EuropaCamp Eröffnungsveranstaltung

„Raus aus der Blase“: Europa der Eliten hat den Bürger vergessen

„Unser Europa“, sagt Michael Göring zur Eröffnung des Camps in Hamburg. Das klingt verblüffend harmonisch nach Gemeinschaft, Miteinander, Solidarität und Wir-Gefühl. „Wir müssen Europa zu unserer Sache machen“, sagt Göring, der Vorsitzender des Vorstands der Zeit-Stiftung und Veranstalter des zweitägigen Kongresses auf Kampnagel ist.

 

Nur: Welches Europa meinen wir denn? Und wie machen wir es uns zu eigen? Die Vereinigten Staaten, also ein föderales Gebilde nach dem Vorbild der Bundesrepublik und ihrer Länder, wie es die SPD gerade wiederentdeckt, oder ein Europa der Vaterländer, wie es Charles de Gaulle und Konrad Adenauer vorschwebte, das die Nationen erhält und die Gemeinschaft auf das notwendigste beschränkt?

 

Weniger Union und mehr Nation ist der aktuell herrschende Trend. Rechtspopulisten, Europafeinde und Skeptiker dominieren die öffentliche Debatte. Nach den Visegrad-Staaten Ungarn, Polen, Tschechien und der Slowakei hat auch Österreich Rechtsaußen in der Regierung, in Italien droht der nächste Rückschlag. Frankreichs Präsidentschaftswahlen waren ja nicht zuletzt deshalb so bemerkenswert, weil Emmanuel Macron dem Trend zum Trotz Europa zu einem Gewinnerthema machte. Den etablierten Parteien ist das nicht gelungen, viele haben es aus Angst oder Verzagtheit auch gar nicht offensiv versucht.

 

Einen Stimmungsumschwung hat die Bewegung „Pulse of Europe“ in Gang zu setzen versucht. Annika Thies, die der vor gut einem Jahr ins Leben gerufenen Initiative angehört, spricht von starken Bildern, vielen Bürgern und vielen Städten, die das Thema Europa positiv besetzt haben. Gegen die Klischees von dem bürokratischen Moloch und von den abgehobenen Funktionären haben einfache Bürger ihre positive Erzählung gehalten, die von dem historischen Friedenswerk, der Versöhnung, dem Wohlstand, der Überwindung von Grenzen und Schranken.

 

„Unser Einfluss ist schwer messbar“, sagt Annika Thies, aber sie habe „das Gefühl, dass die Politiker das aufgenommen haben“. Dass die Bemühungen um die Regierungsbildung in Berlin das Thema Europa ganz nach vorne gestellt haben, hält sie für eine erfreuliche Entwicklung. „Europa ist das einzige Thema, bei dem die Koalitionsverhandler einig sind“, sagt Patrizia Nanz, wissenschaftliche Direktorin des IASS (Institute for Advanced Sustainable Studies) Potsdam. „Nicht bei der Rente, nicht bei der Umwelt, nicht bei Flüchtlingen, nicht beim Sozialen.“

 

„Mehr Macht den EU-Bürgern!“ Mit dem Ausrufungszeichen ist das Podiumsthema betitelt, das den Einstieg in die Debatte liefert. Patrizia Nanz bekräftig das Bild vom Europäischen Parlament als dem „zahnlosen Tiger“. Es fehle an „Gestaltungsmacht“. Auf die wirklich mächtigen Institutionen, etwa die Europäische Zentralbank habe der Bürger tatsächlich keinen Einfluss. Neben der Politikverdrossenheit und der Europamüdigkeit macht die Wissenschaftlerin eine Demokratiekrise aus.

 

Die Ursachenforschung beginnt zaghaft. Versäumnisse räumt Jana Puglierin von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin ein. „Wir entdecken gerade den Bürger“, sagt sie selbstkritisch mit Blick auf das „Elitenprojekt“. „Wir müssen raus aus der Blase.“

 

Am Beispiel des Brexit, der britischen Entscheidung über einen Austritt aus der EU, relativiert sich das Ausrufungszeichen hinter der Forderung nach mehr Macht. Das Referendum sei von einer Lügenkampagne gewonnen worden, warnte John Wolf, ein „europäischer Bürger mit britischem Pass“, wie er sich selbst bezeichnet. Er wies zugleich darauf hin, dass das Europäische Parlament etwa dem Bundestag in Hinsicht auf die Transparenz weit voraus sei.

 

Auch beim viel Beklagten Demokratiedefizit in Europa kommt es also auf den Blickwinkel an. Viele verschiedene Perspektiven führt das EuropaCamp zusammen, die von Schriftstellern, Schauspielern und Wissenschaftlern ebenso wie von Journalisten und Politikern. Zwei Absagen hatte Michael Göring direkt zum Auftakt zu verkünden. Außenminister Sigmar Gabriel und Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz ließen sich entschuldigen. Solche Absagen seien „peinlich“, sagte Göring, „aber ein Aussetzen der Koalitionsverhandlungen wollten wir uns und Ihnen doch nicht zumuten.“

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Die promovierte Medienwissenschaftlerin arbeitete mehr als 20 Jahre in der Politikredaktion der Westfälischen Rundschau. Recherchereisen führten sie u. a. nach Ghana, Benin, Bosnien-Herzegowina, Kroatien, China, Ukraine, Belarus, Israel und in das Westjordanland. Sie berichtete über Gipfeltreffen des Europäischen Rates, Parteitage, EKD-Synoden, Kirchentage und Kongresse. Parallel nahm sie Lehraufträge am Institut für Journalistik der TU Dortmund sowie am Erich-Brost-Institut für Internationalen Journalismus in Dortmund wahr. Derzeit arbeitet sie als freie Journalistin.


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