Herrn
Dr. Hans-Jochen Vogel
Bundesminister a.D.
Bonn, den 30.09.2019
Lieber Hans-Jochen Vogel,
mit Erleichterung habe ich Dein Interview in der Wochenzeitung „Die Zeit“ zum Thema „Wohnen“ gelesen. Ich habe mich nach Selbstzweifeln ebenfalls wieder zu Wort gemeldet. Bei der dramatischen Lage der Partei halte ich das für eine Verpflichtung. Die Lage:
– Bei der Landtagswahl in Sachsen wären wir mit minus 60.000 Stimmen unter die 5% gerutscht.
– Seit Willy Brandt haben wir 575.000 Mitglieder verloren.
– 14 Vorsitzenden haben in dieser Zeit aufgegeben.
– In der folgenden Zeit führte der Vertrauensentzug fast zu einer Halbierung der Wähler.
– die Länder Hessen, NRW, Niedersachsen und Schleswig-Holstein gingen in dieser Zeit an die CDU. Nach der Niederlagen werden drei der Ministerpräsidenten befördert.
– in der Folge hat sich die Zahl der Ortsvereine von 22.000 auf 11.000 ebenfalls halbiert.
Wie das Unrecht haben auch personelle und inhaltliche Fehlentscheidungen Namen und Adresse. Leider gab es für die Niederlagen immer schnelle Begründungen. Z.B. die GroKo sei das Problem oder die Entwicklung der sozialistischen Parteien in Europa ebenso desaströs. Beides trifft nicht zu, denn Rot-Grün verlor bereits 6,7% und Portugal und Spanien belegen, dass der Trend kein Naturereignis, sondern umkehrbar ist. Ich denke, dass das Problem sind wir selbst. Eine von mehreren Sachen ist: die nachfolgende Generation hat fast alle methodischen und inhaltlichen Vorstellungen vergessen, die heute noch brennend aktuell sind.
– Eine spürbare Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktions Vermögen (Forderung im Orientierungsrahmen 1973-85).
– Umwelt- und Katastrophenhilfskorps (Grünhelme)
– Technologie
– Gewaltprävention an Schulen (Konflikt- Pädagogik)
– Umgestaltung der Rüstungsindustrie
– Kreislaufwirtschaft zu Rohstoffsicherung
– Entspannungspolitik im Inneren und Verbrechensbekämpfung (Orientierungsrahmen 1973-85).
– Konsequente Fortführung der Entspannungspolitik. Zwei Säulen-NATO (Willy Brandt).
– Zukunftsinvestitionsprogramm (Beispiel 1974) zur Verbesserung der Infrastruktur des Wohnungsbaus, der Bildungseinrichtungen und des Umweltschutzes
– „Mehr Demokratie wagen.“ (Willy Brandt)
Die aktuelle Mitgliederbefragung ist kaum dazu geeignet diese letzte Forderung zu erfüllen.
Ich kann auch nicht nachvollziehen, was den 45-köpfigen, nicht arbeitsfähigen Vorstand bewegt hat, eine Castingshow in 23 regionalen Konferenzen zu organisieren, ohne der Basis vorher ein Anforderungsprofil für den Parteivorsitz zu übermitteln: Operative, strategische und kommunikative Kompetenzen, sowie die Fähigkeit zur geistigen Führung, lässt sich dabei nicht ermitteln.
Für Kandidatenbewerber von der Basis wurde die Hürde so angehoben, dass sie keiner in der Ferienzeit überwinden konnte. Sie war eindeutig durch die Berufspolitiker im Parteivorstand auf sich selbst zugeschnitten. Die Regelung ist außerdem rechtswidrig:
„Der Versuch, über eine Mitgliederbefragung eine Doppelspitze durchzusetzen, widerspricht dem Organisationsstatut der Partei. Das Verfahren ist insgesamt unzulässig“, sagt Staats- und Verwaltungsrechtler Jörn Ipsen, ehemaliger Präsident des niedersächsischen Staatsgerichtshofs und Herausgeber des wichtigsten Kommentars zum deutschen Parteienrecht. Nach seiner Auffassung muss die SPD einen satzungsändernden Parteitag abhalten, bevor Kandidaten sich der Mitgliederbefragung stellen. Prof. Dr. Christoph Schönberger, Verwaltungsrechtler an der Universität Konstanz, hält schon die bestehende Regelung des SPD-Organisationsstatuts, wonach der alte Vorstand den neuen vorschlägt, für „autoritär und problematisch“. Mit ein bisschen Basisbeteiligung sei das kaum zu kaschieren. Das „verkorkste Verfahren“ zeige die ganze Misere der SPD. (Welt Online, 29.06.2019)
Vielleicht ist es Dir mit Deiner Autorität möglich, diesen freundlichen Unfug zu stoppen. Aktuell notwendig ist auch der methodische Ansatz von Egon Bahr: „Denn selbst bei einer absoluten Mehrheit ist es Aufgabe der Partei weiterzudenken als die Regierung handeln kann. Ist die Regierung zufrieden mit der Partei, dann hat die Partei nicht weit genug gedacht“.
Mit dem Langzeit Programm I (politisch-ökonomischer Orientierungsrahmen 1975-1985) waren wir einst die modernste Partei Europas. Das können wir wieder werden, wirft aber die längst fälligen Fragen nach dem zeitgemäßen Handlungsinstrumentarium der Partei auf. Im Spannungsfeld der Probleme von heute lautet die Kernfrage: „Wie ist soziale Gerechtigkeit, ökonomische Vernunft, und Ökologie unter Einbeziehung der Triebkräfte des Marktes in eine Balance zu bringen“.
Mit kurzfristigen pragmatischen Handeln sind die Probleme nicht lösbar. Das ist „Wurstelei“ (Helmut Schmidt).
Das Dilemma der GroKo besteht darin, dass die „roten Schritte“ sozialdemokratischer Politik nicht erkennbar sind. Das wird aber auch in jeder zukünftigen Konstellation ohne konkretisierte Grundwerte (Roter Zukunftsplan 2035) sein. Dabei wird die Partei funktionslos. Wilhelm Döscher sagte kurz vor seinem Tod: „Wer seine Vergangenheit nicht kennt, kann die Zukunft nicht gestalten“. Ich lege die Hoffnung, dass es Dir möglich ist, vielleicht mit den ehemaligen Vorsitzenden, eine Denkschrift zur Vergangenheit und Zukunft zu verfassen. Die Partei ist seit längerer Zeit ohne geistige Führung. Ich bin sicher, dass solche Anregungen auf fruchtbaren Boden fallen werden.
Ich wünsche Dir vor allem Gesundheit.
Mit herzlichen Grüßen vom Rhein an die Isar
Hans Wallow
(Der Originalbrief wurde an Hans Jochen Vogel und auch an Rolf Mützenich geschickt)
Bildquelle: Wikipedia, Bundesarchiv, B 145 Bild-F079283-0010 / Engelbert Reineke / CC-BY-SA 3.0
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