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Ungarn als Prügelknabe im Flüchtlingsdrama

Friedhelm Ost Von Friedhelm Ost
18. September 2015
Syrische Flüchtlinge in Budapest

Die Bilder, die die TV-Sender von der serbisch-ungarischen Grenze oder vom Budapester Hauptbahnhof in deutsche Wohnzimmer direkt übermittelten und mit manchen herzzerreißenden Live-Kommentaren versahen, waren erschreckend. Menschen aus Syrien, Afghanistan, dem Irak und Eritrea rüttelten an Zäunen und Grenzsperren, liefen über Felder und Wiesen, lagen verzweifelt am Boden. Über das Handy und andere Medien sowie Mund zu Mund-Propaganda erreichten derweil die Flüchtlinge die verlockenden Signale eines Willkommens in Deutschland.

An die Spitze dieser Bewegung setzte sich die Bundeskanzlerin; ihr folgten viele, die sich für offene Herzen und Grenzen einsetzten. Waren die Deutschen noch vor Kurzem – etwa bei der Griechenlandkrise – mit ihrer dunklen Vergangenheit der Nazi-Zeit konfrontiert worden, waren deutsche Regierungsmitglieder auf Plakaten in Athen mit Hitler-Schnäuzer verunglimpft worden, so wurden jetzt plötzlich Angela Merkel wie die Nachfolgerin von Mutter Theresa oder als heilige Johanna der Flüchtlinge verehrt und Deutschland als besonders humaner Staat, als Land des Hoffnungslichtes, empor stilisiert. Die Welle der Hilfsbereitschaft, die jenen Flüchtlingen entgegenschlug, die unser Land endlich erreichten, war in der Tat einzigartig und bewundernswert. Staatsdiener, Caritas und Rotes Kreuz sowie vor allem die zahllosen privaten Helfer haben Leistungen für die entwurzelten und verzweifelten Menschen erbracht, mit denen wohl niemand zuvor gerechnet hat. Sie haben das Deutschlandbild hell gemacht und mit ihren Aktionen global stärker verbessert, als man es zuvor in vielen Jahrzehnten mit manchen PR-Aktionen erreichen konnte.

Sand im Getriebe der Willkommenskultur

Inzwischen muss jedoch befürchtet werden, dass Sand ins Getriebe der Willkommenskultur gerät. Mit dem grenzenlosen Zustrom von Flüchtlingen sind bereits viele überfordert – etwa bei der Erstaufnahme, der Unterbringung in den Ländern und Kommunen, der medizinischen Betreuung, der Einschulung der Kinder und bei den notwendigen Asylverfahren sowie mit Blick auf die Zukunft vor allem bei der Integration.

Über 4 Millionen Syrer sind derzeit auf der Flucht, um Leib und Leben zu retten; hinzu kommen gut 2,5 Mio. Menschen aus Afghanistan, über 1 Mio. aus Somalia und etwa 3 Mio. aus Afrika. Fast 2 Mio. der Flüchtlinge haben es bis in die Türkei geschafft, über 1,2 Mio. bis in den Libanon, weit über 600.000 bis Jordanien. In den Lagern der Aufnahmeländer fehlt es an vielem, in manchen gar an allem. Die Lage dort ist so desolat, dass sich verständlicherweise immer mehr Menschen in Richtung Mittel- und Westeuropa aufmachen, um hier Zuflucht zu finden und ein wieder menschenwürdiges Leben zu beginnen. Die Zahl der Menschen, die in Deutschland ihr Heil allein im laufenden Jahr suchen und sich um Asyl bewerben, wird auf über 1 Million steigen; noch vor Monaten waren die Bundesregierung und andere Experten von 500.000 ausgegangen. Da sich weder in Syrien noch in Afghanistan, weder im Irak noch in Somalia oder in zahlreichen anderen Regionen abzeichnet, dass schon bald die kriegerischen Auseinandersetzungen beendet werden, dass der wütende IS sein Morden und Brandschatzen einstellen wird, muss man auch 2016 und danach mit einem Anhalten des Flüchtlingsstromes, der fast zu einer Völkerwanderung wird, rechnen und sich darauf einrichten.

Die Europäische Union hat bislang in geradezu erschreckender Weise versagt. Im Prinzip gilt nichts mehr, was die EU-Mitglieder einst in der Asylpolitik vereinbart haben. Beggar my neighbour-Politik wird von den meisten Regierungen praktiziert. Die Werte des Abendlandes werden auf nationalen Altären eilig geopfert. Ob die 28 Staats- und Regierungschefs am kommenden Mittwoch auf dem EU-Sondergipfel noch retten, was zu retten ist, und eine gemeinsame Strategie für die Aufnahme, für die Verteilung und Integration der Flüchtlingsflut finden werden, das mag man hoffen, doch es ist wohl sehr unwahrscheinlich.

Hilfe den schutzbedürftigen Menschen

Schon werden eher Prügelknaben gesucht: Für einige europäische Nachbarstaaten war Deutschland plötzlich zu offen für Asylbewerber. Für andere steht Ungarn am Pranger – allen voran der Regierungschef Victor Órban ( Heiner Geißler(85), Ex-CDU-Generalsekretär) in der Sendung Markus Lanz: „Viktor Orban ist ein nationaler und religiöser Rassist.“).  In Deutschland muss in Interviews und TV-Talkshows der ungarische Botschafter, Jozsef Czukor, als Prügelknabe herhalten, wenn ihn die “Gutmenschen“ heftig attackieren. Bei nationaler Betrachtung der Flüchtlingskrise kommt man jedoch nicht daran vorbei festzustellen, dass Ungarn sich an seine völkerrechtlichen und europäischen Verpflichtungen hält: Das Land sichert die EU-Außengrenzen und hilft – so gut es kann – den schutzbedürftigen Menschen. Dabei werden vor allem die Genfer Flüchtlingskonvention, die Dublin-Verordnung, der Schengen-Kodex und die Frontex-Richtlinie beachtet, wie Jozsef Czukor immer wieder betonte.

Konkret bedeutet dies: In der EU gilt die Dublin-Verordnung, der vor allem auch Deutschland zugestimmt hat. Wer dennoch in der EU Schutz sucht, muss sich dort registrieren lassen, wo er das Gebiet der Gemeinschaft betritt. Und er muss dort auch das Ende des Asylverfahrens abwarten; vorher darf er nicht weiterreisen.

Nach der Genfer Flüchtlingskonvention ist Hilfe für Schutzsuchende nur vorgesehen, “die die Rechtsvorschriften sowie die Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung“ in dem Land, in das sie kommen, beachten. Die ungarische Regierung war gewiss von der Flüchtlingsflut mehr als überrascht. Doch hat sie in ihren Erstaufnahmeeinrichtungen Schlafplätze, Essen, medizinische Versorgung, Zugang zum Internet und Fernsehen, Sportmöglichkeiten und ein monatliches Taschengeld geboten. Außerhalb dieser Erstaufnahmeeinrichtungen – etwa auf Feldern und Wiesen oder in Bahnhöfen – war eine angemessene Versorgung kaum möglich.

Schengen ist die Rechtslage

Der Schengen-Kodex schreibt vor, dass sich Menschen im Schengen-Raum frei bewegen können, wenn sie die dafür notwendigen Dokumente bei sich führen. Bei den Migranten, die in den letzten Wochen in Richtung Westeuropa ziehen wollten, war das nicht gegeben. Ungarn hat deshalb versucht, seine und damit die EU-Grenzen nach außen zu sichern. Denn jeder, der von außen kommt, muss sich identifizieren; sonst wäre er ein illegaler Einwanderer. Dies ist nach wie vor die Rechtslage, die europaweit gilt.

Da Deutschland und auch Österreich völlig überraschend signalisierten, offen für die Aufnahme von Flüchtlingen zu sein, wurde Ungarn überrannt, wurde die Kooperation von Migranten mit den dortigen Behörden weitgehend verweigert, werden nun andere riskante Wege um Ungarn herum – etwa über Kroatien und Slowenien – in Richtung der “gelobten Länder“ in Westeuropa beschritten. Schon wiederholen sich die dramatischen Vorfälle, wie sie sich an der EU-Außengrenze Ungarns ereigneten, in Kroatien und Slowenien. Diese Umwege sind eben auch keine Auswege für eine vernünftige Lösung der Flüchtlingsprobleme. Entweder einigen sich die Staats- und Regierungschefs auf dem EU-Gipfel in der nächsten Woche darauf, dass die Dublin- und Schengen-Regelungen noch gelten sollen, oder auf eine neue verbindliche Regelung für alle 28 Mitgliedsländer.

Falls dies nicht gelingt, könnte auch die deutsche Willkommenskultur bald Schiffbruch erleiden. Die eingeführten Erstaufnahmeeinrichtungen, die Länge der Asylverfahren, die Überforderung einiger Kommunen und das Gezerre des Bundes und der Länder um 6, 8 oder 10 Mrd. € für die Finanzierung der Migranten-Herausforderung sind nicht die besten Signale, um mit “heißem Herzen und kühlem Verstand“ eine der größten Aufgaben unseres Landes seit der Wiedervereinigung optimal zu lösen.

 

Bildquelle: Wikipedia, Mstyslav Chernov – Eigenes Werk, CC-BY-SA 4.0

 

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Tags: AsylEUEuropaFlüchtlingeFlüchtlingsdramaÓrbanSyrienUngarn
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