SOS racisme touche pas à mon pote

Rassismus: Die Auseinandersetzung darüber beginnt zu Hause

Für den römischen Schriftsteller Publius Vergilius Maro, kurz Vergil, war klar: Unsere Seele, unser Geist sitzt in unserer Brust, da ist sie verborgen. latebra animäe, schrieb Vergil. Vom lateinischen  latebra  gleich: Versteck ist im  Gegenwarts-deutsch das Eigenschaftswort latent, verborgen, versteckt, im Geheimengeblieben. Von der anima blieb das Eigenschaftswort “animalisch“ übrig, dem Duden nach bedeutet das tierisch, triebhaft, trieb-gesteuert.

Was Wort latent hat zurzeit Konjunktur: Latent soll unter den Sicherheitsdiensten des Landes Rassismus herrschen.  Darüber wird jetzt gestritten.  Das Eigenschaftswort hat eine infame Eigenschaft: Man weiß nicht so recht, was es meint: (a) Polizisten sind rassistisch, verstecken ihren Rassismus aber vor anderen. Sie wissen also, dass sie rassistisch sind. (b) Sie halten sich für nicht- rassistisch, sind es aber tatsächlich,  wissen es freilich nicht. Die gegenwärtige Diskussion lässt das ungeklärt. Es bleibt beim unbewiesenen, moralisch und rechtlich schwerwiegenden Vorwurf des latenten Rassismus. Gewiss ist also, dass Mensch sehr, sehr vorsichtig mit dem Vorwurf  latenten Rassismus umgehen sollte. Es gilt, letzte Latein- Anleihe, der alte, sture Marcus Porcius Cato: rem tene verba sequentur. Frei übersetzt: Kapier, um was es geht, dann findest du auch die richtigen Worte.     

Was wissen wir?

Rassismus ist nicht Ergebnis spontaner Einfälle,  überraschender Emotion, sondern ist Resultat eines langen Trainings durch soziale „Umfelder“: Vor allem durch Familie und die in der Familie prägenden Personen. Werden Kinder, Jungen wie Mädchen in einem Umfeld groß, in dem durchaus polare Einstellungen wie die Liebe, die nichts fordert, Achtung, aber auch Verstehen und Anerkennen von Autorität nicht  vermittelt wurden, wird die Bahn frei für das, was wir Rassismus nennen. Beginnen diese Kinder sich aus ihrem gewohnten Umfeld zu lösen, weil die Kindheit zu Ende geht, haben sie keine oder zu wenig  „Ressourcen“ mitbekommen, um anderes Aussehen, kulturell Ungewohntes problemlos in die eigenen Vorstellungen einzuordnen und damit umzugehen.

Was wissen wir sonst noch?

Der Staat schickt Polizeibeamte, junge Frauen und junge Männer über Stunden und Stunden in seelisch extrem belastende Situationen. Mitunter folgt eine Belastungsprobe auf die andere. Polizeibeamte wurden darauf trainiert, das Einhalten der Gesetze durchzusetzen – und dabei treffen sie immer wieder auf Demonstrierende, die ihnen diesen Auftrag bestreiten. Ein „Scheißbulle“, ein „Bullenschwein“, so werden Polizeibeamte genannt, hat mir nichts zu sagen. Das ist die „Philosophie“ hinter manchen/vielen Begegnungen, die Polizeibeamte haben.

Das rechtfertigt keine Übergriffe, kann aber erklären, warum während extrem belastender Situationen Demonstrierende in ihren Rechten verletzt werden. In der Bundesrepublik gilt: Dumme Demonstrierende können Polizeibeamte als Feinde auffassen: Polizeibeamte Demonstrierende umgekehrt nicht. Das ist im Einzelfall schwierig. Aber da ist die Grenze – und die muss eingehalten werden. Wo das nicht geschieht, muss der Rechtsstaat eingreifen. Wer über Rassismus unter Polizeibeamten  räsoniert, der muss sich Aufgaben und  Umstände  genau anschauen.

Demonstrationen wie denen der vergangenen Tage wohnt, weil sie vor allem Manifestationen nach außen sind, soziale Bewegung erzeugen und  nicht- Demonstrierende für sich und die Demonstrationsziele gewinnen wollen, etwas Ungerechtes inne. Die zur Auseinandersetzung notwendige soziale Energie fällt den einen zu, anderen nicht. Wir wissen, dass Kinder, Jugendliche und Frauen aus südeuropäischen Roma-Familien auf  unwürdige, kriminelle Weisen gezwungen werden, an den Rändern unserer Straßen zu betteln, dass sie attackiert, angespuckt, vertrieben werden. Hier geschehen tiefe und ins Mark treffende Verletzungen der Menschenwürde.

Ich kann mich nicht an eine Demonstration zugunsten dieser Kinder, Jugendlichen und Frauen erinnern, die denen der vergangenen Tage ähnelt.

Demonstrationen gegen antisemitische Manifestationen und zugunsten von Opfern des Antisemitismus erreichen bemerkenswerte Größenordnungen wie zuletzt in Halle wegen des Anschlags auf Menschen in einer Synagoge (ich wünsche sie mir sehr viel größer); begleitet werden sie freilich oft durch eine Abwertung:  Die Juden unterdrückten die Palästinenser, heißt es relativierend.  Die Frage, was eine Synagogen- Besucherin in Halle mit israelischer Siedlungspolitik zu tun hat, bleibt unbeantwortet.

Zigtausende Juden haben Frankreich während der vergangenen Jahre verlassen. Es gibt unzählige Fälle von Schändung jüdischer Grabstellen, Zerstörung von Eigentum, Verletzungen, verbale Herabsetzungen. Auch in Deutschland. Registriert wurden in den zurückliegenden Jahren etwa fünf antisemitisch motivierte  Straftaten pro Tag. Ich kann mich an keine Demonstration in Deutschland erinnern, auf der dem Sinn nach die in Frankreich bekannte, auf eine gelbe, zurückweisende Hand gemalte Parole zu sehen gewesen wäre: Touche pas A Mom  Pote.

Im April 2017 wurde eine alte Dame, Sarah Halimi, in ihrer Wohnung in Paris überfallen, misshandelt und aus ihrer Wohnung im dritten Stock auf die Straße geworfen. Sie war Jüdin. Die Jüdische Allgemeine schrieb über den Fall anlässlich der Gerichtsverhandlung über den Täter und die Reaktion in Frankreich, der Anwalt der Schwester des Opfers, Gilles-William Goldnadel habe erklärt: „Was das Herz des Mannes und Anwalts am meisten zusammenzieht (…), das ist die öffentliche Gleichgültigkeit.“ Warum versammeln sich die jungen und alten Gesichter der Demonstrierenden nicht, um gegen eine solche Schandtat aufzutreten? Vergessen? War uns Sarah Halimi gleichgültig?

Die Auseinandersetzung  mit Rassismus beginnt nicht auf dem Berliner Alexanderplatz. Da kann sie vielleicht verloren gehen. Sie beginnt in den Familien. Sie darf auch nicht gegen die Polizei geführt werden. Eine solche Auseinandersetzung kennt keinen Sieger. Sie darf – drittens – auch nicht taktisch geführt werden. Dann ginge nämlich die Glaubwürdigkeit verloren.   

Bildquelle: Wikipedia, Georges Biard, CC BY-SA 3.0

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Über  

Redakteur 1972 und bis 89 in wechselnden Redakteursaufgaben. 90 bis 99 wiss. Mitarbeiter der SPD-Bundestagsfraktion, Büroleiter Dreßler, 2000 Sprecher Bundesarbeitsministerium, dann des Bundesgesundheitsministeriums, stellv. Regierungssprecher; heute: Publizist, Krimiautor, Lese-Pate.


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