Die Monate April und Mai 1994 waren fürchterlich im Grenzgebiet von Zaire und Ruanda, in der Gegend rund um Goma. Etwas Unvorstellbares hatte sich ereignet: nördlich, südlich, westlich der Stadt hausten 1,2 Millionen Kriegsflüchtlinge aus Ruanda. Es gab keine Lebensmittel, kaum Wasser, keine Straße, keine Abwasserkanäle, keinerlei Verkehrsmittel. Die Menschen siechen dahin, sterben. Die Leichen liegen herum, schwimmen im Kivu – See. Die Cholera bricht aus. Es hängt ein entsetzlicher Gestank aus Fäkalien und Brennholz über der einst schönen Landschaft. Die Tiere sind vor den Kriegsflüchtlingen geflohen. Die Bäume werde abgeholzt. Niemand verhindert das. Es entsteht eine Landschaft des Grauens, über deren Berge sehr früh die prachtvolle Sonne ihre Strahlen über die noch stille Elendslandschaft schickt. Wenn die Transportmaschinen voll mit Hilfsgütern noch nicht fliegen, liegt diese gespenstische Ruhe über dieser Zone des Terrors, die keinen Namen hat und die auf keiner Karte verzeichnet ist. Der Kollege Bartholomäus Grill erinnert sich im Sommer jenes Jahres: „Selbst hartgesottenen Katstrophenreportern stand der Horror in`s Gesicht geschrieben.“
In Goma leben eigentlich nur etwa 80 000 Menschen. Wieviel es jetzt sind, kann auch der hilflose Bürgermeister auf der staubigen Hauptstraße vor seinem ärmlichen Hotel de Ville nicht sagen. Überhaupt kann er nur wenig sagen und noch weniger machen. Die Lkw`s der Hilfsorganisationen rumpeln Staub aufwirbelnd durch seine Stadt. Ob die Hilfsgüter nach irgendeinem System verteilt werden, ist nicht herauszubekommen. Daß mit ihnen profitable Geschäfte gemacht werden, ist sicher. Wer sie und nach welchem System mit wem macht, ist ebenfalls nicht herauszubekommen. Fest steht, es fehlt an allem, auch an zuverlässigen und konkreten Informationen. Das erinnert an Elias Canettis Buch „DAS GEWISSEN DER WORTE“: „Zu den unheimlichsten Phänomenen menschlicher Geistesgeschichte gehört das Ausweichen vor dem Konkreten. Nicht selten handelt es sich einfach darum, das Nächste zu vermeiden, weil wir ihm nicht gewachsen sind. Wir spüren seine Gefährlichkeit und ziehen andere Gefahren unbekannter Konsistenz vor.“
Das gilt auch für die Rolle der französischen Politik wie des französischen Militärs. In Goma ist eine Kaserne der Franzosen. Fallschirmjäger. Sie waren die wichtigsten Verbündeten „der Hutu-Despotie“ in Ruanda. Sie hatten dort Experten für den Aufbau des nationalen Geheimdienstes und Militärberater. Sie lieferten die Waffen an die die Tutsis abschlachtenden Hutus. Niemand spricht darüber. Auf Fragen gibt es keine Antworten. Die Franzosen tun so, als hätten sie mit dem Abschlachten jenseits der Grenze nichts zu tun und nie etwas zu tun gehabt. Sie stellen sich als Retter dar, geben vor, die fliehenden Tutsifamilien entlang der Straßen zu schützen. An deren Rändern liegen zahllose Leichen. Viele nackt, manche noch in Bastmatten gehüllt. An manchen Stellen werden die Toten aufeinander geworfen. Verwesungsgestand hängt über ihnen. Räumkommandos gibt es keine.
Der Ort Kimbuba liegt nicht weit von Goma entfernt. Ein Leichenfeld. Kleine Kinder hocken an seinen Rändern.
Die Toten wurden mit Macheten zerschnitten. Die Augenhöhlen sind leer. Helfer gibt es hier keine. Ärzte auch nicht. Dann kommen wir nach Katala mit seinen etwa 500 000 Flüchtlingen, zu spärlich, mühsam Überlebenden, die sich unter grünen und blauen Plastikplanen verkriechen. Die haben sie von den verschiedenen Hilfsorganisationen. Wir haben noch nie eine halbe Million überwiegend sterbender Flüchtlinge gesehen und nehmen den Einzelnen auch gar nicht mehr wahr. Die Schmerzen sind nicht zu ertragen, wie auch der Anblick nicht zu beschreiben ist. Die Opfer sind es auch nicht.
Einen Waffenstillstand hat außer dem kanadischen UN – Oberst Romeo Dallaire und den Opfern niemand gewollt. Auch die Vereinten Nationen und auch der damals für Afrika zuständige Kofi Annan nicht. Dallaire hat den Krieg nicht verhindern, die Mörder nicht bekämpfen dürfen. Etwas, worüber er bis heute nicht hinweggekommen ist.
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Anmerkung der Redaktion:
Vor 25 Jahren begann das schreckliche Morden in Ruanda, ein furchtbarer Krieg in Afrika, der auch ein internationaler Konflikt war.
Unser Autor Jörg Hafkemeyer hat als ARD – Korrespondent aus dieser Todeszone berichtet für die deutschen Radio- wie Fernsehsender. Hafkemeyer ist zudem Autor der 1995 ausgestrahlten ARD-Dokumentation „Im Palast des Leoparden“ über den Ruanda-Krieg mit einem Exklusivinterview mit General Mobutu. In dem zweiteiligen Text für den Blog-der-Republik erinnert Hafkemeyer an das Morden in dem zentralafrikanischen Land, an die Rolle des zairischen Diktators Mobutu, an die vergeblichen Bemühungen des kanadischen UN – Kommandeurs, Oberst Romeo Daillaire, an die vielen Toten und Flüchtlinge.
Es ist unfassbar, was dort passiert ist. Vor allem, es war kein Krieg zwischen Ethnien, sondern zwischen Klassen oder Schichten eines Volkes! Armer Jörg. Das mit ansehen zu müssen, war schrecklich.