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„ Wir sahen aus wie Lumpensoldaten…“ Der Flüchtling und Emigrant Willy Brandt

Volker Mauersberger Von Volker Mauersberger
24. März 2016
Willy Barndt

Am 23.März 1933 debattierte der Deutsche Reichstag über das umstrittene „Ermächtigungsgesetz“, das Hitler an die Macht brachte und die Weimarer Republik nach kaum vierzehn Jahren abgeschafft hat. Als einziger Abgeordneter hatte der Sozialdemokrat Otto Wels für seine SPD- Fraktion gegen die Gesetzesvorlage gestimmt. „ Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht“, sagte er in seiner emphatischen, von schweren Tumulten begleiteten Rede. Goebbels notierte einen Tag später: „ Man sah niemals, dass einer so zu Boden geworfen und erledigt wurde wie hier“. Die Nazis hatten gewonnen; bald wurden alle politischen Parteien mit Ausnahme der NSDAP in Deutschland verboten. Schon wenige Wochen später wurde der Lübecker SPD-Reichstagsabgeordnete Julius Leber in „ Schutzhaft“ genommen. Die Demokratie in Deutschland war am Ende, die Zeit der Verfolgung hatte begonnen.

Damals lebte ein junger Sozialist aus Lübeck , der Herbert Frahm hieß und für die marxistisch orientierte „ Sozialistische Arbeiterpartei SAP“ agitierte, in der ständigen Angst, von der Polizei bestraft, von der SA verprügelt, inhaftiert und irgendwohin verschleppt zu werden. „Wohlmeinende, nicht nur bösartige Widersacher fragten gelegentlich, was denn wohl ein Neunzehnjähriger von den neuen Machthabern zu befürchten hatte. Musste er mit Schlimmerem als mit einer Tracht SA-Prügel oder kurzfristiger Verhaftung rechnen?“ fragte Herbert Frahm, der zur eigenen Tarnung später den Namen Willy Brandt annehmen sollte. Und gab die Antwort: „Gewiss, ich war noch jung und jenseits unserer Stadtgrenzen so gut wie unbekannt. Aber in Lübeck kannten mich manche aus der terroristischen Umgebung der neuen Machthaber. Sie gingen in einigen Fällen gnadenlos mit den Opfern um, die ihnen in die Hände gerieten“.

Aktentasche mit Hemden, einem Buch und 100 Reichsmark

Anfang April 1933 besteigt Brandt nur mit einer Aktentasche, in der einige Hemden, der erste Band des „Kapital“ sowie einhundert Reichsmark aufbewahrt sind, in Lübeck den Kutter eines deutschen Fischers und flüchtet. Er hofft, dass er über Dänemark nach Norwegen kommt. „Zunächst habe ich einfach gedacht, erwischen die dich oder erwischen die dich nicht. Es war in der Nacht, solche Fischerboote laufen ja ganz früh am Morgen aus. Es muss in der Nacht gewesen sein, denn morgens waren wir schon in Röbyhavn, also in Dänemark. Dort war eine Zollkontrolle, ich war gut versteckt unter Tauwerk und zunächst einmal froh, dass man mich nicht entdeckt hatte. Sonst gab es noch die Neugier. Was erwartet dich da eigentlich in Skandinavien?“

Die Zeiten waren in Norwegen schlecht, das wie viele andere Länder unter der Weltwirtschaftskrise litt. Antifaschistische Flüchtlinge wurden zwar aufgenommen, konnten jedoch nur schwer Arbeit finden. Als Mitglied der SAP fand er erste Hilfe und Kontakte. Aber Norwegen, wo der Deutsche am 7.April 1933 von Kopenhagen kommend an Land gegangen war, zählte nach Ansicht des Brandt-Biografen Peter Merseburger nicht zu den bevorzugten Ländern, in denen man freiwillig Exil suchte. „Sicher ist, dass die deutschen Emigranten nicht mit offenen Augen aufgenommen wurden, im Gegenteil: Die Wirtschaftskrise hatte auch vor den Toren des Drei-Millionen-Landes nicht halt gemacht , allein in der holzverarbeitenden Industrie, die in der Wirtschaft eine Schlüsselstellung hielt, lag die Arbeitslosigkeit bei 55 Prozent“.

Antidemokratisches Denken

Außerdem war das Land nicht gegen den Faschismus gefeit, weil besonders in Kreisen des bürgerlichen Lagers ein antidemokratisches Denken vorherrschte, dass sich für Hitler und Mussolini erwärmte, weil beide Diktatoren gegen Marxismus und Klassenkampf Front gemacht hatten. Vidkun Quisling, dessen Name bald zum Symbol für norwegische Wendehälse wurde, war der umstrittene Chef einer nationalsozialistischen Marionettenregierung, die allen Emigranten nachspürte, um das Ergebnis ihrer Recherche an die NS-Gesandtschaften weiterzuleiten. Wo man der Emigranten nicht habhaft werden konnte, entzog man ihnen die Pässe, machte sie staatenlos und stieß sie „aus der deutschen Volksgemeinschaft aus“, wie es im Nazi-Jargon hieß.

Willy Brandt zeigte sich davon wenig beeindruckt. „ Ausbürgern heißt entnazen, hatte Bert Brecht gesagt. Die Ausbürgerung hatte für mich keine praktische Bedeutung. Von meinem deutschen Pass, der bis zum Sommer 1936 gültig gewesen war, hatte ich sowieso keinen Gebrauch mehr gemacht. Immerhin, ich war nun einer von den schließlich 38.766 Deutschen ­- zusätzlich zu all den deutschen Juden, die nicht mal mehr dieser Prozedur unterworfen wurden“. Der staatenlose Emigrant bemühte sich zwar, die Beziehungen zu seinen Parteifreunden in Nazi-Deutschland aufrecht zu erhalten, wollte aber rasch einen Anschluss an das neue Gastland finden. Er arbeitete im Jugendverband der örtlichen Arbeiterpartei und lernte norwegisch, eine Sprache, die er nach wenigen Wochen so gut beherrschte, dass er sich mühelos unterhalten konnte. „Norwegisch wurde mir bald so vertraut, wie meine eigene Muttersprache“.

Mitnehmen konnte er nichts

Aber die Ereignisse nahmen ihren Lauf. Nach dem Überfall auf Polen wurde das neutrale Norwegen 1940 von Nazi-Deutschland angegriffen und besetzt. Deutsche Truppen befanden sich bald auf dem Marsch nach Oslo, wo Brandt lebte und inzwischen geheiratet hatte. Carlota Frahm, Brandts erste Ehefrau, hat den unheilvollen Abend des 8.April 1940 nie vergessen. „Willy kam sehr spät heim an diesem Abend. Draußen in den Straßen hatte es seit früh die Gerüchte gegeben, dass die Deutschen eine Invasion machen wollten. Ich hatte an diesem Tag erfahren, dass ich ein Kind bekommen würde. .. Zehn Minuten später gab es Luftalarm. Ich erzählte ihm während des Alarms, er würde Vater. Er war froh. Wir wollten im Oslo-Fjord ein Sommerhaus für die nächsten Monate nehmen und zur Arbeit immer in die Stadt fahren. Um sechs Uhr am nächsten Morgen rief ein deutscher Emigrant an. Schiffe mit deutschen Soldaten hätten festgemacht. Willy musste fliehen. Einen richtigen Pass hatte er nicht mehr, die deutsche Staatsbürgerschaft war ihm aberkannt worden. Mitnehmen konnte er nichts“.

Brandt floh und versuchte, nach Schweden zu entkommen. Aber sein geplanter Fluchtweg wurde durch deutsche Soldaten abgeschnitten. Damals war Paul Rene Gauguin, ein Enkel des berühmten Malers Paul Gauguin, norwegischer Soldat. Er kannte Willy Brandt noch aus Spanien, wo man sich 1937 kennengelernt hatte. Dort hatte der deutsche Parteiemissär aus Norwegen, der sich um die Lage der spanischen Schwesternpartei POUM kümmern sollte, schlimme Erfahrungen gemacht. Der damals Dreiundzwanzigjährige erlebte die Gräuel eines furchtbaren Bürgerkrieges. An der Front bei Huesca wurde er von der Legion Condor unter Feuer genommen. Er hörte vom Sturmangriff deutscher JU-87 Bomber auf das baskische Guernica, wo Tausende von Zivilisten an einem Nachmittag getötet wurden. Ausgerechnet Brandt, der den Wankelmut Europas gegenüber Franco angeprangert hatte, erlebte bereits die Dimensionen eines Krieges, der sich zum Vorspiel für den Zweiten Weltkrieg ausgeweitet hatte. In Norwegen stand er an jenem Apriltag fast vor der Tür.

Enkel Gauguins Retter von Brandt

War es nur Glück? Der Enkel Gauguins wird damals für Brandt zum zufälligen Retter. „Unsere Truppe lag in einem kleinen norwegischen Tal mit nur einem Ausgang. …Da kamen plötzlich mehrere Personen vorbei, einer von ihnen sprach mich an. Ach, du bist auch da! Es war Willy. Er war aus Oslo nach hier geflüchtet. Ich sagte ihm: Willy, das ist gefährlich hier. Das Tal hat nur einen Ausgang. Wenn dich die Gestapo findet, dann bist Du dran. So habe ich ihm vorgeschlagen: Du kannst meine Uniform haben. Ich will weg. Ich spreche mit meinem Fähnrich, dass Du in unsere Truppe kommst. Du kannst so gut norwegisch, dass es den Deutschen nicht auffällt. Ich habe ihm dann eine Jacke, eine Hose, Mütze, mein Gewehr und den Gürtel mit der Patronentasche und dem Bajonett gegeben. Die Sachen passten nicht richtig. Die Hose war zu kurz und die Jacke zu weit. Unsere Jacken waren auch nicht gesäumt, verglichen mit Deutschen, sahen wir aus wie eine Armee von Lumpensoldaten. Wenig später kam die Kapitulation .Alle lieferten ihre Waffen ab .Willy hatte jedenfalls mit seinem Gewehr bis dahin keinen Schuss abgefeuert“.

Brandt gelang die Flucht. Im August 194o kam er unversehrt nach Schweden. „Ich war ein freier Mann, der zum zweiten Mal seine Heimat verloren hatte und zum zweiten Mal Exil suchte und es zum ersten Mal nicht mehr ausschloss, dass Hitler den Krieg gewinnen könne: ein Deutscher, der nach Norwegen geflohen und ein Norweger, der nach Schweden entkommen war“, schreibt er später in den „ Erinnerungen“.

Seine Erfahrungen im Exil hat Brandt nie vergessen. Zum Schweden Olof Palme und zur Norwegerin Gro Harlem Brundtland, besonders zum spanischen Sozialistenchef Felipe Gonzalez, den er früh als Hoffnungsträger für ein demokratisches Spanien ausmachte, pflegte er enge, fast freundschaftliche Beziehungen. „Felipe“, wie Brandt den um dreißig Jahre jüngeren Spanier im vertrauten Kreis nannte, würdigte den Verstorbenen 1992 bei der Trauerfeier in Berlin. „Du hast gegen Nationalismus gekämpft, der Dir Deine Nationalität raubte und Dich aus der Heimat vertrieb. Du hast eine neue Staatsbürgerschaft in einem anderen Land Europas gefunden und hast die geraubte zurückbekommen, als der Totalitarismus besiegt war. Du hast nie aufgehört, ein Deutscher zu sein und bist doch europäischer Staatsbürger geblieben. Was bleibe, sei für ihn die Erinnerung an einen wahrhaft guten Freund. „ Adios, amigo Willy! Querido Willy, adios!

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Tags: ExilFlüchtlingNS-TerrorSPDVertriebeneWiderstandWilly Brandt
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