Digitalisierung

Glückauf Zukunft – Steinmeier plädiert für europäische Ethik im Digitalen

Eine europäische „Ethik des Digitalen“ hat Bundespräsident Frank Walter Steinmeier gefordert. Auf dem Evangelischen Kirchentag in Dortmund rief er die Menschen auf, aktiv an dem gesellschaftlichen Wandel mitzuwirken, „anstatt uns zurückzuziehen in stille Kämmerlein oder digitale Echokämmerlein“.

Unser Land sei auf Vertrauen gebaut, doch „Hass, Brutalität und Willkür“ seien Gift für Gesellschaften, sagte Steinmeier. „Vertrauen erodiert, wenn die Grenze zwischen dem Sagbaren und dem Unsäglichen immer mehr verschwimmt, wenn über Nichtigkeiten der Shitstorm losbricht und sich Häme über das Unglück anderer ergießt, wenn die Hater so laut und die Vernünftigen zu leise sind, wenn das Gebrüll der Wenigen den Anstand der Vielen übertönt.“

Auf all das dürfe es nur eine Antwort geben, sagte Steinmeier unter Beifall in der vollbesetzten Westfalenhalle: „Ziehen wir uns niemals zurück! Überlassen wir den politischen Diskurs im Netz nicht den wütenden und tobenden Scheinriesen!“ Es gehe um die „Rückgewinnung des politischen Raumes – gegen die Verrohung und Verkürzung der Sprache und der Debatten, aber auch gegen die ungeheure Machtkonzentration bei einer Handvoll von Datenriesen aus dem Silicon Valley“.

Steinmeier machte eine „fundamentale Verunsicherung“ über die Frage aus, „ob wir unser liberales und demokratisches Selbstverständnis, ob wir unseren Maßstab aus Jahrhunderten der Aufklärung in der digitalen Moderne überhaupt noch durchsetzen können“. Diese Debatte treffe „den Kern unseres Menschseins“, betonte Steinmeier, „und deshalb gehört sie in den Kern unserer Gesellschaft“. Dabei gehe es nicht um „Verherrlichung oder Verdammung“, sondern um den Blick auf die gesellschaftlichen Folgen über die ökonomischen Aspekte hinaus.

„Beginnen wir darüber zu sprechen, welche Digitalisierung wir eigentlich wollen und wie es uns gelingen kann, unsere Freiheit, unsere Ideen, unsere Regeln, kurz: den Kern unseres Menschseins in die digitale Zukunft einzuschreiben“, regte Steinmeier an. Resignation sei keine Option. Die Zukunft wolle gestaltet werden, und wenn wir daran nicht mitwirkten, „werden wir auch weiterhin nach den Regeln anderer spielen“.

Der Bundespräsident versuchte sich als Mutmacher. Ganz im Sinne der Kirchentage, die Orientierung in undurchsichtigen Zeiten anbieten, unterstrich er die aktuelle Losung „Was für ein Vertrauen“. „Diese Gesellschaft glaubt an den Fortschritt, weil sie ihn gestalten kann – weil sie ihm einen ethischen und gesellschaftlichen Rahmen setzt und eben nicht alles blind umsetzt, was technisch möglich wäre“, sagte er und warb um breites Mittun. „Für diese Art von Fortschritt brauchen wir die Zivilgesellschaft, brauchen wir die Kirchen und Gewerkschaften, Wirtschafts- und Wohlfahrtsverbände, die unzähligen ehrenamtlichen Vereine und, ja, auch die Parteien.“

Für den Zwischenapplaus zu den Parteien dankte der Sozialdemokrat ausdrücklich, wissend, dass auch hier Vertrauen verlorengegangen ist. Steinmeier erinnerte an das Ende des Steinkohlebergbaus und an die am Ende dieser „Epoche“ stehende Überzeugung: „Wir packen diesen Wandel, weil wir es zusammen tun – mit der Solidarität einer ganzen Gesellschaft.“

„Zukunft hat bei uns Geschichte“, leitete Steinmeier daraus ab und rief dem Publikum das ermutigende Wort „Glückauf Zukunft“. Technologischer Fortschritt sei kein „monströses Naturereignis“, aber unsere „selbstverschuldete digitale Naivität“ müsse „Aufklärung und Mündigkeit“ weichen. Die digitale Welt von heute diene „den Interessen derer, die unsere Geräte voreinstellen, unsere Anwendungen programmieren, unser Verhalten lenken wollen“. Deshalb „brauchen wir den Mut, das Spiel zu unterbrechen“ und neu zu programmieren.

Steinmeier erläuterte, dass die von ihm geforderte Ethik der Digitalisierung „zuallererst eine Ethik der Freiheit“ sei. Zu fragen sei, wie Technologie den Menschen dienen und zu mehr Selbstbestimmung führen könne, wie sie hilft, Unterdrückung und Armut zu überwinden, Bildung und Aufklärung zu verbreiten, Umwelt und Ressourcen zu schützen. „Frei nach Kant würde ich sagen: Der technologische Fortschritt soll den Ausgang des Menschen aus der Unmündigkeit erleichtern und nicht der freiwillige Einstieg in neue Unmündigkeit sein.“

Seine Forderung nach einer Ethik der Digitalisierung sei „mehr als ein privater Tugendappell“, betonte Steinmeier. Vielmehr beginne sie „mit einer politischen Unabhängigkeitserklärung – gegen digitale Fremdbestimmung und für Vernunft, Mündigkeit und Demokratie“.

Die Emanzipation beginne „bei uns selbst“, brauche aber auch staatliches Handeln und staatliche Regeln, und zwar auf europäischer Ebene. Anders als die USA oder China müsse ein europäischer Standard entstehen, „der die Würde und die Freiheit des Menschen in den Mittelpunkt rückt“. Europa könne „ein alternatives Angebot an eine Welt sein, die zunehmend glaubt, nur zwischen unbeschränktem Digitalkapitalismus nach amerikanischem Vorbild einerseits und orwellscher Staatsüberwachung in China andererseits entscheiden zu können“.

Bildquelle: Pixabay, Bild von Gerd Altmann (geralt), Pixabay  License

Teilen Sie diesen Artikel:
Keine wichtigen Nachrichten mehr verpassen!


Über  

Die promovierte Medienwissenschaftlerin arbeitete mehr als 20 Jahre in der Politikredaktion der Westfälischen Rundschau. Recherchereisen führten sie u. a. nach Ghana, Benin, Bosnien-Herzegowina, Kroatien, China, Ukraine, Belarus, Israel und in das Westjordanland. Sie berichtete über Gipfeltreffen des Europäischen Rates, Parteitage, EKD-Synoden, Kirchentage und Kongresse. Parallel nahm sie Lehraufträge am Institut für Journalistik der TU Dortmund sowie am Erich-Brost-Institut für Internationalen Journalismus in Dortmund wahr. Derzeit arbeitet sie als freie Journalistin.


'Glückauf Zukunft – Steinmeier plädiert für europäische Ethik im Digitalen' hat keine Kommentare

Als erste/r kommentieren

Möchten Sie Ihre Gedanken teilen?

Ihre E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht