1. Corona Virus unter Kontrolle?
Stand 17.4.2020 haben wir von den „Hohen Priestern“ des RKI gehört, die Dynamik der Verbreitung des Virus verlangsamt sich erheblich. Das Gesundheitssystem wird mit großer Wahrscheinlichkeit die Herausforderungen in der vorhersehbaren Zukunft meistern. Und die Politik hat am Vortag das Signal gegeben: Restriktionen werden gelockert und ein vorsichtiger Rückweg in die Normalität ist am Horizont sichtbar.
Hier ein kurzer Zwischenruf aus methodischer Sicht als Warnung und Hilfestellung an die Politik.
Es ist erstaunlich, dass nach Monaten der Corona Virus Krise verbunden mit schwersten gesundheitlichen, ökonomischen, finanziellen, sozialen und psychologischen Risiken, die politischen Entscheidungsträger von der Wissenschaft ungenügend unterstützt werden. Wir haben weiterhin erhebliche Erkenntnis-Lücken hinsichtlich des Ausmaß der Betroffenheit vom Virus und in der Messung zentraler Effekte (Sterblichkeit durch den Virus) sowie in der Interpretation des vorliegenden Zahlenmaterials.
Hierbei ist beobachten, dass sich die Politik eher instinktiv in die richtige Richtung bewegt, indem sie mehr und systematischere Tests fordert. Wenn diese Tests mit einem intelligenten Forschungsdesign hin zu einer repräsentativen Erfassung der tatsächlichen Verbreitung vor allem in politikrelevanten Untergruppen verbunden würden, könnte man erheblich politikrelevante Wissensfortschritte machen.
Geht man vom Idealtyp einer „evidence based policy“ aus, dann verdient die Politik besseres. Dies schließt auch einen Blick über die Grenzen mit ein, vor allem wenn es neuere Forschungen in Norditalien, einer der am meisten betroffenen Regionen Europas, gibt. Auch wenn die Studie nicht unerhebliche methodische Unzulänglichkeiten aufweist, so zeigt sie jedoch ein höheres Maß an Problembewusstsein. Die richtigeren Fragen zu stellen und systematisch anzugehen ist auch schon ein Fortschritt, selbst wenn die Methode nicht vollständig überzeugt.
2. Dramatische Ergebnisse neuer Studien zur tatsächlichen Verbreitung aus der Lombardei
Lassen Sie uns zuerst einmal einen Blick auf neuste Schätzung der Verbreitung der Pandemie nach Norditalien werfen. Neueste Untersuchungen des TWIG Instituts in Mailand/Bergamo schätzen die Zahl der vom Corona Virus Betroffenen und die in Folge des Virus gestorbenen erheblich höher ein als die offiziellen Zahlen der „Regione Lombardia“. Die Untersuchung schätzt die Zahl der tatsächlich Infizierten auf ca. 970.000, während die Zahl der offiziell bestätigten Fälle (3.4.20) bei 47.000 Fällen lag. Die Zahl der offiziell gemeldeten Toten, der in Verbindung mit diagnostiziertem Corona Gestorbenen, liegt offiziell bei 8300. Die Studie kommt zu einer Schätzung von ca. 15.000 Toten. Diese hohe Verbreitungszahl steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der erheblich höheren gemessenen faktischen Todeszahl durch Corona.
Bricht man diese Zahlen nach einzelnen Provinzen in der Region Lombardei herunter und betrachtet man den geschätzten faktischen Infektionsgrad relativ zur Bevölkerung, so sind in der Provinz Bergamo 27%, in der Provinz Cremona 23%, in der Provinz Brescia 14% und in der Provinz Pavia 13% der Bevölkerung infiziert. Für die gesamte Lombardei wird eine Betroffenheit von 21% geschätzt.
Den methodischen Ansatz möchte ich anhand der Provinz Brescia deutlich machen. (Mehr Details in: Giornale di Brescia 3.4.2020, S 1f). Ausgangspunkt ist eine realistische Schätzung der Todesfälle durch oder in Verbindung mit dem Corona Virus im Zeitraum Februar und März 2020. Um dies zu ermitteln wurden sämtliche Gemeinden in der Provinz (Standesämter) kontaktiert, um neuste Todeszahlen zu erfassen. Gleichzeitig wurden zusätzliche Informationen in relevanten Veröffentlichungen lokaler Medien, vor allem Zeitungen (hier Giornale di Brescia) erfasst.
Hiernach ergaben sich im Februar-März 2020 in der Provinz Brescia 3700 Todesfälle. Im Vorjahr erfasste man hingegen 1000 Tote. Dies war ein Anstieg von 2700 Todesfällen im Vergleich zu den Todesfällen im gleichen Zeitraum des Vorjahres (Faktor 2,7). Offiziell beträgt die Zahl der an Corona diagnostizierten Toten jedoch nur 1500. Die Autoren interpretieren den Anstieg der Todeszahlen gegenüber den Werten des Vorjahres (+2700) als Corona induziert. Damit läge die Zahl der geschätzten Fälle um 1200 Fälle oder 80% (Faktor 1,8) höher als die Zahl der offiziell gemeldeten Fälle.
Diese Schätzungen von TWIG Institut werden auch durch Untersuchungen von ISTAT, dem Statischen Bundesamt in Rom für ausgewählt Kommunen in Norditalien bestätigt. ISTAT hat die Todesfälle auf kommunaler Ebene (nicht Provinz) für den Zeitraum1.3 bis 4.4 2020 mit den Ergebnissen des Vorjahreszeitraums des Durchschnitts der Jahre 2015-2019 verglichen. In Bergamo steigen die Todesfälle von 141 auf 729; in Brescia von 212 auf 638 (Anstieg Faktor 3.0) und in Cremona von ca 100 auf ca 350. (Details: https://www.ilfattoquotidiano.it/2020/04/17/mortalita-istat-analizza-1689-comuni-dal-1-marzo-al-4-aprile ; ebenfalls: Financial Times vom 18-19. April 2020, S.2.) D.h. der gemessene Anstieg der durchschnittlichen Todeszahlen für die Provinz Brescia durch TWIG wird auch durch die Zahlen von ISTAT belegt.
Der hohe Anteil von nicht registrierten erklärt sich nach Ansicht der Autoren damit, dass häufig Verstorbene in Altersheimen oder Verstorbene in ihrer Privatwohnung oder ihrem Haus von der offiziellen Statistik nicht erfasst wurden.
Diese so ermittelten geschätzten Todeszahlen werden jetzt zur Schätzung der tatsächlichen Verbreitung von Corona herangezogen. Nach Ansicht der Autoren ergibt auf der Basis von Untersuchungen des „Imperial College“ London eine Todesrate aufgrund einer Corona Infektion aller Infizierten von 1,57%. Diese s.g. „Infection fatality rate“ (IFR) bezieht sich auf die Todesrate bezogen auf alle Infizierten und ist zu unterscheiden von der s.g. „case fatality rate“, die sich nur auf die Zahl der positiv gemessenen und bestätigten Infizierten bezieht.
Diese tasso di letalità oder Sterblichkeitsrate der Infizierten wird jetzt zur Berechnung der Verbreitung herangezogen. Die Formel lautet jetzt für die Provincia die Brescia, wenn man die erhöhte Zahl der gemessenen Todesfälle zugrunde legt: Infizierte (Geschätzt) = 2700/0,0157= ca. 172.000. Wenn man die geringere Zahl von 1500 Toten heranzieht, dann verringert sich die Zahl der geschätzten Infizierten auf ca. 95.000.
Für die gesamte Lombardei würde sich somit eine Gesamtzahl von geschätzten Infizierten von ca. 955.000 bei einer unterstellten Zahl von 15.000 Corona relevanten Toten und einer IFR von 1,57% ergeben. Wenn man die offizielle Zahl der Corona relevanten Toten unterstellt, dann erreicht die Zahl der geschätzten Infizierten ca. 528.000 oder 10,6% der Bevölkerung der Lombardei.
Diese Ergebnisse werden durch eine zweite Studie des ISPI Institutes (Instituto per gli studi di politica internationale) in Mailand unterstützt. Die Studie umfasste Ergebnisse bis zum 24.3.2020 und schloss damit ca. 10 Tage vor der Studie von TWIG ab. In der ISPI Studie wird eine IFR von 1,14% unterstellt in einem Konfidenz-Intervall von 0,51% bis 1,78% mit einer Wahrscheinlichkeit von 95%. (Mehr Details: https://www.corriere.it/salute/malattie_infettive/20_marzo_27/studio-ispi-ecco-qual-vera-letalita-covid-19-italia-b95d19cc-7029-11ea-82c1-be2d421e9f6b.shtml)
Für die Bestimmung der tatsächlich Infizierten wird ein anderes Verfahren gewählt als bei TWIG, indem die gemessenen CFR durch die unterstellte IFR dividiert wird und dieser Faktor mit der Zahl der offiziell gemessenen positiven Fälle multipliziert wird. Hierbei werden bei der Bestimmung der CFR die offiziellen Todeszahlen für die Lombardei von unter 8.000 zugrunde gelegt. Die Formel lautet dann: Infizierte (Geschätzt) = CFR/IFR x gemessene positive Fälle. Dies ergibt: 13,6/1,14 x 47.000 = 560.700 oder ca. 11.5% der Gesamtbevölkerung der Lombardei. Somit beide Untersuchungsergebnisse relativ nahe zusammen.
Die ISPI Studie unterscheidet sich jedoch von der TWIG Studie dadurch, dass sie explizit eine große Spannbreite lässt bei der IFR. Die Schätzung bewegt sich in einem Extrem von 359.000 (7,3% der Gesamtbevölkerung) bis zu 1,25 Millionen Infizierter (25,7% der Gesamtbevölkerung).
3.Einschätzung der Methode: Erhebliche Unsicherheiten; aber es gibt Alternativen
Können wir hieraus was lernen? Hier ist mein Urteil zwiespältig. Eine Adjustierung der Corona bezogenen Sterbefälle in Deutschland wäre sicherlich auch wünschenswert. Möglicherweise oder sehr wahrscheinlich würden sich hierbei geringere Abweichungen als in Italien finden, wenn man auf die mit Corona verbundenen Sterbefälle schaut. Eine Abgleichung der faktischen Sterberate im Zeitraum der Corona Pandemie mit der durchschnittlichen Sterberate in mehreren Vorjahren im gleichen Zeitraum ist sicherlich eine sinnvolle Schätzmethode, um nicht erfasste Fälle einzuschließen. Dennoch; ist auch diese Methode nicht dazu in der Lage genau zu bestimmen, wer aufgrund von Corona als Hauptmortalitäts-Auslöser gestorben ist.
Der wohl problematischste Punkt in beiden Untersuchungen ist die benutzte IFR. Bei TWIG wird eine Rate von 1,57% mit Bezug auf das Imperial College London verwendet. Hierbei ist zuerst einmal zu beachten, dass es keinen Hinweis auf die Quelle gibt für eine IFR Faktor von 1,57% im Imperial College London. Mir ist es auch nicht gelungen in den Veröffentlichungen des Imperial College, London, diesen IFR Faktor zu finden. Publiziert ist vom Imperial College jedoch folgendes: „According to the latest estimates from the team, from the MRC Centre for Global Infectious Disease Analysis at Imperial, one percent of people with the disease will die from their infection”. (https://www.imperial.ac.uk/news/195217/coronavirus-fatality-rate-estimated-imperial-scientists/)
Darüber hinaus gibt eine spezifische IFR-Schätzung für das UK. “Analyses of data from China as well as data from those returning on repatriation flights suggest that 40-50% of infections were not identified as cases. …. These estimates were corrected for non-uniform attack rates by age and when applied to the GB population result in an IFR of 0.9% with 4.4% of infections hospitalised.” Das Konfidenz-Intervall liegt hier zwischen 0,4% und 1,4 % bei einer 95% Wahrscheinlichkeit. (Mehr Details bei: Neil M Ferguson, Daniel Laydon, Gemma Nedjati-Gilani et al. Impact of non-pharmaceutical interventions (NPIs) to reduce COVID-19 mortality and healthcare demand. Imperial College London (16-03-2020), doi: https://doi.org/10.25561/77482.
https://www.imperial.ac.uk/mrc-global-infectious-disease-analysis/covid-19/report-9-impact-of-npis-on-covid-19/) Zusammengefasst: Es gibt keinen Hinweis auf einen IFR-Faktor von 1,57%; aber Hinweise auf einen „allgemeinen“ Faktor 1,0% und einen UK spezifischen Faktor von 0,9%.
Grundsätzlicher ist jedoch zu fragen, ob es eine universell gültige „Infection fatality rate“ (IFR) überhaupt gibt? In der Untersuchung von ISPI werden schon 3 unterschiedliche Koeffizienten für China, Italien und das UK aufgeführt. Auch die starken Unterschiede in der „Case fertility rate“ zwischen verschiedenen Ländern näheren den Zweifel an der Existenz universell gültiger Kennzahlen. Welchen Einfluss haben die Qualität des Gesundheitssystems und der Umfang der gesundheitlichen Versorgung auf die Sterblichkeit von Infizierten? Wie wirkt sich eine unterschiedliche Altersstruktur der Bevölkerung und der Infizierten auf die Sterblichkeit aus? Wie wirkt sich eine präventive und vorsorgende Gesundheitspolitik, die rechtzeitig notwendige Ressourcen bereitstellt, auf die Sterblichkeit aus? Welchen Einfluss haben soziale Verhaltensweisen im Alltag von größerer Nähe und intensiveren sozialen Kontakten in Familie und Freundeskreis?
Aber auch die ISPI Studie wirft methodische Fragen auf. Bei dem angegeben IFR Wert für Italien durch ISPI bleibt anzumerken, dass der Wert mit Bezug auf den Wert im UK entwickelt wird und dann Modifikationen aufgrund der spezifischen italienischen Altersstruktur vorgenommen werden. Darüber hinaus bleibt aber die Art der Bestimmung des Wertes im Dunkeln.
Im Folgenden wird ein alternativer Forschungsansatz propagiert, der belastbare Ergebnisse über die Inzidenz des Virus in der Gesamtbevölkerung und in relevanten Teilgruppen ermöglichen würde. Wenn die Politik grundsätzlich beschließt, „Mehr zu Testen“, dann wäre es mehr als elegant, dies mit einem repräsentativen Design einer größeren Testserie zu verbinden.
4. Verbreitung des Virus in Deutschland: „Bestätigte Fälle“ statt Inzidenz
Hier zuerst einmal die Position des RKI, als führender Regierungsberater: „Naturgemäß (?) kann niemand die tatsächliche Anzahl der heute oder in der vergangenen Woche erfolgten Infektionen genau wissen oder bestimmen. Erst wenn die betroffenen Personen positiv (?) getestet wurden, kann deren Anzahl in einem Erhebungssystem erfasst und analysiert werden…..(Schlussfolgerung) …. so dass kein Erhebungssystem (?), und sei es noch so gut, ohne zusätzliche Annahmen und Berechnungen eine Aussage über das aktuelle Infektionsgeschehen machen kann“. (RKI, Epidemiologisches Bulletin 17 |2020 Online vorab: 9. April 2020)
Stattdessen wird vom RKI, der Politik und den Medien Bezug genommen auf die „Bestätigten Fälle“.
Hier die Definition: Es werden die bundesweit einheitlich erfassten und an das Robert Koch-Institut (RKI) übermittelten Daten zu bestätigten COVID-19-Fällen dargestellt. COVID-19-Verdachtsfälle und – Erkrankungen sowie Nachweise von SARS-CoV-2 werden gemäß Infektionsschutzgesetz an das zuständige Gesundheitsamt gemeldet. Es werden nur Fälle veröffentlicht, bei denen eine labordiagnostische Bestätigung (unabhängig vom klinischen Bild) vorliegt.
Dieser Sachverhalt wird vom Statistiker Gerd Bosbach, wie folgt kommentiert (NachDenkenSeiten 26.3.2020): „Es ist inzwischen als Sachverhalt bekannt, dass wir die Gesamtzahl der Infizierten gar nicht kennen. Wer keine Symptome hat, wird nicht getestet, andere auch nur sehr eingeschränkt. Das wissen wir. Aber sobald wieder Zahlen genannt werden, tun wir wieder so, als würden wir diese genau kennen. Was wir kennen, ist die Zahl der positiv Getesteten. Die Zahl der Infizierten ist auf jeden Fall deutlich höher, aber niemand kann sagen, um welchen Faktor. Um dies zu beantworten, bräuchten wir eine repräsentative Stichprobe aus der Bevölkerung. Das ist zurzeit mangels Testkapazitäten in Deutschland nicht machbar“. Anschließend an die richtige Einschätzung von Bosbach möchte ich seinen Gedanken weiterführen und zuerst einmal den möglichen Nutzen einer solchen Inzidenz Erhebung kurz darstellen. Anschließend möchte ich abweichend von Bosbach, seine Annahme in Frage stellen, dass die Testkapazität in Deutschland nicht ausreicht.
In den letzten Tagen hat sich nach Angaben der Frankfurter Allgemein Zeitung vom 11.4.2020 (S.6) wohl auch die Position des RKI geändert. Danach hat das RKI am 6.4.2020 erklärt, „Dass es eine für ganz Deutschland repräsentative Studie von 15.000 Teilnehmern ab Mitte Mai 2020 plant“. Deutschland zieht hier Österreich mit einer mehrwöchigen Verspätung nach. Am Karfreitag präsentierte das Nachbarland schon die Ergebnisse seiner repräsentativen Studie. (Mehr Details in: FAZ, a.a.o. S. 6). Eine ähnliche Studie ist nach FAZ auch in Spanien geplant.
5. Sinn und Nutzen einer genauen Inzidenz Bestimmung für zentrale politische Entscheidungen
Es ist offensichtlich, dass eine wichtige Informationslücke in der Einschätzung der Bedeutung der Corona Pandemie momentan fehlt.
Was könnte eine Inzidenz Schätzung leisten. Hier einige Hinweise:
- Einschätzung des Gesamtrisikos von Corona und der Breite und Tiefe von Gegenmaßnahmen und die daraus folgende Strategie
- Sensibilisierung der Bevölkerung für die Größe der Herausforderung durch die Pandemie bei einer größeren Abweichung zwischen den offiziellen Zahlen der bestätigten Fälle und der tatsächlichen Betroffenheit. Hiermit könnte die Bereitschaft der Akzeptanz restriktiver Maßnahmen erhöht und die Sorgfalt der Einhaltung von Hygiene Regeln erhöht werden.
- Messung der Dynamik der Verbreitung des Virus
via Inzidenz:
- Bessere Evaluierung der Wirksamkeit der getroffenen Maßnahmen
- Information über besonders betroffene oder
weniger betroffene Gruppen, um diese besonders schützen zu können bzw., um
Maßnahmen zu lockern. Beispiele:
- Betroffenheit, Infektion bei Kleinkindern: Öffnung von Kindergärten
- Betroffenheit, Infektion von Schulkindern unterschiedlichem Alter: Öffnung von Schulen
- Betroffenheit von spezifischen Gruppen von Älteren: Empfehlungen zur freiwilligen Selbstbeschränkung
- Betroffenheit von Pflegepersonal in Altersheimen und Krankenhäusern
- Information über besonders betroffene Regionen:
Beispiele
- Geringere Betroffenheit: Mehr Freiräume
- Höhere Betroffenheit: Weniger Freiraum und z.B eingeschränkte regionale Mobilität
- Exaktere Berechnung des Mortalitätsrisikos mit
Bezug auf die Gesamtinzidenz
- Hiermit wird natürlich die Unschärfe, dass nur die mit Corona und nicht durch Corona gestorbenen gezählt werden, allerdings nicht beseitigt.
6. Mängel der bisherigen Statistik und deren Gebrauch
Wie oben erwähnt: In Deutschland gibt es keine Inzidenz Indikatoren
- Nicht für die Gesamtheit
- Nicht für Regionen
- Nicht für politische Maßnahmen relevante Gruppen
Die Definition von Corona Toten bleibt vage. Hier noch einmal die angewandte Definition:Todesfälle in Zusammenhang mit (!!!) diagnostizierten (!!!) COVID-19-Erkrankungen
Offen bleibt:
- Ist Corona die Todesursache?
- Ist es die wesentliche Todesursache?
- Wie groß ist die Zahl derjenigen, die an Corona sterben ohne diagnostiziert zu sein?
- Tote außerhalb des Krankenhauses
- Tote in Altenheimen?
- Tote, die zu Hause sterben?
- Inwieweit kann die s.g. „Übersterblichkeit“ mit Hilfe der amtlichen Todesstatistik wie in der Lombardei und in anderen Teilen Europas ermittelt werden? (Siehe hierzu auch FAZ, vom 25.4.2020, S.2)
Die relative Sterblichkeit durch oder mit Corona bleibt infolgedessen vage, wenn man die angewandte Definition der s.g. „Case fatality rate“ betrachtet: Zahl der mit (nicht durch!) Covid 19 gestorbenen dividiert durch die Zahl der bestätigten Fälle (nicht die Zahl der von Corona erkrankten)
Die Nutzung von absoluten Sterbezahlen und absoluter Betroffenheit in den Medien und durch die Politik hat nur einen beschränkten Aussagewert:
- Es wären sinnvoller relative Zahlen im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung zu benutzen
- Hiermit wäre auch eine regionale und internationale Vergleichbarkeit möglich
Des Weiteren wird in manchen Bericht zu viel Gewicht auf absolute Zahlen gelegt. Zur Einschätzung der Dynamik sind Zuwächse der einzig relevante Indikator
7. Mangelnde Vorhersagkapazität für die zukünftige Entwicklung: Schlechte Schätzung der Reproduktionszahl (R)
Nicht zu Unrecht gibt die Politik dem Indikator der zukünftigen Reproduktionszahl des Virus eine große Bedeutung. Durch das RKI wird dies wie folgt definiert: Die Reproduktionszahl ist die Anzahl der Personen, die im Durchschnitt von einem Fall angesteckt werden. Diese lässt sich nicht aus den Meldedaten ablesen, sondern nur schätzen. Die Reproduktionszahl wird aktuell auf R = 1,0 (95%-Konfidenzintervall: 0,8-1,2) geschätzt. Diese Schätzung basiert auf den übermittelten COVID-19 Fällen mit Stand 14.04.2020 und der Annahme einer mittleren Generationszeit von 4 Tagen. Lediglich Fälle mit Erkrankungsbeginn in den 3 Tagen vor dem aktuellen Datenstand wurden nicht berücksichtigt, da sie noch nicht in ausreichender Zahl übermittelt wurden und zu instabilen Schätzungen führen würden. (Mehr im Detail in: RKI, Epidemiologisches Bulletin 17, 2020 Online vorab: 9. April 2020, S.13f)
Dies ist eine Schätzmethode für die zukünftige Entwicklung auf der Basis einer historischen Zeitreihe täglich gemeldeter bestätigter Fälle unter Berücksichtigung von time lags. Dies ist eine sehr gebräuchliche Methode der Zeitreihenanalyse. Hier werden auch Konfidenzintervalle und Wahrscheinlichkeiten bestimmt. Hierzu ist einiges anzumerken:
Erstens: Die Politik muss darauf aufmerksam gemacht werden, dass es eine Fehlerwahrscheinlichkeit von 5% gibt und dass das Ergebnis im o.g. Fall zwischen 0.8 und 1.2 schwanken kann. Letzteres wäre eine nicht unwesentliche Beschleunigung der Verbreitung und würde auf beachtliche zukünftige Risiken hindeuten.
Zweitens: Auch diese Schätzmethode bleibt höchst unvollständig, da sie nur die Reproduktion der „gemeldeten Fälle“ aber nicht die Reproduktion der Erkrankten anzeigt. Die Unzulänglichkeit dieses Ansatzes macht das RKI selbst deutlich mit folgender Feststellung: „Ein Grund dafür, dass der Rückgang der Neuerkrankungen trotz der gravierenden Maßnahmen nur relativ langsam passiert, ist, dass sich das Virus nach dem 18. März stärker auch unter älteren Menschen ausbreitet und wir zunehmend auch Ausbrüche in Pflegeheimen und Krankenhäusern beobachten. Ein weiterer Aspekt ist aber auch, dass in Deutschland die Testkapazitäten deutlich erhöht worden sind und durch stärkeres Testen ein insgesamt größerer Teil der Infektionen sichtbar wird. Dieser strukturelle Effekt und der dadurch bedingte Anstieg der Meldezahlen, kann dazu führen dass der aktuelle R-Wert das reale Geschehen etwas überschätzt. Eine Adjustierung für die höheren Testraten ist nicht ohne weiteres möglich, da keine ausreichend differenzierten Testdaten vorliegen“ (RKI, a.a.O. S. 14f). Der s.g. „strukturelle Effekt“ sind direkte (mehr Altersheime) oder indirekte (mehr Tests) Effekte auf das Ergebnis, die sich daraus ergeben, dass die tatsächlich relevante Grundgesamtheit für die Vorhersage – nämlich die Inzidenz aller Betroffenen – nicht erfasst wird. Damit erkennt das RKI selbst, die Schwäche seines zentralen Messinstruments für die zukünftige Entwicklung des Virus an.
Drittens: Noch wichtiger als die beiden vorhergehenden Überlegungen ist die Tatsache, dass historische Zeitreihen umstandslos in die Zukunft als Trend weiter fortgeschrieben werden. Das ist zwar leider alltägliche Praxis in vielen Untersuchungen und darauf basierender politischer Beratung, dies macht aber die Sache nicht besser. Ausführlich hierzu u.a. N Talleb „The Black Swan“. Dies vor allem in einer sehr volatilen Situation, wo die Verbreitung und die Wirkungen des Virus schwer vorhersehbar sind. Des Weiteren in einer Situation, die durch permanente politische Intervention geprägt ist, deren Wirkung in der Zukunft schwer einschätzbar ist.
8. Inzidenz Bestimmung durch eine repräsentative Stichprobe in Deutschland
Im Gegensatz zur früheren Position des RKI handelt es sich bei dieser Problemstellung nicht um ein “naturgemäß“ gegebenes Informationsdefizit, was mit keinem Erhebungsinstrument überkommen werden kann. Das war blanker Unsinn. Ich stimme Bosbach vollkommen zu: Die Lösung ist eine repräsentative Stichprobe für Deutschland, die in Bezug auf die Stichprobengröße bestimmte Bedingungen erfüllen muss:
- Berücksichtigung der hypothetische Inzidenz
- Aussagefähigkeit für die regionale Inzidenz
- Aussagefähigkeit für gruppenspezifische Inzidenz nach Strukturmerkmalen
- Aussagefähigkeit für bestimmte systemrelevante Berufsgruppen (Pflegekräfte, Lehrer)
- Möglicherweise einen familienbezogenen Teil, wo in einer Familie Kinder und Eltern getestet werden
Möglicherweise braucht man hierzu eine größere repräsentative Stichprobe von vielleicht 15.000-20.000 oder mehr, wenn man zum Beispiel eine Verbreitung 1 % zugrunde legt. Alle Teilnehmer würden dann einem Test unterzogen in Kombination mit einem face-to-face Fragebogen. Die Kosten sind hierbei schwer abschätzbar und hängen vom Design ab.
Um die Dynamik der Verbreitung oder ihrer Eindämmung zu bestimmen, wäre des Weiteren sinnvoll im Jahr 2020 drei Wiederholungsuntersuchungen vorzunehmen.
9. Machbarkeit: Kein Mangel an Labour Kapazität
Bosbach hält eine repräsentative Studie für nicht machbar, da die Testkapazitäten in Deutschland nicht ausreichen würden. Dies möchte ich in Frage stellen: Nach Auskunft des Berufsverband „Akkreditierte Labore in der Medizin“ in Deutschland (ALM e.V.) mit mehr als 200 Laboren und 900 Fachärzten ergibt sich tagesaktuell in Deutschland folgende Situation: Die Kapazität der zuletzt 107 Labore, die sich an der ALM-Datenerhebung beteiligt haben, wurde auf 110.000 Tests täglich gesteigert. Macht insgesamt 550.000 Tests pro Woche. Durchgeführt wurden in der Karwoche aber nur 294.000 Tests.
ALM-Vorstand Doktor Michael Müller sagt: „Die verfügbaren Testkapazitäten übersteigen den Versorgungsbedarf aktuell deutlich. Es gibt noch Potenzial für zusätzliche Testungen.“ Was auch daran liege, dass sich viele Menschen bereits haben testen lassen, alleine seit Anfang März über 1,3 Millionen. Die ALM verzeichnet einen Rückgang um 50 Prozent an Laboruntersuchungen.
10. Machbarkeit: Umsetzung der Umfrage
Ein weiterer Aspekt bezieht sich auf das Design und Umsetzung der Umfrage. Stichproben Design und Fragebogen-Design könnte man innerhalb von 14 Tagen erstellen. Für die Durchführung von Tests und Befragung sollte man mit 3-4 Wochen auskommen. Innerhalb von 6-7 Wochen könnten bei entsprechenden Ressourcen-Einsatz erste Ergebnisse vorliegen.
Dr Hubert Krieger, Ehemaliger Research Manager in einem EU Think Tank in Dublin von 1987 bis 2012. Politikberatung; Wahlberichterstattung und Umfragen bei Infas, Bonn von 1981-1987
Ausbildung in empirischer Sozialforschung Zentralarchiv und Uni Köln (Diplom Volksw.), Essex University, Europäisches Hochschulinstitut in Florenz und Uni Köln (Promotion) und UCD Dublin (MSc). Leiter zahlreicher vergleichender Studien zur Lebensqualität und Gesundheitssituation in Europa für die Europäische Union.
Bildquelle: Pixabay, Bild von Miroslava Chrienova, Pixabay License
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