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Die Verteidigung des Poetischen – Zur Aktualität Dieter Wellershoffs –

Petra und Joke Frerichs Von Petra und Joke Frerichs
3. November 2019
Bücher

Der Kölner Autor Dieter Wellershoff wäre am 3. November 94 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass möchten wir an einen Beitrag erinnern, den er 1972 geschrieben hat und der immer noch aktuell ist.

Fragt man nach Kriterien für die Beurteilung literarischer Qualität, reicht ein Blick auf die Bestsellerlisten nicht aus. Diese orientieren sich meist an Verkaufszahlen und damit an Marktgesichtspunkten. Über Geschmacksfragen hinaus sagt das wenig aus. Man muss schon etwas tiefer bohren, wie dies Dieter Wellershoff getan hat.

Als er seinerzeit einen Beitrag unter dem Titel Transzendenz und scheinhafter Mehrwert. Zur Kategorie des Poetischen schrieb, befand er sich als Schriftsteller (und hauptberuflicher Lektor) selbst in einem Findungsprozess. Allerdings waren die Parameter seiner ästhetischen Orientierung zu diesem Zeitpunkt längst klar abgesteckt: weder konnte er einer in Mode gekommenen Verheißung vom Ende der Kunst (und damit des Poetischen) zugunsten ihrer Politisierung und des Nachweises ihrer praktischen Nützlichkeit etwas abgewinnen, noch einer Richtung, in der sich die Sprache als Medium selbst genügt und das Schreiben sich vom Leben emanzipiert. Dagegen legte er die Messlatte für das Poetische etwas höher und formulierte erweiterte Ansprüche an das realistische Schreiben. Hierbei knüpfte er an die besten Traditionen in der Literatur an, bezog aber auch neuere Stilkonzepte wie etwa den Nouveau Roman ein, die ihm gleichermaßen Ansatzpunkte für seine Vorstellungen vom Poetischen lieferten.

In diesem Beitrag nimmt Wellershoff eine Erfahrung aus dem Literaturbetrieb (etwa bei Lesungen) zum Ausgangspunkt, die er als Autorenverhör bezeichnet. Gemeint ist die leidige Publikumsfrage nach einer bestimmten Zielgruppe des Schreibens, wie sie gerade in den siebziger Jahren üblich war (aber auch bis heute noch immer gestellt wird). Sie trifft den Autor metaphorisch gesprochen wie ein gezielter tödlicher Schuss. Denn sinnfälliger kann Literatur nicht zu Markte getragen werden: für eine Zielgruppe schreiben heißt für eine Konsumentengruppe, für den Absatz auf dem Literaturmarkt schreiben, Marketingstrategien verfolgen, um erfolgreich zu sein. Der mit dieser Frage konfrontierte Autor wehrt sich. Er will nicht verrechnet werden für feste soziale Positionen. Er sagt vielleicht, ich schreibe für niemanden. Oder, ich schreibe für Menschen, die ich nicht kenne. Irgendwo wird es welche geben. Er scheint auf etwas Unbestimmtes zu hoffen, er will sich nicht festlegen.  

Wellershoff steigert die Erfahrung des Autorenverhörs zu einer Gerichtsszene, um zu verdeutlichen, was hier wirklich geschieht, wenn die vermeintlich harmlose Frage nach der Zielgruppe und der sozialen Positionierung des Autors gestellt wird. Das Publikum, das den Autor verhört, will gar nicht den faulen Zauber verkrampfter Besonderheiten entlarven. Diese Gerichtsszene ist viel fundamentaler, viel feindlicher. Hier geht es darum, die Literatur in die bestehende soziale Realität einzubringen, sie funktionabel zu machen, sie einer instrumentalistischen, zweckhaften Denkweise zu unterwerfen und ihr zu verbieten, was ihre Kraft ausmacht, den erotischen, den utopischen Elan und dessen Ausdruck, das Poetische.

Gegen Tendenzen der Instrumentalisierung und Funktionalisierung von Literatur für fremde Zwecke hebt Wellershoff zur Verteidigung des Poetischen an. Um verständlich zu machen, was er unter dem Poetischen versteht, rekurriert er auf Beispiele in der Literaturgeschichte, allen voran auf Flauberts Madame Bovary. Diesem Roman entnimmt er eine Schlüsselszene, in der die zerstörte Hoffnung Mme. Bovarys auf ein gemeinsames Leben mit dem Geliebten im Bild eines Sommertages sinnfällig wird; wo ihre Wahrnehmung sich in Vieldeutigkeit und Widersprüchlichkeit auflöst; wo der innere Zustand der Unglücklichen sich nach außen wendet und als objektive Erscheinung zutage tritt.

Dieses intensive In-Erscheinung-Treten eines verborgenen, vom Begriff noch nicht eingeholten Sinns möchte ich eine poetische Erfahrung nennen. Sie scheint der Traumerfahrung verwandt zu sein oder dem staunenden überwältigten Schauen eines Kindes, das distanzlos einem neuen Eindruck ausgeliefert ist. Auch manche Erinnerungen haben etwas davon, wiederkehrende Bilder, die sich uns zeigen, ohne dass wir den Zusammenhang finden, in den wir sie wegordnen können. Vergessene Wünsche und Ängste scheinen im Hintergrund dieser Erfahrung bereitzuliegen. Sie geben sich nicht ganz zu erkennen, laden aber die Erscheinungen mit einem Strom von Energie auf. Alles kann poetisch sein, eine unverständliche Stimme im Nebenzimmer, ihr plötzliches Schweigen, ein Motorgeräusch, das Tropfen eines Wasserhahns … jeder Natureindruck, jedes Ding unseres täglichen Umgangs. Aber es muß dazu aus seinen gewöhnlichen Bezügen herausgerückt sein, muß uns größer, kleiner, näher, ferner erscheinen, es muß in ungewohnten Zusammenhängen oder Momenten auftauchen, erschreckend beleuchtet oder geheimnisvoll verdunkelt, und vor allem in seinem Für-sich-sein, seiner undurchdringlichen Dichte, die all unser Bescheidwissen abweist. Wir verfügen nicht mehr mit den Routinen unseres alltäglichen praktischen Umgangs über das poetische Objekt, es wird nicht mehr vom Kontinuum unserer Konventionen gebunden … diese Vertrautheiten sind alle gekündigt, und aus der wiederhergestellten ursprünglichen Fremdheit beginnt das Ding zu wuchern und etwas anderes zu werden. Es transzendiert die Welt eindimensionaler Faktizität. Der tropfende Wasserhahn wird zum Bild einer drohenden Gefahr oder der Einsamkeit, der Gefangenschaft, der vergehenden Zeit, der nichtigen Zeit des inneren Stillstandes und des Todes.

Die poetische Erfahrung ist nach Wellershoff demnach das vorbegriffliche In-Erscheinung-Treten eines verborgenen Sinns, ein Zustand gesteigerter Phantasietätigkeit, der sich Eindeutigkeiten und vordergründigen Zwecksetzungen verweigert, der die praktischen Erfordernisse der Realitätsbewältigung transzendiert und den Dingen einen anderen, verborgenen Sinn entlockt. Der Gegenstand des Poetischen verselbständigt sich, führt ein den alltäglichen Erfordernissen entrücktes Eigenleben, voller Symbolik und Transzendenz und doch etwas Reales, Für-sich-Seiendes. Das ist das Wesen der Poesie, und ohne die poetische Dimension der Transzendenz ist für Wellershoff keine Literatur von Bestand. Er verweist darauf, dass es zwischen den Bereichen Poesie, Imagination und Spiel auf der einen Seite und der Praxis auf der anderen Seite vielfältige Abgrenzungen und Vermittlungen gibt, die es zu bearbeiten gilt, damit der Mensch sich als historisches Wesen begreifen kann, das unabgeschlossen ist und in keiner Gestalt zur Ruhe kommt. Diejenigen, die den Praxiszwang der Literatur betonen, halten sich für fortschrittlich und revolutionär, obwohl sie in Wirklichkeit als neue Instanzen der Verdrängung fungieren, da sie ebenso rigoros wie offen reaktionäre Formen des ehemaligen Moralismus vertreten. Indem sie nämlich unterstellen, dass nichts artikulierungwürdig sei, was nicht unmittelbar wie Handlungsanstöße oder –anweisungen der praktischen gesellschaftlichen Veränderung diene und indem sie unter dem Begriff ‚Zielgruppe’ Maßeinheiten für Erlaubtes einführen, binden sie die Phantasie an das Bestehende und nehmen ihr die überschießende Kraft. Sie tilgen so das Bewusstsein, was denn in künftigen Realisationen der Freiheit eingelöst sein müsste, damit sie diesen Namen verdient. Die zweite Position, die auf Basis des Konzepts der repressiven Entsublimierung (nach Marcuse) argumentiert, verspricht als Lohn der Anpassung etwas mehr Lust und kann von daher ebenfalls als strukturbewahrende Strategie bezeichnet werden.  Weder der Praxiszwang, wie er vonseiten der Verfechter der politischen Funktion der Literatur proklamiert wurde, noch die Poetisierung des Alltags analog dem Diktum von der repressiven Entsublimierung, wie sie z.B. in der Werbung sich aufdrängt, indem sie den Gebrauchswert der Dinge zu utopischen Glücksverheißungen umfälscht, kann den fundamentalen Sinn des Poetischen in Kunst und Literatur aufheben oder ersetzen: dass sie dazu beitragen, die erstarrten gesellschaftlichen Verhältnisse zu transzendieren. Dieses Credo von Dieter Wellershoff hat an seiner Gültigkeit bis heute nichts eingebüßt – es ist im Gegenteil aktueller denn je.

Bildquelle: Pixabay, Bild von Christine Engelhardt, Pixabay License

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Tags: Dieter WellershoffGesellschaftGlückHoffnungLiterarisches SchaffenVerteidigung des Poetischenzum 94. Geburtstag von Dieter Wellershoff
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