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Home Politik

Das Gezerre um das Stromsystem der Ukraine – ein kaukasischer Kreidekreis?

Jochen Luhmann Von Jochen Luhmann
3. Februar 2022
Hochspannungsleitung mit Wartungsarbeitern
  1. Einleitung

Gute Politik sieht kommende Konfliktlagen voraus und entschärft sie rechtzeitig. Das ist bei der gegenwärtig akuten Konfliktlage zwischen den NATO-Staaten und Russland nicht geschehen – der Konflikt wurde zwar vorausgesehen, aber man sah seitens der NATO und auch seitens der EU mit ihrer Nachbarschaftspolitik keine Notwendigkeit, ihn rechtzeitig zu entschärfen. Man hielt Russlands Interessen für illegitim und Russland als Vertreter seiner illegitimen Interessen für impotent. Deswegen ist der lange Zeit nur schwelende Konflikt nun entfacht.

Deswegen, als Lehre daraus, wird hier auf einen kommenden Konflikt hingewiesen. Er ist mit dem EU-Ukraine-Abkommen von 2014 zwar nicht auf die Schiene gesetzt aber entscheidend beschleunigt worden. Seitdem wird das Vorhaben fahrplanmäßig betrieben. Der Zug fährt – man kann genau berechnen, wann es zum Knall wegen eines Aufpralls kommen wird. Erst dann, so die Programmierung bislang, wird die Politik das Problem auf den Tisch bekommen. Davor ist zu warnen.

2. Die Aufnahme der Ukraine in das kontinentaleuropäische Verbundsystem

Es geht, auch hier, um eine Mitgliedschaft der Ukraine. Diesmal geht es nicht um einen militärischen Club, diesmal geht es um die Mitgliedschaft des Stromsystems der Ukraine in einem Netzverbund. Die NATO-Mitgliedschaft, die der Ukraine formal im Jahre 2008 auf Druck der US-Regierung in Ausssicht gestellt worden ist, war ohne Angabe eines Zeitpunktes formuliert worden, als gesichtswahrender Kompromiß, um die US-Führung nicht als Verlierer dastehen zu lassen. Seitdem ist diese Formel, die das Gegenteil des faktisch Beschlossenen signalisiert, stereotyp von NATO-Gipfel zu NATO-Gipfel wiederholt worden. Dass die Pointe des Beschlusses von Bukarest die Zeitpunktlosigkeit ist, das Verschieben auf den Sankt-Nimmerleins-Tag, verblasst allmählich im öffentlichen Bewusstsein.

In diesem Fall ist es anders. Die Ukraine ist bislang noch eingebunden in das postsowjetische Verbundsystem IPS/UPS (Integrated Power System/Unified Power System) – „noch“ muss man betonen. Dass dies anders werden soll, ist 2005 mit einem Memorandum of Understanding (MoU) zwischen der EU und der Ukraine über die Zusammenarbeit im Energiebereich in den Blick genommen worden; im Jahre 2016 wurde das bestätigt. Ziel des MoU ist noch, höchst abstrakt, eine »vollständige Integration« der Energiemärkte der EU und Ukraine. Seit 2011 ist die Ukraine zudem Mitglied der europäischen Energiegemeinschaft. Das verpflichtet sie, schon sehr viel konkreter, die energierelevanten Teile des EU-Rechts sukzessive zu übernehmen.

Im Juni 2017 dann ging es an die Operationalisierung: Der Netzbetreiber der Ukraine (Ukrenergo) schloss mit dem Verband der europäischen Stromnetzbetreiber (ENTSO-E) eine Vereinbarung über die künftige Stromsystemanbindung. Die Synchronisierung mit dem Kontinentalnetz ist für 2023 geplant. In der Vereinbarung von 2017 wurden die technischen Schritte definiert, die erforderlich sind, um die Anbindung operativ vollziehen zu können.

3.     Synchronisierung oder nur Kopplung?

Die Synchronisierung ist die weitestgehende Form einer Anbindung. Die Netze werden dabei nicht nur miteinander verbunden, sie werden vielmehr als ein gemeinsames System mit gleichlaufender Phasenfolge betrieben. Das ist nicht unproblematisch. In Analogie zum militärischen Bündnissystem formuliert: Sofern auf den ukrainischen Partner mit seinem System Verlass ist, mehrt die Synchronisation die Möglichkeiten, zur gegenseitigen Unterstützung einzuspringen, erhöht sie die Sicherheit des expandierenden kontinentaleuropäischen Systems, des Westens also; der Übertritt des ukrainischen Systems vermindert zugleich die Sicherheit des Systems, das verlassen wird, des „russischen“ IPS. Ein Null-Summen-Spiel also. Wenn aber diese Voraussetzung der Verlässlichkeit nicht gegeben ist, wenn auf die Ukraine in geringem Maße lediglich Verlass ist, dann wächst eher das Ansteckungspotenzial bei Problemen und Ausfällen – dann mindert die Aufnahme eines „unsicheren Kantonisten“ die Sicherheit des kontinentaleuropäischen Systems.

Die Ukraine sieht das Vorhaben geopolitisch. Sie drängt deshalb auf eine Verbindung alsbald, bis 2023, sie plante, sich zu dessen Vorbereitung schon im jetzigen Winter 2021/22 vom russischen IPS lösen – ein Test der Isolation während weniger Tage ist jetzt im Februar bereits vorgesehen. Zunächst soll das ukrainische Stromnetz im Inselmodus, von allen Nachbarn abgetrennt, betrieben werden – man will Verlässlichkeit demonstrieren, indem man sich selbst steuert und ausbalanciert. Später, nach einigen Testläufen, soll das ukrainische System dann mit dem kontinentaleuropäischen Netz synchronisiert werden.

Wie bei der NATO gilt auch hier das Einstimmigkeitsprinzip: Dem Entschluss, die Ukraine mit dem kontinentaleuropäischen System zu synchronisieren, müssen sämtliche 42 ENTSO-E-Mitglieder zustimmen. Zu entscheiden haben das die Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB) der Mitgliedsländer, also im Prinzip kommerzielle Akteure. Die Vereinigung trifft ihre Entscheidung anhand technischer Parameter, die einen Sicherheitsgewinn erwarten lassen, also ein gesicherter Stromfluss durch gut gewartete und gut verwaltete Stromsysteme – das ist das Kriterium. Einen besonderen Einfluss werden bei der Entscheidung die ÜNBs der direkten Nachbarstaaten haben, d.i. der Slowakei, Ungarns, Polens und Rumäniens.

Man muss sich nicht zu 100 Prozent zusammenschließen. Eine andere Kopplungsoption wäre, die Ukraine über eine sog. Gleichstrom-Kurzkopplung (back-to-back, B2B) an das kontinentaleuropäische Netz anzubinden. So könnte Strom über die Grenzen fließen, ohne dass eine Synchronisierung erforderlich wäre. Das Risiko, dass Probleme im ukrainischen Stromnetz Ausfälle in Mitteleuropa zur Folge haben, würde mit dieser Option deutlich reduziert. Eine »back-to-back«-Kopplung würde allerdings im Krisenfall zur Sicherung der Netzstabilität in der Ukraine kaum etwas beitragen. Es wäre dann allein eine Integration zum Zwecke des Stromaustausches, des Transports von Mengen.

4.     Deutschland muss moderieren

Das Autoren-Team, dessen Ausarbeitung hier die Basis ist, sieht drei Handlungsoptionen für das Dreieck Berlin, Brüssel und Kiew – also erneut unter Ausschluss von Moskau, des ggfls. negativ Betroffenen:

  • Einzig den technischen Prozess laufen lassen. Wenn es keine klare politische Führung gibt, wäre zu erwarten, dass dieser Prozess – obwohl sich niemand offen gegen die Synchronisierung positionieren muss – keinen Abschluss finden wird. …
  • Sich auf eine Gleichstromkurzkupplung (B2B) beschränken. Das würde die Ukraine quasi im Inselmodus belassen ….
  • Einen klaren Fahrplan definieren, mit politischer Unterstützung für die technischen und politischen Prozesse.“

Die EU habe eine politische Entscheidung treffen, welche weitergehenden Reform- und Integrationsschritte die Ukraine politisch-regulatorisch sowie handels- und marktseitig zu vollziehen hat. Den Entscheidungsprozess müsse Berlin moderieren und vorbereiten. Dabei gelte es, die folgende künftige Konfliktlage im Blick zu behalten:

„Es drohen Spannungen mit Belarus und Russland. Im schlimmsten Fall könnte sich die Strom-Integrationskonkurrenz zu einer Stromblock-Konfrontation auswachsen.“ Ein hilfreicher Dritter, der so klug wäre wie der Richter im Kaukasischen Kreidekreis, ist nicht in Sicht. Man könnte aber auch aus dem Aufwuchs der Krise im NATO-Russland-Verhältnis Lehren ziehen.

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Tags: EnergieEnergiepolitikEUEuropapostsowjetische Energie VerbundsystemRusslandStromUkraineUkraine-Krise
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