Der Holocaust-Gedenktag ist auch der Leningrad-Gedenktag, auch wenn die offiziellen Feiern immer erst im Mai stattfinden, im Rahmen der Siegesfeiern. 872 Tage dauerte die Einkesselung der Stadt Leningrad durch die deutsche Wehrmacht. Von Anfang hatte Hitler die Absicht, die Bevölkerung der Stadt, die längst wieder Sankt Petersburg heißt, auszuhungern, um sie auf diese brutale Art zur Aufgabe zu zwingen. Ein Verbrechen wider die Menschlichkeit. Mindestens eine Million Bürger der Stadt kamen ums Leben, verhungerten, verdursteten, erfroren, wurden erschossen. Erst am 27. Januar 1944, also vor 75 Jahren, endete das Leiden der Menschen in Leningrad. Die Wehrmacht, die ein Jahr zuvor in Stalingrad eine entscheidende Niederlage hatte einstecken müssen, war auf dem Rückzug, die Rote Armee marschierte gen Westen.
„Der organisierte Hungertod“ überschreibt der Berliner Tagesspiegel in seiner Sonntagsausgabe seinen Bericht über diesen Holocaust, der allzuleicht in Vergessenheit gerät. Ein Massensterben, geplant von den Nazis und mit Unterstützung der Wehrmacht, die eben nicht den sauberen, den gerechten Krieg führte, der zudem ein Angriffskrieg war. „Ein Interesse an der Erhaltung auch nur eines Teils dieser großstädtischen Bevölkerung besteht unsererseits nicht“, so steht es in einer Anweisung an die deutsche Kriegsmarine 1941 zum Angriff auf die Stadt. Schnell marschierten die Truppen der Wehrmacht auf Leningrad zu, standen vor den Toren der Stadt, die aber nicht kampflos übergeben wurde. Stalin hatte befohlen, jeden Meter sowjetischen Boden gegen die Aggressoren zu verteidigten, also überließ er die Bürgerinnen und Bürger im wesentlich ihrem eigenen Kampfgeist und Überlebenswillen.
Die Stadt war umzingelt, nur eine im Grunde winzige Lücke zum zugefrorenen Ladogasee ermöglichte einer Million Menschen die Flucht aus der Stadt. Es war ein bitterkalter Winter, die Lebensmittelversorgung brach zusammen, Heizungsrohre zerbarsten, es gab kein Wasser mehr. Wir, eine Gruppe von Bonner Journalisten, waren vor vielen Jahren in Sankt Petersburg und hatten Gelegenheit, mit älteren Bürgerin und Bürgerinnen dieser Stadt zu reden, an einem ihrer Feiertage anläßlich des Kriegsendes im Mai. Die Gespräche haben uns tief beeindruckt, die Schilderungen über diesen Kampf ums Überleben gegen eine vermeintliche Übermacht, gemeint die Nazi-Wehrmacht, machten uns sprachlos. Sie teilten jedes noch so kleine Stückchen Brot, sie fraßen, muss man wohl sagen, Leim oder Schmierfett, man kochte teilweise Ledergürtel oder -taschen aus, Gras wurde gegessen, man schlachtete Hunde und Katzen, ja es kam in einzelnen Fällen zu Kannibalismus. „Keiner ist vergessen und nichts ist vergessen“, steht auf der Mauer des Piskarew-Friedhofs. Dort sind Hunderttausende in Massengräbern beerdigt, Blockade-Opfer und Verteidiger des damaligen Leningrad. Wir erlebten, wie eine ganze Stadt an diesem Feiertag zum Friedhof geht, im Sonntagsgewand, einstige Soldaten mit Orden behängt, Blumen in den Händen, ältere Männer, Frauen, Kinder. Alle gedachten sie der Toten dieser schlimmen Zeit.
Putins Bruder Viktor starb an Diphtherie
Russlands Präsident Wladimir Putin, 1952 geboren, kommt aus Sankt Petersburg, er weiß aus der Geschichte um diesen verzweifelten Kampf seiner Freunde und Nachbarn seiner Eltern aus jener Zeit. Unter den Opfern war auch Putins älterer Bruder Viktor, der als Dreijähriger an Diphtherie gestorben war. Wladimir Putins Vater hatte im Krieg für die Stadt gekämpft und war schwer verwundet worden, seine Mutter wäre während der Blockade beinahe verhungert. Wie er selbst mal erzählt hat, hätten die Sanitäter sie bereits für tot gehalten und aus der Wohnung zur Bestattung bringen wollen. Sein Vater, der gerade aus dem Krankenhaus entlassen war und nach Hause kam, hätte sich eingemischt und seine Frau im letzten Moment gerettet.
Der organisierte Hungertod in Sankt Petersburg gehörte zur mörderischen Kriegsstragegie der Nazis für den gesamten Krieg im Osten. Schon bevor der Krieg gegen die Sowjetunion begann, hatte sich die deutsche Führung darauf festgelegt, dass die Wehrmacht von 1942 an ihren Ernährungsbedarf in Russland befriedigen sollte. Dabei wurden laut dem Protokoll einer Staatssekretärsrunde vom 2. Mai 1941 bis zu 40 Millionen Hungertote auf dem Territorium der UdSSR in Kauf genommen, schreibt der angesehene Historiker Heinrich-August Winkler in seiner „Geschichte des Westens, die Zeit der Weltkriege“(S.946). Man wollte den Osten germanisieren und deshalb Millionen vertreiben, aussiedeln oder erschießen. Millionen Bürgerinnen und Bürger auf dem Gebiet der Sowjetunion wurden von den Nazis, der SS und auch der Wehrmacht umgebracht, ganze Dörfer ausgelöscht.
Kirchen bejubelten Russland-Feldzug
Unter den ersten, die den Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 begrüßten, seien evangelische und katholische Kirchenmänner gewesen, schreibt Winkler an anderer Stelle. So habe der „Geistliche Vertrauensrat der Deutschen Evangelischen Kirche, an der Spitze der hannoversche Landesbischof August Marahrens, Hitler dafür gedankt, dass er „unser Volk und die Völker Europas zum entscheidenden Waffengang gegen den Todfeind aller Ordnung und aller abendländisch-christlichen Kultur“ aufgerufen habe. Der katholische Bischof von Eichstätt, Michael Rackl, habe den Russlandfeldzug als einen „Kreuzzug, einen heiligen Krieg für Heimat und Volk, für Glauben und Kirche, für Christus und sein hochheiliges Kreuz“ begrüßt.
Es war ein rassistischer Vernichtungskrieg, den die Nazis im Osten führten, mit Hilfe der Wehrmacht, wie längst bewiesen ist. Neben den sechs Millionen Juden und 200000 Sinti und Roma fielen besonders in Polen und der Sowjetunion Tausende und Abertausende „slawische Untermenschen“ der Besatzungsherrschaft der Nazis zum Opfer. Auf bis zu 14 Millionen wird die Gesamtzahl der Toten außerhalb von Kampfhandlungen im deutschen Machtbereich geschätzt, darunter auch 2,8 Millionen sowjetische Kriegsgefangene. Insgesamt wird die Zahl der Toten im Zweiten Weltkrieg mit 65 Millionen angegeben, darunter 6,4 Millionen Deutsche und bis zu 27 Millionen Menschen aus dem Gebiet der damaligen Sowjetunion.
Aber wie sagte der Parteivorsitzende der AfD, Alexander Gauland: es wäre Zeit, einen Schlussstrich unter die Nazi- Vergangenheit zu ziehen und eine Neubewertung der Taten deutscher Soldaten im Zweiten Weltkrieg vorzunehmen. Die Deutschen hätten das Recht, stolz zu sein auf die Leisutngen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen.
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'Die Aushungerung Leningrads durch die Wehrmacht war ein Verbrechen – Am 27. Januar 1944, vor 75 Jahren, endete die Belagerung der Stadt' hat einen Kommentar
28. Januar 2021 @ 15:59 Axel Günther
Sehr gute Zusammenfassung, aber den letzten Absatz mit der AfD hätten Sie sich schenken können. Das Problem ist doch nicht die AfD, sondern das penetrante Totschweigen des größten Kriegsverbrechens der Wehrmacht durch die „Qualitäts“medien und unsere ideologisierten Politiker. Wenn am Holocaust Tag noch nicht einmal erwähnt wird, dass am gleichen Tag die Hungerblockade von Leningrad beendet wurde, dann sagt das etwas über den notorisch gebrauchten Begriff einer „Erinnerungskultur“ aus. Letztes Jahr wurde dem gebürtigen Leningrader Putin in Yad Vashem die Möglichkeit gegeben, dort ein Denkmal für die Leningradopfer aufzustellen. Unser Bundespräsident Steinmeier war anwesend und erwähnte unglaublicherweise dieses Kriegsverbrechen in seiner in Englisch(?) vorgetragenen Rede mit keinem Wort. Steinmeier redet nicht über einen „Schlussstrich“, er hat ihn bereits vollzogen. Putin wurde von unseren Medien verhöhnt und es wurde nicht großartig erwähnt, warum er in Israel war.