Das Europaparlament emanzipiert sich. Statt des eigenen Zerfalls steht unverhofft seine Stärkung in Aussicht. Die Wähler haben der europäischen Demokratie einen kräftigen Schub verliehen. Darin liegt – bei vielen unerfreulichen Erscheinungen der Wahl – eine Chance.
Da ist zunächst die gestiegene Wahlbeteiligung. Sie wertet die Arbeit der 751 Abgeordneten auf und stärkt das Parlament. Das hat seit der ersten Direktwahl vor 40 Jahren nach und nach mehr Rechte erworben, steht im europäischen Machtgefüge aber noch vergleichsweise schwach da. Der Rat der Regierungschefs und die Kommission sitzen im Zweifel am längeren Hebel. Zwar brauchen sie für ihre Vorhaben in der Regel die Zustimmung des Parlaments; doch sind oftmals die Unterlassungen das größere Problem.
Gerade in den Politikfeldern, die ein gemeinsames Vorgehen erfordern und die Europäische Union auch als politische Gemeinschaft legitimieren, herrscht quälender Stillstand. Nicht nur beim Klimaschutz bleiben die europäischen Anstrengungen weit hinter den Notwendigkeiten zurück. Auch die Finanztransaktionssteuer, zum Beispiel, die den neoliberalen Auswüchsen Grenzen setzen soll, und die gemeinsame Flüchtlingspolitik ebenso wie die nationalistischen Bedrohungen stehen seit Jahren und Jahrzehnten ungelöst auf der Tagesordnung. Im Zweifel ist den Entscheidungsträgern im Rat das nationale Hemd wichtiger als der europäische Rock, und das Einstimmigkeitsprinzip verhindert Fortschritte.
Nun sind die Wähler aber nicht nur in größerer Zahl zur Wahl gegangen, sondern sie haben ihre Wahlentscheidung auch stärker als je zuvor an europäischen Themen ausgerichtet. Das unterstreicht die Bedeutung des historischen Friedenswerks und nimmt den Auftrag zur Überwindung der nationalen Egoismen ernst. Europa als Garant eines menschenwürdigen Lebens, der Menschenrechte und des Friedens kann nicht an inneren Grenzen haltmachen und muss auch seiner Verantwortung nach außen gerecht werden.
Die Wähler haben deutlich dazu aufgefordert, mehr Demokratie zu wagen. Die Zeiten der quasi großen Koalition von Christ- und Sozialdemokraten sind vorbei. Beide Fraktionen haben so viele Sitze eingebüßt, dass sie erstmals nicht zusammen über die absolute Mehrheit verfügen. Das Europäische Parlament wird bunter und vielfältiger. Grüne und Liberale sind zu einflussreicher Größe herangewachsen. Das verspricht einen demokratischen Wettstreit um bessere Ideen und Konzepte. Zugleich verringert es das Phänomen der national geprägten Entscheidungen. Die Europaabgeordneten müssen sich stärker von den Regierungen ihrer Herkunftsländer empanzipieren.
Eine erste Probe aufs Exempel wird die Wahl des neuen Kommissionspräsidenten sein. Für die Nachfolge von Jean-Claude Juncker haben sich bei der Wahl der CSU-Politiker Manfred Weber und der holländische Sozialdemokrat Frans Timmermans beworben. Am Rande aufschlussreich: während Timmermans PvdA im eigenen Land von der Spitzenkandidatur profitierte, hat Weber der Union offensichtlich keinen Bonus gebracht. Im Licht der neuen Mehrheitsverhältnisse kommt nun als dritte Anwärterin für das einem Regierungschef vergleichbare Amt die liberale Dänin Margrethe Vestager ins Spiel.
Das dürfte nun spannend werden. Der Bayer Manfred Weber hat nicht ohne Weiteres den nötigen Rückhalt, und außerdem wackelt die Zusage, dass nur einer der Spitzenkandidaten aus der Europawahl als neuer Kommissionschef in Frage kommt. Aus dem Rat der Staats- und Regierungschefs melden sich schon erste wie der französische Präsident Emmanuel Macron zu Wort, die zum gewohnten Verfahren zurückkehren und den Posten am Kamin auskungeln wollen.
So war es all die Jahre. Die in der EU zu vergebenen Ämter – auch die Präsidenten des Rates und der Europäischen Zentralbank – wurden im Kreis der 28 ausgeguckt, oft nach dem Prinzip, gibst du mir, geb ich dir. Die Aufstellung von Spitzenkandidaten zur Europawahl sollte das ändern und die demokratische Grundlage des Amtes sowie die Rolle des Parlaments stärken. Offiziell bleibt das Verfahren zwar unverändert: das Parlament wählt den Kommissionschef auf Vorschlag des Rates. Doch der hatte sich auf die Neuerung eingelassen und dem Kandidaten der stärksten Fraktion Unterstützung zugesagt.
Eine erste Hürde wird der EU-Gipfel sein. Falls das Spitzenkandidaten-Prinzip dort bestätigt wird, beginnt das Ringen um die Mehrheiten im Parlament. Das Gute daran: Es wird verstärkt um Inhalte gehen. Auch in Anbetracht der Schattenseiten dieser Wahl ist das eine ermutigende Entwicklung. Die Gruppierungen rechts von der EVP haben zwar weniger Sitze als befürchtet gewonnen, aber sie stellen für das Parlament eine erhebliche Bedrohung von innen dar. Der Erfolg der britischen Brexit-Partei birgt neben den Gefahren für die Parlamentsarbeit auch das Risiko eines chaotischen EU-Austritts der Briten Ende Oktober. Eine Hängepartie bei der Regierungsbildung wäre fatal. Europa muss sich an die Arbeit machen. Der Auftrag der Wähler ist unmissverständlich.
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