Integration

Mesut Özil und die unendliche Migrationsgeschichte

Der Rücktritt von Mesut Özil aus der deutschen Fußball-Nationalmannschaft war mehr als zu erwarten, und dennoch spaltet seine Erklärung die Nation. Während sich ehemalige Teamkollegen wie Jérôme Boateng, Julian Draxler oder auch Antonio Rüdiger hinter Özil gestellt- und die seriösen Medien auch ein durchaus differenziertes Bild der Ereignisse gezeichnet haben, wurde der Ex-Nationalspieler für sein Verhalten in den Sozialen Netzwerken teilweise scharf kritisiert. Doch warum sind die Ereignisse so hochgekocht und schleppen sich weiterhin durch den Sommer?

Özil: Eine Weltmarke

Drehen wir die Uhren zurück auf den 18.05.2018: An diesem Tag wurde das folgenschwere Foto von Mesut Özil und İlkay Gündoğan mit dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan veröffentlicht. Sich als sportlicher Vertreter der Bundesrepublik Deutschland mit einem umstrittenen Politiker ablichten zu lassen – das war und ist ein Politikum. Dr. Erkut Sögüt, dem ebenfalls türkischstämmigen Berater beider Weltklassespieler, hätte klar sein müssen, welche Lawine dieses scheinbar so harmlose Zusammentreffen auslösen würde. Aber auch die Beteiligten selbst, die lange genug in der Öffentlichkeit stehen, um die Brisanz eines solchen Auftrittes erahnen zu können, hätten sich diesem Termin aus freien Stücken entziehen können. Von Mesut Özil, der auf Facebook, Instagram und Twitter zusammengenommen mehr als 10,5 Mio. Freunde/Follower hat, ist anzunehmen, dass er sich ganz bewusst und ohne familiären oder sonstigen Druck für diese Foto-Session entschieden hat. Mesut Özil ist eine Weltmarke, von der Sponsoren und Fußballvereine genauso profitieren, wie das bis vor wenigen Tagen auch beim Deutschen-Fußball-Bund (DFB) noch der Fall war.

Missgeschicke auf allen Seiten

Von Anfang an hätten die Bilder aus London ein Alarmzeichen für den Verband sein müssen. Der DFB tat sich jedoch sehr schwer, wollte die Angelegenheit tunlichst klein und in den eigenen Reihen halten. Sämtliche Fußballexperten waren bereits voll auf die WM und die vermeintliche Titelverteidigung konzentriert, und die DFB-Delegation rund um ihren unglücklich agierenden Präsidenten Reinhard Grindel war vollauf mit Besuchen an den Spielorten beschäftigt. Doch das war ein Fehler, allein schon in Anbetracht der extrem hitzigen Integrationsdebatte in Deutschland und ganz Europa, wo die Mıgrations- und Flüchtlingsproblematik längst freie Fahrt nach rechts aufgenommen hat. Die schlechten WM-Vorbereitungsspiele gegen Österreich und Saudi-Arabien haben dann gezeigt, wie Massenpsychologie funktioniert: Mit Pfeifkonzerten haben viele deutsche Fans ihrem Frust freien Lauf gelassen. Ausgepfiffen wurde allein İlkay Gündoğan, weil Mesut Özil gar nicht zum Einsatz kam. Danach folgte ein Statement von Team-Manager Oliver Bierhoff, während Jogi Löw seinen Arm schützend um seinen Spieler legte. Doch immer noch bestand zu diesem Zeitpunkt noch die Hoffnung, dass die WM alle Probleme in der Luft auflösen würde. Ein Trugschluss, denn nach dem blamablen Vorrunden-Aus gegen Südkorea wurde das leidlich verdrängte Problem prompt größer. Zwar hatte der DFB noch vor der WM das Treffen der beiden in Erklärungsnot geratenen Spieler mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier angeregt – doch das war am Ende zu wenig, um dem Thema den Zündstoff zu nehmen.
Als schließlich Mesut Özils Erklärung zu seinem Rücktritt aus der deutschen Nationalmannschaft auftauchte, haben viele Leserinnen und Leser den Eindruck gewonnen, dass er in Wirklichkeit gar nicht an einer Deeskalation interessiert war. Zwar äußert er kurz, dass “zwei Herzen“ in seiner Brust schlügen. Der Rest des in englischer Sprache verfassten Textes beschäftigt sich jedoch in einer Wiederholungsschleife immer wieder auch mit seinen türkischen Wurzeln und mit dem Respekt, dem er dem Herkunftsland seiner Vorväter zu zollen habe. Dabei sei es laut Özil auch unerheblich, wer gerade Staatspräsident der Türkei sei. Mit Recep Tayyip Erdoğan sei er in der Vergangenheit schon häufiger zusammengetroffen, ohne dass sich irgendwer darüber beschwert habe. Abseits jedweder rassistischen Einstellung haben derartige Bemerkungen viele Menschen in Deutschland geärgert und mittelbar auch der AFD in die Hände gespielt. Es fragt sich, ob Sportsmann Özil einfach nur jung und naiv ist, beratungsresistent oder ganz schlecht beraten?

Versäumnisse auch beim DFB-Fanclub

Die verwirrenden Positonen des DFB bieten ebenfalls Angriffsfläche im Sommerloch und überdecken die große Leistung dieses Verbandes. Denn zurecht kann der größte Sportverband der Welt stolz sein auf die ethnische Diversität seiner Nationalteams. Die Männer werden seit 2014 mit dem Slogan „Die Mannschaft“ beworben, der die Einheit in der Vielfalt zum Ausdruck bringen soll. Dabei ging es bisher fast ausschließlich um in Deutschland geborene Gastarbeiterkinder mit einem europäischem Migrationshintergrund, wozu die Türkei auch zählt, um die Kinder aus binationalen Ehen/Beziehungen und um ganz wenige Menschen, die, wie Gerald Asamoah oder Cacau (Claudemir Jerônimo Barreto), der als DFB-Integrationsbeauftragter aktuell tätig ist, auf ganz anderen Wegen zu Deutschen wurden. Nicht zu vergessen ist in diesem Zusammenhang der international aufgestellte FAN CLUB NATIONALMANNSCHAFT mit plus 50.000 Mitgliedern. Menschen aus aller Welt outen sich mit dem Deutschlandtrikot auf der Haut. Das schreit nach einer Positionierung zum Özil-Rücktritt, respektive zum Thema „Rassismus“. Doch allein schon die Facebook-Seite besteht primär aus Geburtstagswünschen für Altgediente: Marco Bode wurde gerade 49, Ariane Hingst 39, Hansi Müller 61. Wäre es nicht eine Idee, auf dieser Seite frühzeitg ein wenig mehr in die Tiefe zu gehen, um etwa Pfeifkonzerten entgegenzuwirken?

Arbeitsgruppe gegen Gewalt und Rassismus

Seit 2006 gibt es beim DFB auch die Arbeitsgruppe gegen Gewalt und Rassismus. Seither wurden viele Kampagnen erarbeitetet und zahlreiche Maßnahmen zur Bekämpfung von Gewalt und Rassismus konzipiert. In enger Zusammenarbeit mit den Landesverbänden wurde beispielsweise ein umfassendes Meldesystem eingeführt, über das alle rassistischen und gewalttätigen Vorfälle in allen Spielklassen umgehend an eine zentrale Stelle gesendet werden. Wichtig wäre es aber auch, mehr öffentliche Informationen herauszugeben, auch aus dem Umfeld der Nationalmannschaft. Welche Präventivmaßnahmen sind während der letzten zwei Jahre gelaufen, was wurde erreicht? In Anbetracht von zunehmendem Alltagsrassismus, wachsender Islamfeindlichkeit und den verschlechterten Beziehungen zur Türkei wäre das sehr interessant.

War die DFB-Integrationsarbeit bisher umsonst?

Nein, sicherlich nicht! In den kleinen Vereinen wurde schon immer Integrationsarbeit betrieben. Einige Landesverbände sind im Rahmen ihrer Möglichkeiten auch sehr aktiv. Der DFB mit seinen 26.000 Amateurmannschaften hat den Anspruch, mitten in der Gesellschaft und ein Teil derselben zu sein. Wichtig dabei ist die Fokussierung der Zielgruppen: Neuzuwanderer und alteingesessene Migranten der dritten oder vierten Generation müssen anders in die DFB-Strukturen eingebunden werden. Eine Vorbildfunktion zu erfüllen und auch richtungsweisend zu sein, bedeutet auch eine gezielte interkulturelle Arbeit zu leisten und die interkulturelle Öffnung für das Ehren- und Hauptamt anzustreben., dies nicht nur auf der Bundesebene, sondern auch auf der Landesverbandsebene und in den Fußballkreisen. Experten, Wissenschaftler und ehemalige Fußballer mit Migrationshintergrund sollten verstärkt in die Gremienarbeit eingebunden werden. Der DFB ist wie ein riesiger Tanker. Bis er sich bewegt braucht es sehr viel Kraft. Doch wenn es losgeht, dann kommt auch etwas ins Rollen. Der Fall Özil sollte ein weiterer Startschuss für ein positives Integrationsengagement auf allen Ebenen sein.

Bildquelle: Max Pixel, CC0 1.0

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Gül Keskinler lebt seit einigen Jahrzehnten in Deutschland. Die „Deutsch-Türkin“ ist Chefin der Agentur für Interkulturelle Kompetenz EKIP in Köln, die Konzepte für Bildung, Qualifizierung und Kompetenzerweiterung entwickelt und umsetzt. 2006 - 2016 ehrenamtliche DFB-Integrationsbeauftragte.


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