Das Grundrecht auf Asyl verkommt zu einer Worthülse. Das einstige Juwel im Grundgesetz bleibt zwar offiziell unangetastet, doch wird es schleichend ausgehöhlt. Das ist das alarmierende Ergebnis einer wissenschaftlichen Studie zum Flüchtlingsschutz in Deutschland, die im Rahmen eines EU-Projekts entstand.
Der Forschungsbericht, an dem auf deutscher Seite Prof. Dr. Sabine Hess von der Universität Göttingen mitarbeitete, zeichnet ein düsteres Bild des Menschenrechtsschutzes für Asylsuchende in Deutschland. Die Autorinnen und Autoren sprechen von einem „differentiellen Ausschluss“ immer größerer Gruppen aus dem deutschen Asylrecht auf der Grundlage mehr oder weniger willkürlicher Kriterien. Viele gesetzliche Ausnahmen und Hürden führten dazu, dass es den Schutz-Standards der Genfer Flüchtlingskonvention und der europäischen Menschenrechtscharta immer weniger entspreche.
„Unser Bericht zeigt, wie unter dem Eindruck der so genannten Flüchtlingskrise von 2015/2016 sowohl der Zugang zum Asylsystem als auch verfahrensrechtliche Standards und menschen- und EU-rechtlich verbriefte Schutzmechanismen des Asylsystems massiv abgebaut wurden“, sagt Sabine Hess. Teils sei dies über Gesetzespakete erfolgt, die immer mehr Gruppen aus dem vollen asylrechtlichen Schutz ausgeschlossen hätten, teils durch die Umsetzung von Verordnungen der Kommunen und Länder.
„Fragmentiert, unübersichtlich, durchlöchert“
Die Beschleunigung der Verfahren geht der Studie zufolge auf Kosten von Gründlichkeit, Sachverstand und Verfahrensrechten von Geflüchteten. Auch die Unterbringung in Großunterkünften wie den Anker-Zentren und Erstaufnahmeeinrichtungen habe die Chancen der Betroffenen auf ein faires Verfahren stark untergraben. „Entstanden ist ein höchst fragmentiertes, unübersichtliches und durchlöchertes Asylrecht in Deutschland mit stark eingeschränkten Verfahrens- und Schutzrechten“, so Hess.
Der Bericht analysiert die Entwicklungen seit 2011. Auf der Basis von 90 Interviews mit Geflüchteten, Juristen, Mitarbeitern von Ministerien und Nichtregierungsorganisationen sowie einer eingehenden Dokumentenanalyse nimmt er nicht nur die Gesetzesänderungen in den Blick, sondern auch ihre Umsetzung. Die Betrachtung von Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene ergibt starke Unterschiede in der Anwendung asylrechtlicher Regelungen. Daraus folgen sehr ungleiche Zugänge zu Rechten sowie Umsetzungen von Schutzstandards für Asylsuchende. Die Erfahrungen der befragten Asylsuchenden zeigen nicht nur diese fragmentierte Rechtslandschaft auf, sondern belegen auch, wie in jedem Schritt während des Aufnahme- und Asylverfahrens die verankerten Rechte gefährdet und in Frage gestellt werden.
„Nächste Zäsur nach Asylkompromiss“
Die Wissenschaftler erinnern an den sogenannten Asylkompromiss von 1992/ 1993, mit dem das Asylrecht im Grundgesetz bereits drastisch entwertet – „praktisch abgeschafft“ – wurde. Ursprünglich war in Artikel 16 so knapp wie eindeutig formuliert: Politisch Verfolgte genießen Asylrecht. Das galt vorbehaltlos, bis die Verfassungsänderung mit Artikel 16a dem Gesetzgeber das Recht gab, Einschränkungen wie sichere Drittstaaten und sichere Herkunftsländer festzulegen.
Die aktuelle Studie bezeichnet die Entwicklungen der Jahre 2015/2016 als eine „nächste entscheidende Zäsur“, die jedoch ganz ohne Verfassungsänderung eingetreten ist. Seit 2014 stieg die Zahl von ins Land kommenden Geflüchteten. Die Entwicklung wurde als Krise bewertet, als nationaler Notstand, in dem staatlicher Kontrollverlust drohe. So ließen sich zahlreiche Gesetzespakete verabschieden, die „den Zugang zum Asylsystem entscheidend einschränken und die Verfahrensrechte beschneiden“.
Chancen auf faire Verfahren sinken
Der Schwerpunkt der staatlichen Reaktionen sei sehr schnell auf die Beschleunigung der Asylverfahren und die Erhöhung der Abschiebungen gelegt worden. „Dabei wurden im internationalen, europäischen sowie im nationalen Recht verankerte Rechts- und Rechtsstaatlichkeitsstandards wie etwa das Recht auf ein faires Verfahren als Hindernisse gesehen, die so weit wie möglich abgebaut werden sollten.“
Die Menschlichkeit blieb auf der Strecke. Der Bericht zeigt, „dass es für die mit dem Asyl- und Aufnahmesystem befassten staatlichen Stellen, die eher einen humanitären Ansatz verfolgten, immer schwieriger wurde, diese Politik zu legitimieren“. Zugleich wurde vor dem eigentlichen Asylverfahren eine Reihe von Barrieren und Hürden errichtet, durch die „immer mehr Gruppen entweder völlig der asylrechtliche Schutz der Genfer Flüchtlingskonvention und des europäischen Asylsystems vorenthalten wird, oder ihre Chancen auf ein faires Asylverfahren stark eingeschränkt wurden“. Die Wissenschaftler nennen hier insbesondere die „mehr oder weniger willkürlichen Vor-Kategorisierungen entlang der nationalen Herkunft“.
Scharfe Kritik äußert der Bericht an den sogenannten Anker-Zentren. Die Unterbringung in isolierten Massenunterkünften über die gesamte Dauer des Asylverfahrens habe „stark negative Konsequenzen auf ein faires Asylverfahren“. Weitere Ursachen für die Einschränkungen von Schutzstandards sehen die Autoren in Gesetzen und Verordnungen, aber auch in behördlichen Inkompetenzen, persönlichen Ressentiments der Sachbearbeiter und in einem „strukturellen Misstrauen, das in den bürokratischen Verfahren des Asylsystems in Deutschland verankert ist“.
Bei all dem zeige sich, so die Autoren, dass die angestrebte Beschleunigung der Verfahren nicht erreicht wird, zumal wenn die Dauer der Prüfung von Rechtsmitteln berücksichtigt wird. Vielmehr müssten nun die Verwaltungsgerichte die Mängel der beschleunigten Verfahren ausbaden und die Aktenberge abtragen. Die „Phase der aufenthaltsrechtlichen Unsicherheit für Asylantragstellende“ sei unzumutbar.
Ehrenamtliche füllen Leerstellen aus
Der Bericht hebt die wichtige Funktion von Ehrenamtlichen und einer breiten Zivilgesellschaft hervor. Sie seien oftmals die einzigen Ansprechpartner für Geflüchtete, die sie durch das Verfahren begleiten, das Handeln staatlicher Institutionen überprüfen und somit die Leerstellen ausfüllen, die die gesetzlichen Einschnitte und Einschränkungen der letzten fünf Jahre hinterlassen haben.
Aus den Ergebnissen der Studie leiten die Wissenschaftler konkrete Empfehlungen ab, etwa die Gewährleistung sicherer Fluchtrouten nach und in Europa, die Vermeidung von Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit, die Überprüfung des Konzepts der sicheren Herkunftsstaaten, die Schaffung menschenwürdiger Lebensbedingungen und Kontaktmöglichkeiten sowie die Abschaffung der Abschiebehaft, „die sich in einer extrem hohen Zahl von Fällen als unrechtmäßig erwiesen hat“.
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'Wissenschaftler warnen vor schleichendem Verfall des Asylrechts' hat einen Kommentar
4. Februar 2020 @ 19:09 Juliane
Ich stimme diesem Artikel vollinhaltlich zu, finde aber auch, dass immer dann, wenn über Menschenrechte gesprochen wird, verstärkt über Menschenpflichten diskutiert werden müsste, wie das etwa Karl Stickler letztes Jahr in seinem gleichlautenden Buch angeregt hat.
Beste Grüße J. Dotzler