„Ich werde bedroht“, so der Titel im Berliner „Tagesspiegel“ am Sonntag. Der Pianist Igor Levit beschreibt in diesem Beitrag, wie er in einer E-Mail bedroht wurde. Sein Text ist ein Protest, ein Aufschrei gegen den wachsenden Antisemitismus, gegen Rassismus und gegen Frauenhass. Was er schildert, ist beileibe kein Einzelfall, täglich wird gegen die Menschenwürde verstoßen, wird beleidigt in Deutschland, werden Minderheiten angegriffen. Und nichts geschieht gegen die zunehmende Verrohung in unserer Gesellschaft, die mit der Sprache beginnt und mit der Tat schlimm endet. Der Rechtsextremismus ist auf dem Vormarsch, muss man das wohl nennen, und darf darauf hinweisen, dass eine Partei wie die AfD, die in ihren Reihen Neonazis, Rassisten, Antisemiten, Faschisten hat, längst in allen Landtagen, im deutschen Bundestag und im Europäischen Parlament vertreten ist. Wehret den Anfängen, dazu scheint es fast zu spät zu sein. Sie sind salonfähig geworden, die Rechten. Man darf sich wundern, 74 Jahre nach dem Ende des schrecklichsten aller Kriege, den die Nazis vom Zaun gebrochen hatten und der bis zu 70 Millionen Menschen das Leben gekostet hatte. Nie wieder, das war einmal, dieser Schwur ist vergessen, Geschichte.
„Wir müssen uns endlich wehren“, appelliert Igor Levit an den Mut, den Anstand, wenn man so will die Zivilcourage der Deutschen. Levit, der 1987 in Gorki geboren wurde und heute in Hannover lebt, der als einer der besten Pianisten der Welt gilt, hat schon mehrfach gegen Antisemitismus protestiert, 2018 gab er bei der Echo-Verleihung seinen ECHO zurück aus Protest gegen die Auszeichnung der Rapper Farid Bang und Kollegah. Begründung: „Antisemitischen Parolen eine solche Plattform und Auszeichnungen zu geben, ist unerträglich.“ Levit hat sich auch gegen die Ausgrenzung Geflüchteter zu Wort gemeldet. 2019 unterstützte er die Bewegung „Fridays for Future“ mit einem Klavierkonzert auf der Straße.
Angst um dieses Land
Levit bekommt Morddrohungen, er hat Angst, wie er in seinem nachdenklichen und nachdrücklichen Beitrag für den „Tagesspiegel“ sagt, Angst „nicht um mich, sondern um dieses Land. Mein Land. Unser Land.“ Und weil es sein Land ist, Deutschland, ist er mehr als irritiert, als ihm ein Journalist die Frage stellte, „ob denn Israel meine Heimat sei, denn ich sei ja Jude.“ Das passiert immer wieder, mag sein unbedacht, aber ich erinnere mich an Ignaz Bubis, den früheren Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, der, gefragt, sich stets einen Deutschen jüdischen Glaubens nannte. So ist es korrekt, denn Igor Levit ist Deutscher wie Ich und Du, wie Millionen andere Deutsche auch. Er gehört zur Bundesrepublik. Selbstverständlich.
Es ist erschreckend und beschämend, wenn einer wie er beschreibt, dass man ihn eine „Judensau“ genannt habe, der man „das Maul stopfen“ werde. Das sei vor Publikum geschehen, während er auf der Bühne saß. „Muss ich mir Sorgen machen“, fragt er sich und gibt selbst die Antwort. Nein, nicht um sich sorgt sich Igor Levit, sondern ihm geht es um die Zukunft des Landes, der Bundesrepublik. Und er zählt die bekannten Fälle auf, den Mord an Walter Lübcke, den Regierungspräsidenten von Kassel, ermordet von einem Rechtsextremisten, weil der sich über eine lange zurückliegende Bemerkung Lübckes geärgert hatte. Der CDU-Politiker Lübcke hatte Anfeindungen von Rechtsradikalen bei einer Veranstaltung getrotzt und sich bei ehrenamtlichen Helfern bedankt und betont, es lohne sich, in unserem Land zu leben. Da muss man für Werte eintreten.“ Und dann hatte er hinzugefügt: „Wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstanden ist.“ Im Netz wurde der Tod Lübckes teilweise begrüßt mit Worten wie: „Die Drecksau hat den Gnadenschuss bekommen.“
Angriffe auf Politiker
Man muss an den NSU-Terror 2011 erinnern, an die Gefahr durch rechte Gewalttäter, daran, dass ganz offensichtlich diese Gefahr viele Jahre von Sicherheitsbehörden unterschätzt wurde. Man hatte nicht hin-, sondern eher weggeschaut, wenn von rechter Seite gepöbelt, beleidigt und bedroht, ja letztendlich gemordet wurde. Nicht zu vergessen in diesem Zusammenhang der Anschlag auf die Synagoge in Halle. Man hatte Verschwörungstendenzen abgetan und nicht ernstgenommen, wenn Rechtsextremisten vor einer „Umvolkung“ gewarnt und damit andere nationalistische Kreise radikalisiert hatten. Immer häufiger werden Politiker angegriffen, dafür stehen die Fälle Martina Angermann, Bürgermeisterin von Arnsdorf, die aus Angst ihr Amt abgab, weil sie die anhaltenden Drohungen im Internet nicht ertragen konnte. Oder nehmen wir den Fall des Bürgermeisters von Altena im Sauerland, Andreas Holstein, der Opfer eines Messerangriffs wurde, weil der Täter seine Flüchtlingspolitik verachtete.
Igor Levit schildert weitere schlimme Vorfälle. Da schreibt die AfD-Abgeordnete Verena Hartmann an die Bundeskanzlerin: „Frau Merkel, was wollen Sie uns noch antun?, ich verwünsche den Tag Ihrer Geburt.“ Der Grund ihrer menschenverachtenden Attacke auf die Kanzlerin: ein in der Schweiz lebender Eritreer hatte am Hauptbahnhof in Frankfurt/Main ein Kind ins Gleisbett gestoßen, das Kind kam ums Leben. Wo sind wir gelandet, sprachlich verroht wie Barbaren? Einer wie der AfD-Fraktionschef im Bundestag, Alexander Gauland, kann ungestraft davon schwadronieren, dass Hitler und die Nazis nur ein Vogelschiss in unserer 1000jährigen Geschichte seien, er kann darauf verweisen, dass es Zeit sei, auf die Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen stolz zu sein. Er erntete dafür Bravo-Rufe von seinen AfD-Freunden. Stolz auf was? Den Vernichtungskrieg in Polen und in weiten Teilen der damaligen Sowjetunion mit Hilfe der Wehrmacht? Auf die Shoa, auf die sechs Millionen ermordeten Juden, die Euthanasie? Sie werden, man muss es so sagen, auch dafür gewählt, in den Bundestag, in die Landtage, ins Europa-Parlament. Dass die Wählerinnen und Wähler nicht gewusst haben, wem sie ihre Stimme gaben, lass ich nicht gelten. Die Äußerungen der Gaulands und Höckes sind öffentlich, sie sind bekannt, Höcke, der Spitzenkandidat der AfD in Thüringen, erhielt weit über 20 Prozent der Stimmen, der Mann, der das Holocaust-Mahnmal in Berlin eine Schande genannt hat. „Inside AfD“ nannte die AfD-Aussteigerin Franziska Schreiber ihr Buch über die Gefahr, die von dieser Partei für unsere Demokratie ausgeht. Sie macht darin unmissverständlich deutlich, warum die AfD und ihre radikalen Hetzer gefährlicher seien als je zuvor. Es scheint, als habe man ihre Warnungen auf die leichte Schulter genommen.
Wehrhafte Demokratie
Hass und Gewalt in Deutschland, auch gegen Muslime, gegen Migranten überhaupt, gegen Minderheiten, gegen Fremde, gegen Frauen, Homosexuelle, gegen Linke. Es passiert täglich. Nicht nur Merkel wird beleidigt, und niemand schreitet dagegen ein. Vor Jahren trugen Demonstranten bei einer Pegida-Demonstration im Osten Schilder mit sich herum, auf denen Merkel und der damalige Außenminister Sigmar Gabriel am Galgen gezeigt wurden. Das war kein Spaß, das ist bitterer Ernst. Aber keiner verklagte die Täter. Renate Künast, die Grünen-Politikerin, musste sich als „Stück Scheiße“ beschimpfen lassen und erlebte vor Gericht, dass dies erlaubt sei. Das soll angeblich Teil der Meinungsfreiheit sein, jedenfalls meinte das ein Richter. Es klingt wie Hohn. Ich hoffe nur, dass Frau Künast ihren Protest gegen diese Art von Rechtsprechung fortsetzt. Beleidigung kann doch nicht Linie unseres Rechtsstaates sein, das im Grundgesetz mit dem Satz beginnt: Die Würde des Menschen ist unantastbar, des Menschen, aller hier lebenden Menschen.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat mehrfach die Verrohung in unserer Republik beklagt und verurteilt, er hat immer wieder zu mehr Zivilcourage aufgefordert. Wo eigentlich bleibt der Aufstand der Anständigen? Warum lassen wir das zu, all die Beleidigungen, all den Hass, der verbal beginnt und tödlich endet? Erst das Internet, dann die Straße, lese ich in dem Artikel im „Tagesspiegel“ von Igor Levit. Und weiter heißt es dort: „Erst der fiktive, dann der tatsächliche Mord. Das ist Realität in Deutschland am Ende der 2010er Jahre.“ Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne, zitiert Levit den Sozialdemokraten Friedrich Kellner aus dessen Tagebuch-Aufzeichnungen während der NS-Zeit. Und Levit ergänzt die Mahnung: „Heute erneut zuschauen, wie Menschen in unserem Land systematisch ausgegrenzt, angegriffen, innerlich und äußerlich verletzt werden? Das geht nicht. (…) Wenn wir immer von der wehrhaften Demokratie reden, müssen wir- Bürger und demokratischer Staat- es endlich tun.“
Bildquelle: Wikipedia, Wmpearl – Eigenes Werk, gemeinfrei