Enorm stolz sei sie, schreibt Judith Sargentini bei Twitter, kaum dass das Europäische Parlament das mit Spannung erwartete Abstimmungsergebnis zu Ungarn bekanntgegeben hat. Stolz auf die breite Unterstützung durch das Parlament und dankbar dafür, dass ihre Kollegen – unabhängig von parteipolitischen Interessen – für den Schutz von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit eintreten.
Die Grüne aus den Niederlanden zeichnet verantwortlich für den Bericht, der nun Grundlage eines bisher in der Europäischen Union einmaligen Vorgangs ist. Das Parlament fordert die Mitgliedsstaaten der EU auf, ein Verfahren nach Artikel 7 Absatz 1 des EU-Vertrags einzuleiten. Das ist die schärfste Waffe, die der Europäischen Union zum eigenen Schutz zur Verfügung steht. Der ungarischen Regierung könnte am Ende das Stimmrecht im Europäischen Rat entzogen werden. Ein rigoroser, aber gegenüber dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban fälliger Schritt.
Dem Führer der nationalkonservativen Fidesz-Partei sind dringend die Grenzen seines autokratischen Kurses aufzuzeigen – zum Schutz der europäischen Grundwerte und zum Schutz der ungarischen Bevölkerung, deren Grundrechte die EU garantiert. Die Achtung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten ist nicht verhandelbar. Mit deutlich mehr als der geforderten Zwei-Drittel-Mehrheit stellte sich das Parlament in Straßburg hinter die von Sargentini eindringlich beschriebene Bedrohung der Unionswerte. Das ist ein gutes Signal, zumal es im heraufziehenden Wahlkampf tatsächlich Zweifel gegeben hatte, ob die konservative EVP-Fraktion, der auch Orbans Fidesz-Partei angehört, ausreichend Rückgrat beweisen würde.
Der Chef der EVP-Fraktion, Manfred Weber, ist ein CSU-Politiker aus Bayern und zeigte sich im Umgang mit den Orbanisten in seiner Fraktion überaus nachsichtig. In der CSU haben ja viele Spitzenleute ihre Sympathie für den ungarischen Premier offen zu erkennen gegeben. Und so ließ – gegen den wachsenden Unmut in den eigenen Reihen – auch Weber die Fidesz-Abgeordneten gewähren, erklärte Europafeinde, die nicht an gemeinsamen politischen Lösungen, sondern einzig und allein an den Brüsseler Subventionen interessiert sind.
Nun schickt sich Weber an, bei der Europawahl im Mai 2019 als Spitzenkandidat der Konservativen anzutreten, und deshalb brachte Orban ihn jetzt doch irgendwie in Bedrängnis. Webers Wählbarkeit für das angestrebte Amt des Kommissionspräsidenten wäre doch erheblich in Frage gestellt, wenn er so offenkundig mit den illiberalen Gegnern der europäischen Einigung paktieren und um Unterstützung durch die erstarkenden Nationalisten buhlen würde.
In den kommenden acht Monaten bis zur Wahl zum Europäischen Parlament dürfte sich auch dort noch einiges an Umwälzungen ergeben. Der österreichische Vize-Kanzler Heinz-Christian Strache von der rechtsextremen FPÖ hat der ungarischen Regierungspartei bereits Avancen für ein Zusammengehen gemacht. Italiens Vizepremier Matteo Salvini von der fremdenfeindlichen Lega wäre als Bündnispartner willkommen. Im Hintergrund werkelt der US-amerikanische Rechtsextremist Steve Bannon an einer Kampagne zur Stärkung der nationalistischen und rechtspopulistischen Kräfte in den EU-Mitgliedsländern.
Auch auf Seiten der Pro-Europäer geraten die herkömmlichen Strukturen in Bewegung. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron strebt eine breite pro-europäische Allianz an. Der Chef der Liberalen im Parlament, Guy Verhofstadt, will mit ihm eine Alternative zu den Nationalisten schaffen. Doch Macron will mehr. Nach dem Vorbild seiner Bewegung „En Marche“ in Frankreich, will er Kräfte aus allen Lagern gewinnen, von der EVP ebenso wie von den Sozialdemokraten und Grünen. Und natürlich will er auch eine Alternative zu Manfred Weber als Nachfolger von Jean-Claude Juncker präsentieren.
Die jahrzehntelange gemeinsame Mehrheit von Konservativen und Sozialisten im Europäischen Parlament ist also keineswegs mehr sicher. Damit sind auch die alten Gepflogenheiten einer praktisch permanenten großen Koalition perdu. Und zu Manfred Weber, der sich schon so siegesgewiss gab, als er seine Spitzenkandidatur verkündete, könnte es eine Alternative geben. Die Kommission braucht an der Spitze eine überzeugte und überzeugende Persönlichkeit, bei der auch nicht der leiseste Verdacht aufkommt, dass die Interessen der bayerischen Regionalpartei Vorrang vor Europa haben. Schließlich geht es um nicht weniger als die Existenz der Europäischen Union.