Altstadt Talinn

Schwierige Nachbarschaften – Deutschland, Russland und die baltischen Staaten

Grigori Tschchartischwili hat einen Helden geschaffen zu Beginn dieses Jahrtausends. Erast Petrowitsch Fandorin. Ein stiller, höflicher, geschickter, wendiger Mann. Tschchartischwili lässt seinen zaristischen Beamten in St. Petersburg und Moskau in den Kulissen ermitteln, kriminalistischen Stadtspaziergänge machen im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, in den Jahren vor der russischen Revolution. Es werden bis zur schließlichen Ermordung des Zaren zunehmend die Jahre der betrogenen Hoffnungen. Wie so häufig in der russischen wie in der sowjetischen Geschichte. Die Romane von Boris Akunin, das ist das Pseudonym des Autors, sind ungemein erfolgreich und werden auch in Deutschland als Kriminalromane verkauft. Was sie aber keineswegs nur sind. Akunin zeichnet Bilder der russischen Gesellschaft und stößt den Leser wieder und wieder auf zwei Phänomene, die in den zurückliegenden gut 100 Jahren immer wieder aufgetaucht sind. Eben jene betrogenen Hoffnungen und dann jenen freudlosen Enthusiasmus eines angeblichen Neuanfangs oder Umschwungs, der in erneuten betrogenen Hoffnungen endet. Tschchartischwili ist im Jahr des Ungarn-Aufstands 1956 geboren, ist Philologe, Essaist, spricht Japanisch: „Ich spiele leidenschaftlich gern.“ erzählte er vor Jahren der Zeitschrift Orgonjok, „früher habe ich Karten gespielt, dann strategische Computerspiele, schließlich stellte sich heraus, dass Krimis schreiben noch viel spannender ist.“ Akunins Romane sind der Beachtung wert, denn sie zeigen ein Russland, das angeblich so fern liegt, es aber bei aufmerksamer Beschäftigung gar nicht ist. Das ist vor allem für Deutschland und die europäischen Anrainerstaaten der Russischen Föderation von Bedeutung.

Es ist eine enge, Kopfstein gepflasterte Straße mit schmalen, schiefen, dunklen Hausfassaden. Niedrigen Giebeln. Nur wenige Passanten hasten über die schrägen Bürgersteige. Die Gasse heißt Kramu iela. Sie liegt im mittelalterlichen Zentrum von Riga, gar nicht weit entfernt von den beeindruckend sanierten wie restaurierten hanseatischen Prachtbauten auf dem Rathausplatz, nahe dem Fluss Daugava, der Düna. Es ist ein sommerlicher Vormittag fast 30 Jahre nachdem sich das kleine Land von der UdSSR unabhängig erklärte. Diese Unabhängigkeitserklärung begann am 23. April 1989 mit einer einzigartigen Aktion: An diesem 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes stellten sich von Tallinn in Estland über Riga bis nach Vilnius in Litauen über 1,7 Millionen Menschen bilden nahezu Hand in Hand eine Kette und singen gegen die Sowjetherrschaft an. Das ist der Beginn der Revolution. Im Mai 1990 erklärt sich Lettland das erstmals unabhängig. Die von Michael Gorbatschow – in Deutschland gefeiert – geführte russische Regierung nimmt das nicht hin. Sie schickt Truppen nach Riga. Die greifen die unbewaffnete Hauptstadtbevölkerung an. Die errichtet Barrikaden, auch auf dem Domplatz. Nachts brennen dort die Lagerfeuer. Die sind nicht weit von der Gasse Kramu iela entfernt. Im Haus Nummer 3, in der ersten Etage, erhalten die Kämpfer für die Unabhängigkeit etwas zu essen, zu trinken, können sich ausruhen. Seit 1991 ist die recht große Wohnung  das Gada Barikazu Muzejs, das Museum der Barrikaden. Es zeigt die Brutalität des russischen Vorgehens und den Erfolg des gewaltlosen Widerstands der Bürger von Riga.

 Für Russland sind die drei baltischen Staaten noch immer verlorene Republiken. Die wollten „nach Europa zurück“, in die EU, in die NATO. Was von der Staatsführung in Moskau massiv kritisiert wurde. Deren Einfluss an den Ostseeküsten ist erheblich reduziert worden. Kronstatdt in der Newa – Mündung und Baltisk vor Kalinigrad sind die zwei verbliebenen Marinestützpunkte der Russen in der Baltischen See. Viele gebürtige Russen sind nach der Unabhängigkeit der drei Länder in ihnen geblieben, wollten nicht zurück nach Russland, sind jetzt EU – Bürger. Gerne reden die meisten nicht über ihre Herkunft, das ist auch in der ältesten Stadt Litauens, Klaipeda, ein Hafen mit vielleicht 200 000 Einwohnern nicht anders. Ein Drittel sind Russen. Der Markt an der Halle ist spärlich besucht. Unter einem kurzen Vordach sitzt, nein hockt, nach vorne über gebeugt, eine alte Frau. Sie hat einen dicken, weiten, früher einmal roten Mantel an. Ein verblichenes kariertes Kopftuch umgebunden. Ich spreche sie an, sie winkte ab, antwortet nicht. Nuschelt dann durch die beträchtlichen Zahnlücken russische Worte. Vor ihr liegen auf Zeitungspapier, Dill und Knoblauch und Petersilie. Maria, so heißt sie, sei müde, erschöpft vom Leben, hoch in den 70, erzählt ihre Tochter, die regelmäßig vorbeikommt, nach ihr schaut. Und erzählt noch, ihre alte Mutter gehöre der alten Zeit an.

Der, in der wieder einmal die Hoffnungen betrogen wurden. Die alte Frau nuschelt zum Abschied: „Yo schdo.“ Ich warte. – Das tut sie jeden Tag. Zeitungen liest sie nicht. Sie wickelt in ihnen ihre Kräuter ein. Radio hört sie nicht. Das hat sie nicht gelernt. Und sie weiß auch nicht, dass jedes Jahr vor allem ältere deutsche Touristen nach Kalipeda kommen. Sie stehen dann vor dem Denkmal des Ännchens von Tharau, das im damaligen Memel 1912 errichtet wurde. Gar nicht weit von der Stelle, an der die Russin Maria auf dem Markt hockt.

Bildquelle: Pixabay, Bild von Makalu, Pixabay License

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Der Fernseh- und Radiojournalist arbeitete als Kulturredakteur und später als ARD Korrespondent in Washington und Mexiko. Seit 2002 ist Hafkemeyer Professor an der Berliner Universität der Künste.


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