Buchtitel
Achterbahn von Ian Kershaw

Europa nach dem Höllensturz und in der Achterbahn

Der renommierte britische Historiker Ian Kershaw hat zwei große Werke über Europa geschrieben. „Höllensturz“ hat er die Zeit zwischen 1914 und 1949 beschrieben, also im Grunde zwischen den beiden Weltkriegen, als Europa sich fast selbst umgebracht hat. Das zweite große Werk, das er vor ein paar Wochen vorgestellt hat, nennt er „Achterbahn“, auf der Europa sich seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges befindet. Europa fährt Achterbahn, schreibt Kershaw treffend und wünscht sich nichts Sehnlicheres als den Erfolg der europäischen Idee. Europa könne aufsteigen und abstürzen, aus der Kurve fliegen. Wenn wir nicht aufpassen.

Die Konflikte, vor denen Europa steht, sind gewaltig, sie reichen vom Klimawandel, über die Demographie, die Energieversorgung, die Massenmigration, die Automatisierung, die größer werdende Einkommenskluft, über Fragen der internationalen Sicherheit bis zur Gefahr weltweiter Konflikte. Kershaws Empfehlung an die Europäer: „In gefährlichen Gewässern bleibt der Konvoi am besten zusammen und vermeidet es, auseinanderzudriften.“ Ungeachtet aller Mängel solle man „auf dem Maß an Einheit, Kooperation und Konsens aufbauen, das seit dem Zweiten Weltkrieg nach und nach geschaffen worden ist.“ Durch gutes Navigieren könnten „alle die vor uns liegende gefährliche Meerenge unbeschadet passieren und sicherere Küsten erreichen.“ Das ist der Wunsch des Historikers Kershaw, der aber unsicher ist, ob dieser Wunsch in Erfüllung geht, ob die Europäer beieinander bleiben. Auch wenn für jeden Normalbürger klar sein müsste, dass Europa nur eine Chance gegen die übrige Welt hat, wenn es zusammen bleibt. Nur dann kann es sich behaupten gegen China, Indien und andere Großmächte. Jeder einzelne europäische Staat, auch das mächtige Deutschland, wäre zu klein und überfordert. Aber die EU mit ihren 550 Millionen Bürgern stellt eine Macht dar.

Europa hat seit 1950 eine Menge erreicht, man könnte stolz sein darauf und versteht manche Kritik an der Idee Europa nicht, vor allem dann nicht, wenn sie darauf ausgerichtet ist, Europa zu zerstören. Dann nämlich müsste man laut dazwischenfahren: Seid Ihr denn verrückt geworden? Habt Ihr so schnell vergessen, was in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts alles auf unserem Kontinent passiert ist? Mord und Totschlag, Millionen und Abermillionen Tote, Holocaust, Vernichtungskrieg, Verwüstungen, wohin das Auge blickte 1945. Das alles sind keine Erfindungen, das ist die Kurzfassung der schrecklichen Geschichte auf diesem Kontinent, die aber kaum noch jemand zu interessieren scheint. Als wäre der Friede eine Selbstverständlichkeit, als wäre der Wohlstand in Europa etwas Natürliches.

Im „Bonner Generalanzeiger“ las ich eine interessante Geschichte vom Brüsseler Korrespondenten des Blattes, Detlef Drewes, ein Mann, der von der „Augsburger Allgemeinen“ kommt und dort Politik-Chef war. Er liefert einen Überblick über die Stimmungslagen in Europa, beschreibt, was den Titel seiner Story ausmacht: „Warum sich jeder etwas anderes von der EU erwartet.“ Dabei könne die EU zufrieden sein, beginnt der Journalist seine Seite-3-Geschichte. Die Bürger stünden hinter dem europäischen Projekt- und das in einem Ausmaß, wie es zuletzt nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 und nach dem Maastrichter Vertrag 1992 gewesen sei.  Wörtlich schreibt Drewes: „Quer durch alle Mitgliedsstaaten und in allen Altersgruppen sind mindestens 60 Prozent für das gemeinsame Europa und halten die Mitgliedschaft ihres Landes in der Union für eine gute Sache.“

Dann könnte man sich eigentlich beruhigt zurücklehnen ein paar Wochen vor der Wahl zum Europäischen Parlament. Doch das Bild sei trügerisch, weil die Menschen mit den Institutionen eben nicht so zufrieden wären. So habe eine Befragung von 16- bis 26jährigen Deutschen ergeben, dass nur ein Drittel den Institutionen wie dem EU-Parlament vertrauten.

Jeder 3. Grieche ohne Job

Und die Stimmung in den EU-Ländern klaffe weit auseinander- ungeachtet aller wirtschaftlichen Erfolge, für die die EU stehe, ungeachtet der Tatsache, dass sie global die Nummer 1 sei, die täglich 9,5 Milliarden Euro erwirtschafte. Das Gefühl vor Ort sei aber ein anderes, weil die soziale Schieflage nicht darüber hinwegtäusche, wenn es Probleme  zum Beispiel in Portugal und in Spanien gebe, auch in Italien wie in Griechenland kann man sich nichts dafür kaufen, dass Deutschland der Wirtschaftsriese und Exportweltmeister ist. Da liegen Wohlstand und Armut ziemlich dicht beieinander. Eine Ärztin in Griechenland, Mutter von drei Kindern, verdiene eben nur 1000 Euro im Monat und müsse davon noch ihre Eltern versorgen, die eine Rente von zusammen 800 Euro hätten, beschreibt Drewes die Lage im Süden des oftmals so gepriesenen Abendlandes. Und auch wenn Athen, wie er weiter schreibt, seine finanzielle Auferstehung feiere, weil nicht mehr 54 Prozent, sondern nur noch 39 Prozent ohne Job dastünden, so wirkt das doch ziemlich beklemmend. Denn in der Realität sei immer noch jeder Dritte in Griechenland ohne Arbeit.

Natürlich gibt es Aufsteiger, wenn man so will Gewinner. Politikforscher sprächen in Polen, Ungarn, in Tschechien oder der Slowakei von einer gut ausgebildeten Mittelschicht, die im Europa des 21. Jahrhunderts groß geworden sei, modern fortschrittlich, offen. Ljubljana, die Metropole Sloweniens, vergleicht der Brüsseler Korrespondent mit Wien, weil es mit EU-Mitteln aufgepäppelt worden sei. Ähnliches haben wir auf einer Reise vor zwei Jahren durch Polen erlebt, durch Litauen, Lettland, Estland, überall sah man die Hinweise, gefördert mit Mitteln der EU. Vieles sah schmuck aus, sauber und gepflegt, aufgebaut, ausgebaut oder neu gebaut. Und doch hat dies nicht dazu geführt, dass man dort europäisch denkt. Gerade in Polen wächst der Nationalismus wie in Ungarn, kann man dort mit Parolen Politik gegen Europa machen. Sie nutzen Stimmungen aus, um noch mehr Mittel aus den Brüsseler Fördertöpfen zu erhalten, sie machen die angebliche Angst vor dem großen Bruder im Osten, Russland, zum Thema und bejubeln Nato-Manöver entlang der russischen Grenze. Propaganda ist das, nicht mehr. Jeder weiß doch, dass für Polen wie für alle Nato-Staaten die Beistandsverpflichtung gilt im Falle einer Aggression. Man muss ja Russlands Präsidenten Wladimir Putin nicht mögen, aber man sollte ihn nicht für so dumm halten, dass er in Polen einmarschieren würde.

Europa ist sich nicht einig, das weiß man spätestens seit der Flüchtlingsfrage. Bei der Verteilung der Flüchtlinge nach einem für alle EU-Staaten gleichen Schüssel sperren sich Polen und andere. Es gebe immer wieder andere Koalitionen in der EU, lesen wir bei Drewes weiter, bei Flüchtlingen halte der Osten mit dem Süden der Gemeinschaft zusammen, wenn es um soziale Standards gehe, stünden die Mittelmeer-Anrainer in einer Front, wenn es um Steuersparmodell gehe, kämpfe jeder gegen jeden, beschreibt der Journalist die Lage in der EU.

Dass Europa unterschiedlich ist, macht doch auch den Reiz Europas aus, das gilt für die Kulturen in den Ländern der Gemeinschaft, das Theater, die Musik, die Architektur, die Sprachen, das Essen und Trinken, das Feiern, das gilt für den Sport, namentlich den Fußball. „Das müsse man nicht harmonisieren“, zitiert Drewes einen britischen Staatsbürger, der aber hinzufügt: „Aber trotzdem zusammenhalten.“

Erfolge und Fehler in Europa

Zurück zu Ian Kershaw. Zurück zu dem, was Europa nach 1945 alles geleistet hat, also die Erfolge, und sich alles geleistet hat, womit ich die Fehler meine, die gemacht wurden. Auch wenn dieses Europa jetzt nicht und vielleicht in Jahren nicht dazu in der Lage ist, sich eine gemeinsame Regierung zu schaffen nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten von Amerika, mit einem einheitlichen Budget, einem Außenminister, einem Präsidenten usw. , muss man von einem Wendepunkt in der europäischen Geschichte sprechen, der Frieden geschaffen hat zwischen den einst verfeindeten Nationen wie Deutschland und Frankreich, der wirtschaftlichen Aufstieg herbeigeführt hat, der für eine kulturelle Verzahnung der europäischen Länder gesorgt hat. Das ist das Fundament der europäischen Gemeinschaft, an deren Vertiefung man sorgsam arbeiten sollte, aber bitte nicht überhastet. Der Kalte Krieg ist überwunden, der Eiserne Vorhang gefallen, die Grenzen in Europa verschwunden, wir haben an vielen Orten eine gemeinsame Währung, den Euro, wir können verreisen, wohin wir wollen, studieren, wo wir wollen, leben, wo wir wollen.

Es gibt Probleme, in Deutschland, zwischen Deutschen im alten Westen und im Osten, aber das ist ein anderes Thema, da geht es um die sozialen Schieflagen, die es gibt zwischen Gelsenkirchen und Starnberg, aber auch zwischen Bayern und Sachsen-Anhalt, um nur diese zu nennen. Wir müssen in ganz Europa darauf achten, dass Menschen nicht abgehängt werden oder sich abgehängt fühlen, dass sie sich zu Hause fühlen in Gelsenkirchen, Zwickau und Starnberg, in Neapel wie in Charleroi, auf Kreta wie in Kroatien.

Wir müssen die Fehlentscheidung des Westens, wie Kershaw das nennt, irgendwann korrigieren, Russland gehört an den Verhandlungstisch. Der Westen hat Moskau abschätzig behandelt, die Amerikaner wie die Europäer haben die Nato-Osterweiterung einfach gemacht, ohne Rücksicht auf Russland zu nehmen, man hat Russland, man hat Putin gedemütigt,  die Ukraine-Politik, die Annexion der Krim waren die Folgen.

Akt von Selbstbeschädigung

Den Brexit nennt Kershaw „den größten Akt nationaler Selbstbeschädigung“ in der Nachkriegsgeschichte, hierbei habe die Einwanderung aus den EU-Ländern eine entscheidende Rolle gespielt. Womit wir bei einem schwierigen Thema in Europa wären: Aufstieg von Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit, verbunden mit Angriffen auf die Zusammenarbeit und Integration in Europa. Der Klimawandel hat uns alle erfasst, er ist da und er ist zu spüren. Ignoranz ist fehl am Platze. Die soziale Ungleichheit habe ich schon erwähnt wie den Turbo-Kapitalismus.

Was uns fehlt, ist das europäische Narrativ, die Geschichte über unser Europa, die uns verbindet im Guten wie im Schlechten. Wir sollten sie uns von den Nationalisten und Fremdenfeinden nicht kaputt reden lassen, wir sollten sie verteidigen. Es lohnt sich. Die größte Hoffnung Kershaws ist, „dass unsere Enkel und ihre Generationen in Europa weiterhin in Frieden, Freiheit und Wohlstand leben mögen, welche, wie unvollkommen auch immer, die Nachkriegsgeneration sich zu schaffen bemühte. “

Quelle: Ian Kershaw: Achterbahn. Europa 1950 bis heute. DVA München. 2019. 828 Seiten. ISBN 978-3-421-04734-2.
Bonner Generalanzeiger: Detlef Drewes: Warum jeder etwas anderes von der EU erwartet.

Bildquelle: Buchcover, DVA Verlag

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arbeitete als stellvertretender Chefredakteur und Berliner Chefkorrespondent für die WAZ. 2009 gründete Pieper den Blog "Wir in NRW". Heute ist er Chefredakteur des Blogs der Republik.


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