Fall. Die, die sie verurteilen (und die mitunter lieber schweigen sollten), das sind immer nur einzelne; die meisten plappern ihre Lehren und Vorwürfe nur so herunter und meinen es nicht bös und denken in ihren Herzen ganz anders darüber.‘
‚Wie das?‘
‚Ja, das ist schwer zu sagen, aber es ist so und kann auch kaum anders sein. Denn die, die Not leiden, wollen vor allem aus ihrer Not und ihrem Elend heraus und sinnen und simulieren bloß, wie das zu machen sei. Brav sein und sich rechtschaffen halten, das ist alles sehr gut und schön, aber doch eigentlich nur was Feines für die Vornehmen und Reichen, und wer arm ist und das Feine mitmachen will, über den ziehen sie bloß her (und die gestern noch die Strengsten waren, am meisten) und reden und spotten, daß man was Apartes sein wolle.
Es ist erstaunlich, mit welcher Klugheit Stine argumentiert beim Versuch, dem jungen Grafen die soziale Lage von ärmeren Frauen zu erklären, vor allem in moralischer Hinsicht, und woraus sich das böse Gerede der Leute – gerade auch unter ihresgleichen und im Spießbürgertum – speist.
Diese Unterhaltung, die sich in der Erzählung über mehrere Seiten erstreckt, muss den Grundstein für ein tieferes Verständnis und Verstehen zwischen Stine und Waldemar, ja für ihre Liebesbeziehung, gelegt haben.
Der junge Graf ist jedenfalls entschlossen, Stine zu heiraten. Da er genau weiß, dass die strengen Standesgrenzen und zumal die eigene Familie eine solche Eheschließung nicht zulassen, stellt er sich ein einfaches Leben in Amerika vor, einen Neuanfang auch seines eigenen Lebens ohne den Ballast der Herkunft und jenseits der rigiden gesellschaftlichen Normen. Seinen Vater in diese Absichten einzuweihen, getraut er sich nicht. Stattdessen will er seinen Onkel dafür gewinnen, eine Art Anwalt für ihn zu spielen. Waldemar eröffnet diesem, dass er sich vermählen möchte. Der Alte begrüßt dieses Vorhaben und möchte wissen, welche Dame er erwählt habe.
‚Es ist keine Dame.‘
Der alte Graf verfärbte sich. Unter einem halben Dutzend Möglichkeiten, die durch sein Hirn schossen, war auch eine … Nein, nein … Und er faßte sich wieder und sagte mit wiedergewonnener Ruhe: ‚Keine Dame. Was dann? Wer?‘
‚Stine.‘
Der alte Graf sprang auf, warf seinen Stuhl um einen Schritt zurück und sagte: ‚Stine! Bist du toll, Junge?‘
‚Nein, ich bin bei Sinnen. Und ich frage dich, ob du mich hören willst?‘
Eine einfache Frau wie Stine zu ehelichen, ist für einen Mann des Adels wie gesagt undenkbar. Man kann sich eine Mätresse nehmen, ja, aber heiraten? ein Ding der Unmöglichkeit. Die spontane Reaktion des alten Grafen, dass er sich vor Schreck und Zorn verfärbte, sagt fast alles – oder war unter den sechs Möglichkeiten in seinen Gedanken vielleicht doch auch Stine? Jedenfalls wird er sich auch im Laufe von weiteren Unterredungen mit Waldemar nicht umstimmen lassen, keine Fürsprache, keine Unterstützung, vielmehr schroffe Zurückweisung des Anliegens.
Dies allein bringt den jungen Grafen in eine schwierige Lage. Doch als er Stine von seinen Plänen und dem Verhalten des Onkels erzählt, wird er mit einer unerwarteten Reaktion ihrerseits konfrontiert. Auch sie hält – gegen ihre tiefen Empfindungen, ihre Liebe zu Waldemar – eine Eheschließung für ausgeschlossen. Sie macht sich Vorwürfe und fühlt sich schuldig an seinem Desaster: ‚Was hast du getan? … Und ich Ärmste bin schuld daran. Bin schuld, weil ich’s habe geschehen lassen und mich nie recht gefragt habe: was wird?‘
Und auch zu seinen Zukunftsplänen in Amerika hat Stine eine eigene Meinung:
‚Du willst nach Amerika, weil es hier nicht geht. Aber glaube mir, es geht auch drüben nicht. Eine Zeitlang könnte es gehen, vielleicht ein Jahr oder zwei. Aber dann wär es auch drüben vorbei. Glaube nicht, daß ich den Unterschied nicht sehe. Sieh, es war mein Stolz, ein so gutes Herz wie das deine lieben zu dürfen; und daß es mich wieder liebte, das war meines Lebens höchstes Glück. Aber ich käme mir albern und kindisch vor, wenn ich die Gräfin Haldern spielen wollte. Ja, Waldemar, so ist es, und daß du so was gewollt hast, das macht ein rasches Ende.‘
Stine ist davon überzeugt, dass eine solche Ehe nicht zu verantworten ist. Sie denkt und handelt weniger für sich als für ihren Geliebten, den sie schützen will. Auch seine Beteuerungen, in Amerika ganz von vorne (bei Adam und Eva, heißt es in der Erzählung) beginnen zu wollen und den Adelstitel abzulegen, können sie nicht überzeugen. Sie bleibt gegen ihre eigenen Gefühle standhaft und sieht keine Perspektive für ihre Liebe; sie sieht das nahe Ende dieser Beziehung voraus.
Die Erzählung endet dramatisch: Waldemar, der sich in seiner Familie schon immer als Sonderling wusste, ist nun völlig isoliert und sieht für sich, nachdem sich selbst Stine zurückgezogen hat, keinen anderen Ausweg als den Freitod. Hierzu passt die späte Einsicht des jungen Barons Botho (aus dem Roman), wenn er sagt, daß unser Herkommen unser Tun bestimmt. Wer ihm gehorcht, kann zugrunde gehen, aber er geht besser zugrunde als der, der ihm widerspricht. Das bedeutet: Beide Adligen ereilt ein unglückliches Schicksal, doch die Anpassungsleistungen des Botho ermöglichen das Weiterleben, während der Verweigerer Waldemar folgerichtig daran stirbt.
Und es ist Stine in ihrem ganzen Unglück, die im Verborgenen, im Abseits an der hochherrschaftlichen Beisetzung des jungen Grafen in Groß Haldern teilnimmt, ohne von der Familie wahrgenommen zu werden. Und glaubt man dem Gemunkel der Wirtsleute Polzin, so stirbt auch Stine, vielleicht an Unterkühlung, mehr aber noch an gebrochenem Herzen, Unglück, Kummer.
‚Nu, is sie heil wieder da?‘
‚Heil, was heißt heil? Die wird nich wieder.‘
‚Is eigentlich schade drum.‘
‚I wo. Gar nicht … das kommt davon.‘
Der Geist des Kleinbürgertums, der aus diesem kurzen Dialog spricht, sieht im Unglück oder gar im möglichen Tod der Stine also die gerechte Strafe für ungebührliches Verhalten.
Zum Schluss sollen beide Erzählungen Fontanes verglichen werden. Die beiden jungen adligen Protagonisten befinden sich mit ihren Liebesbeziehungen in einer vergleichbaren Ausgangslage: sie müssen sich von ihren Partnerinnen aufgrund unmenschlicher Standesgrenzen trennen, ihre Gefühle unterdrücken, weil sie nicht für eine Eheschließung in Frage kommen. Baron Botho fügt sich den Konventionen und heiratet standesgemäß – ob diese Ehe ihn glücklich macht oder nicht, spielt keine Rolle, weil danach nicht gefragt wird. Man arrangiert sich durch Anpassung und Wohlverhalten. Graf Waldemar hingegen verweigert sich dem konventionellen Reglement, er sucht nach einer lebbaren Alternative in einem freieren Land, als es Preußen-Deutschland ist, um die Liebesbeziehung mit Stine und damit auch sein Leben zu retten. Diesen Traum zerstört seine Geliebte, die aufgrund gelebter Erfahrung zu der realistischen Einschätzung kommt, dass auch in Amerika ihre Liebe keinen dauerhaften Bestand haben kann. Im Grunde meint sie, dass nicht der Ort oder das Land, in dem man lebt, ausschlaggebend sind, sondern die Klassenherkunft und -zugehörigkeit. Diese Grenzen lassen sich nicht individuell überwinden. Eine erstaunliche Einsicht, die der Autor dieser jungen Frau zuschreibt. Ähnlich klug stattet er auch Lene aus: Auch in dieser Beziehung ist es die weibliche Hauptperson, die über ihre Gefühlslage hinweg zu der realistischen Einschätzung kommt, dass ihre Liebe keine Chance hat, gelebt zu werden. Obwohl der Baron der Akteur ist, indem er eine andere heiratet, ist es recht eigentlich Lene, die die Liaison beendet; aus Liebe zu Botho und um ihn zu schützen, auch wenn ihr Herz an der Trennung zerbricht (sie verheiratet sich zwar noch, erwartungsgemäß jedoch unglücklich). Wie sagt die Kleinbürgerin Frau Dörr noch, die die zwielichtige Rolle als Kupplerin und Anstandsdame spielt, nachdem alles zu Bruch gegangen war: So wat jeht nie jut!
So waren die gesellschaftlichen Verhältnisse vor mehr als 100 Jahren. Wie sieht das eigentlich heute aus mit Liebesbeziehungen und Eheschließungen in der modernen Klassengesellschaft? Stände und Standesgrenzen sind wohl verschwunden, doch welche Rolle spielen die Klassen, die sozialen Herkünfte in den Geschlechterbeziehungen? Infolge meiner jahrelangen Forschungstätigkeit zum Thema „Klasse und Geschlecht“ kann ich auf empirische Daten zurückblicken, die auf eine erstaunliche soziale Homogenität bei den Eheschließungen, also auf Homogamie verweisen. Das heißt, es braucht heute keine Verbote oder Konventionen mehr, damit sich Gleich und Gleich findet, vielmehr tut es das ganz von allein. Cross Class-Verbindungen sind jedenfalls die große Ausnahme und Homogamie die Regel. Soziale Ungleichheit wird durch Verheiratung nicht konterkariert, sondern bestätigt. Mit einer kleinen Differenzierung allerdings: In den Paarbeziehungen stehen die Frauen in jeder Klasse meist ein Stüfchen tiefer in der sozialen Hierarchie als die Männer; zum Beispiel finden sich gerne Konstellationen wie Gymnasiallehrer und Realschullehrerin, Hochschulprofessor und Lehrbeauftragte, Arzt und Medizinisch-technische Assistentin, Facharbeiter und angelernte Arbeiterin, Büroleiter und Verwaltungsfachfrau usw. usf. Unsere Gesellschaft ist offener und freier und demokratischer geworden, aber gleicher wohl nicht. Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst beständig, und soziale, ökonomische und kulturelle Ressourcen sind auch nach Geschlecht immer noch ungleich verteilt.
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