Anlässlich des US-amerikanischen Nationalfeiertages am 4. Juli soll an die einschlägige Südstaaten-Literatur erinnert werden, in der soziale Ungleichheit, Klassen- und Rassenkonflikte bzw. Rassismus in den USA thematisiert werden. Hierzu hatten wir bereits drei Romane von Walker Percy (Der Kinogeher; Der Idiot des Südens; Liebe in Ruinen) vorgestellt. Nunmehr folgt ein Beitrag über den wohl berühmtesten Südstaaten-Autor, William C. Faulkner (1897 – 1962), der 1950 den Nobelpreis für Literatur erhielt. Der Roman Als ich im Sterben lag erschien 1930.
Worum geht es? Zunächst seien die Hauptfiguren und ihre familiären Bezüge vorgestellt.
Das Ich im Titel wird im Laufe des Romans immer wieder auf eine andere Person übertragen, denn die Erzählperspektive wechselt von Kapitel zu Kapitel. Aber nur eine Person liegt im Sterben und stirbt dann auch tatsächlich: Addie Bundren, Frau des Anse Bundren und Mutter von Cash, Vernon, Jewel, Darl, Dewey Dell und dem jüngsten Spross Vardaman. Eine arme Familie, die irgendwo in den Südstaaten lebt und sich mit harter Arbeit als Farmer oder als kleiner Handwerker (wie der Älteste Cash als Tischler) über Wasser hält. Man lebt von der Hand in den Mund und hat noch nicht einmal Geld für ein Gebiss, das Vater Anse sich so sehr wünscht. In den Perspektivwechsel sind alle Familienmitglieder, aber auch Nachbarn, Freunde, ein Arzt oder ein Drogist einbezogen; der Reiz dieser Erzählform liegt in den Nuancen der verschiedenen Wahrnehmungen und Sichtweisen der Beteiligten.
Erzählt wird das Sterben Addies und ihr Tod, der nach Überzeugung ihres Mannes erst dann eintritt, wenn alles fertig ist für ihre letzte Fahrt, etliche Meilen weit weg, zum Familiengrab ihrer Angehörigen. Das heißt: erst dann, wenn Cash den Sarg gezimmert hat, wenn der Pferdewagen gerichtet und die Mulis eingespannt, die Leiche herausgeputzt und die Verpflegungsrationen präpariert sind. Alle Vorbereitungen verlaufen etwas umständlich: Cash sägt und zimmert am Sarg schon Tage vor dem eintretenden Tod, und er ist, weil er mit der minutiösen Sorgfalt eines Goldschmieds arbeitet, auch Tage nach dem Tod damit noch nicht fertig. Es ist, als ob kein rechtes Fortkommen wäre. Nachdem Addie dann gestorben ist, bewachen sie geduckt und mit geiziger Wachsamkeit diesen Stillstand, von dem sie nicht wissen, ob er von Dauer ist. Das grenzt ans Absurde und soll die ganze Unbeholfenheit der Familie im Umgang mit dem Tod und bei der Organisation der Fahrt zum Ausdruck bringen. Bis der Treck als Leichenzug sich endlich in Bewegung setzt, ist Addie schon vier Tage tot – die Bussarde kreisen schon über der Scheune. Die Fahrt an den Bestimmungsort ist voller Hindernisse: Ein Sturzregen hat den Fluss über die Ufer treten lassen und eine Brücke mitgerissen, über die sie fahren wollten; der Kampf der Männer, die mit Hilfe der Mulis und Jewels Pferd durch die Furt waten wollen, den Sarg von den Tieren gezogen, geht verloren – beinahe wäre der Sarg mit der Leiche auch noch weggeschwemmt worden; der ohnehin schon beinversehrte Cash bricht sich das Bein noch einmal und lagert in Decken verpackt auf dem Sarg der toten Mutter; über Umwege und unzählige Erschwernisse nähert man sich langsam dem Ziel, aus dem Sarg steigt der Gestank von Verwesung; zur Zwischenübernachtung untergeschlüpft im Gehöft eines Freundes der Familie, geht die Scheune in Flammen auf und führt zwei Söhnen schwerste Brandverletzungen zu; ausgerechnet Darl, der Klügste und Besonnenste unter den Söhnen, ist der Brandstifter – welches ist sein Motiv? Die Tochter Dewey Dell ist schwanger und hofft in der Stadt, wo die Mutter beerdigt wird, auf ärztliche Hilfe, wird aber auch noch um die vom Kindsvater beigesteuerten zehn Dollar für das Medikament betrogen und so weiter.
Man kann sagen, alles geht schief oder: Wer nicht hat, dem wird auch noch genommen. Dabei ist die Familie, wie alle kleinen Leute hier auf dem Land, überaus fromm und gottesfürchtig: Der Herr hat‘s gegeben … – ist ihre Devise, und sie verklären ihr hartes, dürftiges Leben mit ihrem Glauben an die himmlische Gerechtigkeit.
Soweit zur Handlungsabfolge. Nun sei auf einige Aspekte hingewiesen, die zum näheren Verständnis dieses Romans beitragen könnten. Dazu gehören die Schilderung der sozialen Lage, die Charakterisierung der einzelnen Personen sowie stilistische und sprachliche Besonderheiten bei Faulkner.
Einen Motivstrang bildet der Klassengegensatz von Arm und Reich, der auch einer von Land und Stadt ist. In einer ersten Szene lassen sich die Nachbarinnen darüber aus, was sich wohlhabende Frauen aus der Stadt so alles erlauben oder herausnehmen (können); sie bestellen beispielsweise Kuchen bei den Landfrauen und holen ihn noch nicht einmal ab, geschweige denn, ihn zu bezahlen. Diese reichen Damen in der Stadt können ihren Sinn ändern, wie es ihnen paßt. Auch Anse sieht seine soziale Lage als Farmer im Kontrast zu den Privilegien der Städter:
Ein hartes Leben für unsereinen; es ist hart. … Nirgends in dieser sündigen Welt kann ein ehrlicher, schwer arbeitender Mann es zu was bringen. Alles ist für sie, die in den Städten ihre Geschäfte haben und die nicht schwitzen müssen und die von denen leben, die schwitzen. Für den schwer arbeitenden Mann, für den Farmer, gibt es nichts. Wohl weil es einen Lohn für uns gibt da oben, wo sie ihre Autos und solche Sachen nicht mitnehmen können. Jeder Mensch ist da gleich, und der Herr wird denen nehmen, die haben, und denen geben, die nicht haben.
Es ist die Logik der Bigotterie, die einen armen Farmer wie Anse die Ungerechtigkeit in der Verteilung von Reichtum und Wohlstand gleichzeitig wahrnehmen und hinnehmen, ertragen lässt; denn statt schon im Diesseits aufzubegehren gegen die Ungerechtigkeit, glaubt er fest an den sozialen Ausgleich vor Gott, also im Jenseits. Faulkner zeigt die unselige Verquickung von sozialer Lage in Armut mit religiöser Verbrämung auf. Es gibt zahlreiche Stellen, an denen die Repräsentanten der älteren Generation wie die Bundrens und ihre Nachbarn ihre frömmelnde Moral unterbreiten, wie sie unter der Landbevölkerung (nicht nur) in den USA üblich ist. Dazu gehört, dass Sexualität Sünde ist, wenn sie nicht der Zeugung dient. Dass man tunlichst keine Schuld auf sich lädt, indem man beispielsweise die Gastfreundschaft anderer beansprucht. So lehnt Anse das Angebot immer wieder ab, beim Nachbarn oder unterwegs im Haus zu übernachten oder gar sich zum Essen einladen zu lassen bzw. folgt einer solchen Einladung nur widerwillig, im äußersten Notfall. Was wie Bescheidenheit aussieht, gründet in der Abneigung, als Schuldner im Gabentausch dazustehen. Sie ist zugleich Ausdruck einer puritanischen Verzichtsmoral.
Ein weiteres stilistisches Mittel zur Darstellung der Lage am unteren Ende der sozialen Hierarchie ist der raue, grobe Umgangston in der Familie und entsprechend ungehobeltes Verhalten. Halts Maul … Halt doch deine verdammte Fresse … Vernon spuckt treffsicher in den Staub. Besonders Jewel neigt zum Jähzorn und zu Wutausbrüchen, wirkt unbeherrscht und in hohem Maße aggressiv. Diese Veranlagungen rühren offensichtlich daher, dass er wildes Blut in sich hat, das heißt von einem anderen Mann als Anse stammt.
Das ist in einem Abschnitt, der der toten Addie gewidmet ist, zu erfahren. Sie blickt darin auf ihr Leben zurück, in dem es einen Sündenfall gegeben hat: Während ich im Wald auf ihn wartete, wartete, bevor er mich sah, dachte ich an ihn als an einen, der in Sünde gekleidet geht. So wie ich ihn in Gedanken sah, sah ich auch mich: in Sünde gekleidet, er aber war der Schönere, denn das Kleid, das er gegen die Sünde eingetauscht hatte, war geweiht. Ich dachte an die Sünde wie an Kleider, die wir ablegen würden, um das schreckliche Blut mit dem verzweifelten Echo des toten Worts hoch droben in der Luft zusammenzuzwingen. Dann legte ich mich wieder zu Anse – ich belog ihn nicht, ich verweigerte mich nur, so wie ich Cash und Darl meine Brust verweigerte, als es Zeit dazu war – und hörte das dunkle Land in seiner stummen Sprache sprechen.
Während die Nachbarin Cora die Zeugung und Geburt Jewels für eine Strafe Gottes hält, scheint Addie diesen Akt zwar als einen sündhaften, aber gleichwohl legitimen wahrzunehmen. Denn die Sünde kann man wie ein Kleid ablegen, so ihre Überzeugung. Und wenn das Kleid des Geliebten eine geweihtes war, dann ist auch der Liebesakt einer von Gottes Gnaden.
Addies Problem liegt auf einer anderen Ebene: der der Sprache. Sie stellt fest, dass die Wörter in ihrer Bedeutung und ihre eigenen Erfahrungen nicht zusammenpassen: Damals lernte ich, dass Wörter keinen Sinn haben, dass Wörter nie passen, einerlei, was sie auszudrücken versuchen. Als (Cash) zur Welt kam, wusste ich, dass ‚Mutterschaft‘ von jemandem erfunden worden war, der dafür ein Wort brauchte, denn die, die die Kinder hatten, kümmerte es nicht, ob es dafür ein Wort gab oder nicht. Die Sprache, die Addie spricht, ist eine des unmittelbaren Lebens, während die Begriffe als Wörter von diesem abstrahieren, weil sie verallgemeinern, und als Abstraktionen nicht mehr mit der Erfahrungswelt der einfachen Frau übereinstimmen.
Jewel ist qua abweichender Vaterschaft ein anderer; er wird von seiner Schwester Dewey Dell als nicht sorgenverwandt gekennzeichnet. Und sein Bruder Darl sagt von ihn: Jewels Mutter ist ein Pferd. Damit spielt er vielleicht auf des Bruders Pferdevernarrtheit an; in harten Nachtschichten hat sich Jewel das Geld zusammenverdient, um sich den sehnlichen Wunsch nach einem eigenen Pferd zu erfüllen, das so wild ist wie er selbst und nur von ihm geritten werden kann. Die Nachbarin Cora berichtet, dass Addie diesen aus der Art geschlagenen Sohn immer den anderen vorgezogen habe und dabei ihren besten Sprössling, nämlich in ihren Augen Darl, vernachlässigt.
Ich hab immer gesagt, Darl ist anders als die anderen. Hab immer gesagt, er ist der Einzige, der das Wesen seiner Mutter hat. Nicht dieser Jewel, den sie unter Schmerzen geboren und dann nicht genug hätscheln und tätscheln konnte trotz seiner wüsten Zornesausbrüche und der Anwandlungen von Düsternis, und der üble Teufeleien ausheckte, um ihr das Leben schwerzumachen … Gleichwohl war dieser Sohn für Addie der Auserwählte, stammt er doch von einem Mann ab, den sie geliebt hat; so trägt dieser nicht zufällig bereits im Namen (Jewel heißt auf deutsch Juwel). Ihr Geheimnis um die Vaterschaft Jewels muss Addie anscheinend gut gehütet haben, denn sonst könnte die Vertraute von diesem nicht behaupten, er sei ein Bundren durch und durch.
Obwohl diese beiden Söhne grundverschieden sind, bilden sie ein gewisses Machtzentrum in der Familie: Was der eine an Geisteskraft, Artikulationsfähigkeit und eher ausgleichendem Sozialverhalten besitzt, hat der andere an körperlicher Kraft, Geschicklichkeit und aufbrausendem Wesen. Jedoch scheint der Vater als Autorität anerkannt zu sein. Das zeigt sich spätestens da, wo Anse hinter dem Rücken seiner Söhne alles Mögliche versetzt, um den Gegenwert für ein neues Gespann zum Weitertransport des Sarges nach dem Unglück am Fluss zusammenzukratzen, darunter sein bisschen Erspartes, das eigentlich für den Kauf eines Gebisses gedacht war, und auch Jewels Pferd.
Anse rechtfertigt sich so: ‚Ich hab seit fünfzehn Jahren keinen einzigen Zahn im Mund‘, sagt er. ‚Gott weiß das. Er weiß, dass ich seit fünfzehn Jahren nicht alle Nahrung gegessen hab, die Er für den Menschen bestimmt hat, damit er bei Kräften bleibt, und da hab ich mir ein bisschen was zusammengespart, einen Nickel hier, einen Nickel da, damit meine Familie nicht drunter leiden muss, wenn ich mir Zähne kaufe, mit denen ich die von Gott vorgesehene Nahrung essen kann. Ich hab das Geld hergegeben. Ich dachte, wenn ich ohne richtiges Essen auskommen muss, können meine Söhne ohne Reiten auskommen. Gott ist mein Zeuge.‘
Der Vater beruft sich auf Gott, um sein Tun ins rechte Licht zu rücken. Und er stellt seinen Verzicht auf neue Zähne in Rechnung mit dem Verkauf des Pferdes, also dem aufgezwungenen Verzicht aufs Reiten für den Sohn. Interessanterweise reagiert Jewel nicht mit einem Zornesausbruch: Jewel steht da, die Hände in die Hüften gestützt, und sieht Anse an. Dann sieht er weg. Er sieht hinaus übers Feld, sein Gesicht reglos wie ein Stein, als ob ein anderer über ein Pferd redet, das einem anderen gehört, und er hört gar nicht zu. Dann spuckte er langsam aus, sagte ‚Zum Teufel’, wandte sich ab, ging zum Gatter, band das Pferd los und setzte den Fuß in den Steigbügel … Er bringt das Pferd rasend zu seinem neuen Besitzer, kehrt zu Fuß zur Familie zurück und begleitet den Leichenzug bis zum Ziel – ohne dem Vater irgendwelche Vorhaltungen zu machen.
Erst in der Stadt Jefferson angekommen, bricht seine Wildheit und Aggressivität bei der erstbesten Gelegenheit wieder aus; sie richtet sich aber nicht gegen den Vater, sondern gegen einen zufälligen Passanten. Darl berichtet: Wir gehen hinter (dem Wagen) her, hinter den flüsternden Rädern, vorbei an den Hütten, an deren Türen plötzlich Gesichter auftauchen, weißäugige. Wir hören auf einmal Stimmen, laut ausgestoßene Rufe. Jewel hat von einer Seite zur anderen gesehen; jetzt ist sein Gesicht nach vorn gewandt, und ich sehe, dass seine Ohren einen noch dunkleren Rotton annehmen, ein glühendes Wutrot. Drei Neger gehen vor uns am Straßenrand, zehn Fuß vor ihnen ein Weißer … Jewel wirbelt herum. ‚Dreckskerle‘, sagt er. Als er das sagt, ist er auf gleicher Höhe mit dem Weißen, der stehen geblieben ist. Es ist, als ob Jewel für einen Moment blind geworden wäre, denn es ist der Weiße, auf den er sich stürzen will … ‚Denkt, weil er ein verdammter Stadtpinkel ist‘, keucht Jewel und will sich von mir losreißen. ‚Scheißkerl‘, sagt er.
Nicht, wie Darl es vermutet, wenn er von momentaner (Farben-)Blindheit spricht, richten sich die Aggressionen Jewels gegen die Schwarzen vor ihren Hütten, nein, sein Hassobjekt ist ein weißer Passant. Was bringt ihn dermaßen in Rage? Anscheinend fühlt er sich diesem gegenüber unterlegen, eingeschüchtert und damit sozial beschämt und deklassiert – die grundlosen, unflätigen Beschimpfungen und körperlichen Reaktionen sprechen dafür; und um diese Gefühle zu kompensieren, reagiert Jewel instinktiv und impulsiv; er fühlt sich sofort angegriffen und schlägt verbal und brachial um sich. Hier kommen der bereits angesprochene Stadt-Land-Konflikt und der darin wurzelnde Klassenhass zum Ausdruck. Auch die flüsternden Räder des Wagens in der Stadt sprechen für Verunsicherung, soziale Scham und Einschüchterung der Landleute auf fremdem Terrain.
Vergleicht man die erwachsenen Söhne von Anse, so tritt Cash gegenüber der Präsens von Jewel und Darl zurück; nur Vernon ist noch unscheinbarer. Cash verkörpert den bescheidenen, bedürfnislosen, frommen, auch leicht beschränkten Abkömmling der Familie, allerdings auch den grundsoliden, ordentlichen Handwerker, der sich in seinem Metier von nichts und niemandem beirren lässt. In einem Abschnitt aus seiner Sicht erfährt man, welche Gedanken er sich zur Brandstiftung Darls macht. Das Ereignis selbst, die lichterloh brennenden Ställe und Scheune auf dem Hof von Gillespie und der Kampf gegen den Feuertod von Mensch und Vieh, erzählt Darl selbst, ohne aber auf seine Täterschaft und möglichen Motive einzugehen. Das ist Cash vorbehalten. Der Besitzer des Hofs hat herausbekommen, dass Darl das Feuer gelegt hatte. In einem Gespräch zwischen Vater und Sohn Jewel kommt man überein, dass an einer Festnahme und langen Gefängnisstrafe Darls kein Weg vorbeiginge. ‚Ich glaube, eigentlich gehört er dahin‘, sagt Pa. ‚Gott weiß, was für `ne schwere Prüfung das für mich ist. Das Schicksal scheint immer weiter zuzuschlagen, wenn’s einmal angefangen hat.
Man möchte an eine moderne Version des Hiob-Motivs denken. Was Anse als die Härte des Schicksals wahrnimmt, nämlich all die Schläge, die es ihm zufügt: das schwere Leben, der Tod der Frau, das Unwetter mit reißenden Flüssen, die Feuersbrunst, der straffällige Sohn – all das kann er nur wie Hiob als schwere Prüfung deuten, die Gott ihm auferlegt.
Dass es ausgerechnet Darl gewesen sein soll, der das Feuer legt, hätte man nicht vermutet. Umso mehr interessieren die möglichen Motive. Cash spekuliert, ob die harte Entscheidung des Vaters in Bezug auf Jewels Pferd dahinter stecken könnte, als Rache für den Bruder: In gewissem Sinn war es der Wert des Pferdes, den Darl in Flammen aufgehen lassen wollte. Und seine Gedanken gehen so weiter: Aber ich habe mehr als einmal gedacht, bevor wir den Fluss überquerten, und auch nachher, dass es ein Segen Gottes gewesen wär, hätte Er sie aus unseren Händen genommen und sie auf saubere Weise zur Ruhe gebracht, und als Jewel sich so anstrengte, sie aus dem Fluss zu holen, da dachte ich, dass er sich in gewisser Weise gegen Gott verging, und dann, als es für Darl so aussah, als ob einer von uns etwas tun müsste, da glaube ich, dass er auf gewisse Weise recht getan hat.
Cash meint in seinem frommen Glauben, dass es eine Gnade gewesen wäre, den Leichnam der Mutter in den Fluten beizusetzen, das nennt er sauber. Nachdem Jewel die tote Mutter aber aus dem Wasser herausgezogen hatte – gegen den Willen Gottes, wie Cash meint, sei es Darl gewesen, der sich für die Familie aufgeopfert habe: Er wollte mit dem Scheunenbrand der Mutter eine Feuerbestattung bescheren. Vermutet Cash also, dass hinter der Brandstiftung so etwas wie eine rituelle Handlung stecken könnte, die Darl auf sich genommen hat? Jedenfalls hält er es für angemessener und anständiger, ja einen Segen Gottes, die Mutter den Elementen (ob Wasser oder Feuer) zu überlassen, statt sie als verwesende Leiche umher zu karren; und diesen Segen zu empfangen, hat Jewel durch seine Rettungsaktion (er holt in höchster Gefahr den Sarg aus den Flammen wie vorher aus dem Wasser) abermals verhindert. Also hat Darl recht getan? Das wiederum entspricht nicht Cashs Gerechtigkeitsempfinden: Ich glaube aber nicht, dass es eine Rechtfertigung dafür gibt, wenn man Feuer an jemandes Scheune legt, sein Vieh in Gefahr bringt und seinen Besitz zerstört. So jemand ist nach meiner Meinung verrückt. In der Art nämlich, dass er nicht mehr mit den Augen der anderen sehen kann.
Er hält den Bruder für verrückt, aber er hat vom Verrücktsein ein Verständnis, das dem landläufigen widerspricht, nämlich im Sinne des Verlusts von Empathie. Das Motiv des Verrückt-geworden-Seins kehrt am Schluss des Romans wieder: In der letzten Szene sitzt Darl, festgenommen von zwei Polizisten, im Zug nach Jackson – wahrscheinlich auf dem Weg ins Gefängnis. Und er befindet sich in einem Zustand, der auf Wahnsinn schließen lässt: er lacht und lacht und lacht. Dieses Lachen, das keinen nachvollziehbaren Grund hat, ist genauso mysteriös wie die tragischen Ereignisse im Handlungsablauf: Der reißende Fluss und die Feuersbrunst stehen – so „weltlich“ diese in ihrer Entstehung auch zu erklären sind – für etwas Übersinnliches, das man Gott, Schicksal, höhere Mächte oder wie auch immer nennen könnte. Dass der begabte und vielleicht auch begnadete Sohn Darl in den Zustand des Lachens oder Wahnsinns verfällt, lässt vermuten, er sei nicht mehr von dieser Welt, sei ihr bereits entrückt. Dafür spricht, dass Faulkner Darl eines der letzten Kapitel überträgt, in dem dieser von sich in der Er-Form spricht: Darl ist nach Jackson gefahren. Sie haben ihn in den Zug gebracht, er lachte … Sie rückten zwei Sitze zusammen, damit Darl am Fenster sitzen und lachen konnte. Er ist vom Ich abgerückt, hat sich vom Ich gelöst, Distanz zu ihm aufgebaut – vermutlich eine Form der psychischen Abspaltung.
Auch der kleine Bruder Vardaman kommentiert den Abtransport des Bruders mit Hinweis auf dessen Geisteszustand: Er ist nach Jackson gefahren. Er hat den Verstand verloren und ist nach Jackson gefahren, beides. Viele Leute verlieren nicht den Verstand. In seiner kindlichen Wahrnehmung gibt es also keinen triftigen Grund für den Zusammenhang von Festnahme und den Verstand verlieren; nur bei seinem Bruder kommt beides zusammen, was er sich nicht erklären kann.
Faulkner trägt der Perspektive dieses Jungen, die sich von der der anderen deutlich absetzt, stilistisch in verschiedener Form Rechnung. Wenn Vardaman von dem reißenden Fluss erzählt, wählt der Autor Endlossätze, um den Gemütszustand, den Schrecken, die Angst und Sorge des Kindes zu formulieren. Auch wie sich das Kind den Tod vorstellt oder vorstellbar macht, ist stilistisch und auf symbolischer Ebene hervorgehoben. Der Junge hat kurz vor dem Tod der Mutter einen großen Fisch geangelt, den er in der Küche fallen lässt; er wird Zeuge, wie der Fisch geschlachtet wird, sieht das Blut auslaufen und auch, wie er in Stücken gebraten wird. Mit diesem toten Fisch nun bringt er seine tote Mutter in Verbindung.
So kommen in seiner Wahrnehmung auch immer wieder die Verwandtschaftsverhältnisse zusammen oder durcheinander, und seine Brüder scheinen die besondere Art dieser Sortierung von nahen Verwandten auch noch zu unterstützen. Hier ein Gesprächsauszug: Aber meine Mutter ist ein Fisch. … ‚Jewels Mutter ist ein Pferd‘, sagte Darl. ‚Dann kann meine ein Fisch sein, oder nicht, Darl?‘, sagte ich. Jewel ist mein Bruder. ‚Dann muss meine Mutter auch ein Pferd sein‘, sagte ich. ‚Warum?‘ sagte Darl. ‚Wenn Pa dein Pa ist, warum muss meine Ma ein Pferd sein, bloß weil Jewels Ma eins ist?‘ ‚Warum ist das so?‘, sagte ich … Darl ist mein Bruder. ‚Was ist dann meine Ma, Darl?‘ sagte ich. ‚Ich hab keine‘, sagte Darl. ‚Denn wenn ich eine hätte, dann ist es war. Und wenn es war ist, kann es nicht ist sein. Oder?‘ ‚Nein‘, sagte ich. ‚Dann bin ich nicht‘, sagte Darl. ‚Oder?‘ ‚Nein‘, sagte ich. Ich bin. Darl ist mein Bruder.
Hier geht es um mehr als die Zuordnung von Personen nach Verwandtschaftsgraden und –verhältnissen. Hier geht es auch um Fragen der Identität und Selbstvergewisserung. Darl spielt mit seinem jüngeren Bruder anscheinend verschiedene Rollen oder Möglichkeiten der Existenz durch. Fast philosophisch spricht er vom Sein im Hier und Jetzt und von der exakten grammatischen Form des Ausdrucks der Vergangenheit oder Vergänglichkeit: wer tot ist, war, ist nicht mehr.
Solche Passagen stehen für stilistische Raffinessen bei Faulkner. Und interessanterweise sind es die Passagen aus der Perspektive von Darl, in denen immer wieder philosophische Fragen erörtert werden; hier zeigen sich das Reflexionsvermögen und die Gedankenschärfe dieses jungen Mannes. Zum Schluss dafür einige Beispiele. Darl schildert Szenen am Fluss:
Der Fluss selbst ist keine hundert Yard breit, und Pa und Vernon und Vardaman und Dewey Dell sind das einzige, das sich abhebt von dieser ungeheuren monotonen Trostlosigkeit, die sich auf schreckenerregende Weise ein wenig von rechts nach links neigt, als hätten wir den Punkt erreicht, da die Bewegung der verwüsteten Welt sich kurz vorm endgültigen Absturz beschleunigt. Sie wirken geschrumpft. Es ist, als sei der Raum zwischen uns Zeit: etwas Unwiderrufliches.
Oder ein Satz voller Poesie: Wenn man sich nur in die Zeit hineinweben könnte.
Oder: In einem fremden Zimmer muss man sich leer machen für den Schlaf. Und was ist man, bevor man sich leer gemacht hat für den Schlaf? Und wenn man sich leer gemacht hat für den Schlaf, dann ist man nicht. Und wenn man voller Schlaf ist, war man nie. Ich weiß nicht, was ich bin. Ich weiß nicht, ob ich bin oder nicht. Jewel weiß, dass er ist, weil er nicht weiß, dass er nicht weiß, ob er ist oder nicht. Er kann sich für den Schlaf nicht leer machen, weil er nicht ist, was er ist, und ist, was er nicht ist. … Und weil der Schlaf ein ist-nicht ist, und Wind und Regen ein war sind, ist er nicht.
Fragen von Raum und Zeit, von Sein und Nicht-Sein, von Identität und Nicht-Identität bewegen diesen jungen Mann, als habe er sie einem philosophischen Lehrbuch entnommen und versuche nun, sie auf seine unmittelbare Erlebniswelt zu übertragen. Mit diesem geistig-intellektuellen Potential sticht Darl vom Rest der Familie ab. So hat die alte Cora dann doch recht, wenn sie von ihm als dem Auserwählten spricht; und auch damit, dass er als einziger nach der Mutter kommt: Denn auch Addie hatte sich in ihrer ganzen Unbeholfenheit mit Sprache, Wörtern und ihrer Bedeutung auseinandergesetzt; und sie hatte sich von der herrschenden Moral und Bigotterie nicht zum Verzicht auf das wenige Schöne in ihrem Leben verleiten lassen: Einmal hatte sie geliebt und ist geliebt worden. Dieser Roman von William Faulkner zeugt von einer tiefen Humanität mit besonderem Blick auf die arme Landbevölkerung, den Gegensatz von Stadt und Land, soziale und kulturelle Ungleichheiten sowie – frei nach Marx – die Funktion der Religion als Opium des Volkes. Erschütternd in der Darstellung von Armutsverhältnissen und zugleich voller Empathie.
Bildquelle: Pixabay, Bild von Ben Murray, Pixabay License

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