In den Vorständen börsennotierter Unternehmen sitzen mehr Personen, die Thomas und Michael heißen, als Frauen insgesamt[1] – das ist nicht neu, doch immer wieder schockierend. Ein weißer, älterer Mann – nennen wir ihn mal Thomas – rekrutiert als seinen Nachfolger einen weißen, etwas weniger alten Mann – nennen wir ihn mal Thomas. Deutschland steckt fest im Thomas-Kreislauf. Das patriarchale System der Macht reproduziert sich in den deutschen Börsenvorständen so sichtbar wie in kaum einem anderen Bereich. Im Machtzentrum Deutschlands herrscht virile Monokultur. Das durchschnittliche Vorstandsmitglied ist männlich (93%), deutsch (76%), 1964 geboren und Wirtschaftswissenschaftler (48%) oder Ingenieur (23%).[2]
„Warum ist das ein Problem? Wenn es doch nun mal die qualifiziertere Person ist?“, mag der ältere, weiße, männliche Leser ob seiner monokausalen Weltsicht jetzt fragen. Das Problem: Mit Qualifikation und Bereitschaft hat der Thomas-Kreislauf schon lange nichts mehr zu tun. Frauen sind so gut ausgebildet wie nie zuvor. In „der Pipeline“ (der Führungsebene unter den Vorständen) sind genug Frauen, die Thomas gerne ablösen würden. Die Gründe für die stetige Reproduktion dieser homogenen Strukturen liegen woanders.
Auf Kampnagel hat das diesjährige EuropaCamp dem Problem ein ganzes Panel gewidmet – mit Sina Frank, Çiğdem İpek, Claudia Neusüß, Anne Rolvering und Philipp Sälhoff. Während Trainerin und Coach Claudia Neusüß einen demotivierenden Überblick über die Situation der Frauen in der Geschäftswelt gab, sprach Philipp Sälhoff die Rolle und Aufgabe der Männer im Kampf gegen die patriarchale Unterdrückungsmaschinerie an. Ohne Mitarbeit der Männer – keine Gleichberechtigung der Frauen. Eine traurige Wahrheit, die bereits Simone de Beauvoir 1949 in „Das andere Geschlecht“ attestierte. Für „den Anderen“ (in diesem Falle „die Andere“) ist es grundsätzlich ungemein schwierig, sich aus der Unterdrückungsposition zu befreien. Und auch 2019 sind Frauen leider immer noch „das Andere“ – wir sind nicht Thomas. Doch wie können die Männer mithelfen? Und wie kann die Benachteiligung der Frauen in der Arbeitswelt überwunden werden?
Als eine Zuschauerin aus dem Publikum fragte, was sie zum Ergebnis einer Studie sagen würden – dass sich Jungs und Mädchen bis zur Pubertät gleichermaßen Entscheidungen zutrauen und sich dies bei Mädchen erst ab der Pubertät verschlechtert – antwortete Philipp Sälhoff (sic!), man müsse den Mädchen dann gut zureden und Selbstvertrauen mitgeben. Seine Antwort verdeutlicht dabei leider genau jene Bruchstelle der Sozialisation und die Diskrepanz der Erfahrungswelten von Männern und Frauen, die es zu überwinden gilt – so einfach, wie er es sich als privilegierter Mann vorstellt, ist es nicht. Gutes Zureden hilft mir nicht, ein Thomas zu werden. Auch Claudia Neusüß argumentierte, dass sich Frauen Führungspositionen zutrauen müssen und dabei unterstützt werden müssen – Verbesserungsvorschläge, die leider nur an der Oberfläche des Problems kratzen. Ist unsere einzige Chance ein – wie Frigga Haug ihn nennt – Elite-Feminismus à la Thea Dorn, der auf die Leistungsfähigkeit von Frauen setzt? Sollte der Fokus darauf liegen, Frauen zu coachen, um sich die Praktiken der männlichen Macht anzueignen und zu Nutze zu machen? So würde es auch eine Svenja Flaßpöhler sehen.
Mehrfach wurden im Panel „die Strukturen“ angeprangert – welche genau und wie sie konkret verändert werden könnten, blieb schwammig. Auch beim Thema Karriere und Familie blieb das Panel noch zu unkritisch und positionierte sich konform zu konservativ-feministischen Positionen, die Vereinbarkeit von Familie und Arbeit im Sinne neoliberaler Bestrebungen – Frauen als Marktsubjekte zu „empowern“ – fordern. Auch damit sind wir noch kein Thomas. Lediglich Sina Frank merkte an, dass gerade neue Arbeitskonzepte wie „Home-Office“ häufig zur Verschleierung der doppelten Belastung von Frauen durch Familienarbeit und Lohnarbeit führe. Die Mutter arbeitet von Zuhause aus, während sie parallel das Mittagessen für die Kinder kocht oder bei Hausaufgaben hilft.
Die wichtige Frage – nämlich, ob die Unterdrückung der Frauen nicht systemimmanent ist – wurde nicht gestellt. Wir leben in einer Leistungsgesellschaft. Und Frauen, die immer noch den Bärinnen-Anteil aller Reproduktionsarbeit übernehmen, sind nicht gleichermaßen leistungsfähig wie Männer. Laurie Penny schreibt in „Fleischmarkt“, der Kapitalismus würde in dem Moment zusammenbrechen, in dem sich Frauen wohl in ihren Körpern fühlten und aus dem Druck auf weibliche Körper nicht mehr Profit geschlagen werden könnte. Gleichermaßen würde das System zusammenbrechen, wenn alle Frauen Pflege- und Sorgearbeit bestreiken würden. Welcher Thomas könnte dann noch arbeiten gehen? So lange der Kapitalismus auf die Unterdrückung der Frauen angewiesen ist, bleibt die Frauenbefreiung und wahre Gleichberechtigung eine Utopie. So lange müssen sich Frauen immer noch zwischen Familie und Karriere entscheiden.
Klar ist: Wir stehen immer noch am Anfang der Bekämpfung misogyner Praktiken und Überzeugungen. Wir reden immer noch zu viel über Empowerment, wie es die Weltbank versteht und zu wenig über die Aufwertung von Care-Arbeit und eine gerechtere Verteilung dieser Arbeit mit dem Ziel echter Chancengleichheit. Diskussionen wie im Panel des Europacamps sind wichtiger denn je – doch darf nicht davor zurückgeschreckt werden, aktuelle Konzepte rund um das Thema Gleichberechtigung kritisch zu hinterfragen, um der Thomas-Monokultur ein Ende zu bereiten.
[1] Ein ewiger Thomas-Kreislauf? Wie deutsche Börsenunternehmen ihre Vorstände rekrutieren. Studie der AllBright Stiftung. 2017.
[2] ebd.
Bildquelle: Screenshot AllBright Bericht Die Macht hinter den Kulissen, 8. April 2019