Vergleiche hinken. Berlin ist nicht Weimar. Aber die Verzettelung der Politik, die Verteilung der Macht auf immer mehr Parteien, das Vorrücken der Populisten und Nationalisten in Europa, der zerstrittene Westen oder das uneinige Europa, der Nationalist Trump, ein isolierter Putin, eine Bundesregierung, die kopfloser nicht sein könnte als die amtierende. Nirgendwo scheint ein Halt zu sein, einer der den Überblick hätte über das Durcheinander der Welt und dem drohenden Chaos Einhalt geböte. Es ist nur ein Datum, aber eines mit Sprengkraft: Vor 80 Jahren, am 22. September 1938 trafen sich Adolf Hitler und der britische Außenminister Neville Chamberlain im Rheinhotel Dreesen in Bad Godesberg. „Weltgeschichte am Rhein“, titelte laut Bonner „Generalanzeiger“ eine zeitgenössische Postkarte. Wenige Tage später wurde das Münchner Abkommen unterzeichnet, Hitler erpresste es, in dem er die anderen Verhandlungspartner dazu zwang, um des lieben Friedens willen dem Deutschen Reich das Sudetenland zu geben. Die Tschechoslowakei musste das Gebiet abtreten, sie saß gar nicht mit am Verhandlungstisch.
Chamberlain und Frankreichs Außenminister Édouard Daladier hatten sich gefügt, Hitlers wars zufrieden. Europa atmete auf, aber in die Begeisterung über den angeblichen Frieden mischte sich Trauer und Verzweiflung. Der britische Politiker Churchill ließ sich von dem Jubel nicht anstecken, sondern warnte: „..dass wir einen schrecklichen Meilenstein unserer Geschichte passiert haben…Glauben Sie nicht, dass das das Ende ist. Das ist erst der Beginn einer Abrechnung, bloß der erste Schluck, der erste Vorgeschmack des bitteren Trankes, der uns Jahr für Jahr vorgesetzt worden ist.“ Wie Recht er hatte. Die Welt stand am Abgrund. Die Appeasement-Politik verhinderte den Krieg nicht, sie gab Hitler nur noch etwas Zeit, sich etwas später zunächst die ganze Tschechoslowakei einzuverleiben, ehe er mit dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 die Welt in den Zweiten Weltkrieg stürzte.
Dass Hitler Krieg wollte, wusste seine Umgebung, die Welt fürchtete sich vor Hitler und griff nach dem Strohhalm, der aber keinen Halt vermittelte. Die deutsche Bevölkerung zog es nicht in den Krieg, damals nicht, wie Hitler erkannt hatte. „Mit diesem Volk kann ich noch keinen Krieg führen“, hatte er gesagt beim Blick aus dem Fenster der Reichskanzlei in Berlin auf sein Volk. „Noch“ hatte er eingeschränkt. Das aber hatten sie in Frankreich und London nicht gehört.
Mehr als 70 Mal war Hitler im Dreesen
Weltgeschichte am Rhein, Hitler und Chamberlain in Bad Godesberg. Der „Bonner Generalanzeiger“ hat seinen Rückblick auf das Treffen vor 80 Jahren mit einer Foto-Montage aufgemacht, das neben der zitierten Postkarte das Hotel Dreesen zeigt, den Bahnhof in Godesberg, das Hotel auf dem Petersberg, Nazi-Symbole wie das Hakenkreuz. Es wirkt ein wenig wie Jubelstimmung. Der Hotelier von einst Fritz Georg Dreesen wird mit den Worten zitiert: „Und so nahm die Welt plötzlich Notiz von einem kleinen rheinischen Städtchen namens Bad Godesberg.“ Übrigens war Hitler häufig zu Gast gewesen im Rheinhotel Dreesen. Mehr als 70 Mal sei er dort eingekehrt in den 20er und 30er Jahren, schreibt das Bonner Lokalblatt. Den Kontakt habe Rudolf Hess hergestellt. Dass das Treffen am Rhein stattfand, dafür gab es einen guten Grund, so die Zeitung, die den Hotelier Dreesen weiter zitiert: „Man wollte Chamberlain, der nur wenige Tage zuvor das erste Mal in seinem Leben ein Flugzeug bestiegen hatte, um Hitler in Berchtesgaden aufzusuchen, keinen weiteren langen Flug zumuten- also entschied man sich für den Flughafen in Köln.“
Das Treffen in Godesberg war der Vorläufer des Münchner Abkommens, einer Konferenz, die eine Woche später in der bayerischen Metropole stattfand und die ein Weltereignis mit besonders großer Konsequenz werden sollte. Es war der Vorabend des Krieges, der Westen hatte einen Verbündeten verraten an den Diktator aus Berlin, der Westen hatte seine Werte über Bord geworfen. Es war, wie die „Süddeutsche Zeitung“ in einem Beitrag über das Münchner Abkommen schreibt, „die Selbstpreisgabe der demokratischen Welt“.
Churchill war mit seiner ablehnenden Haltung zum Münchner Abkommen in der Minderheit. Bei der Abstimmung im britischen Unterhaus stimmten am 6. Oktober nach viertägiger Debatte 366 Abgeordnete für das Abkommen und 144 dagegen, Churchill enthielt sich der Stimme wie die Politiker Eden und der spätere Premierminister Macmillan. In Frankreich stimmten vor allem die Kommunisten gegen die Appeasementpolitiik. Nachzulesen bei Heinrich August Winkler.
Tausende Tschechen und Juden flüchten
Für die Tschechoslowakei ist das Abkommen der Anfang vom Ende des Staates. Verliert es doch mit dem überwiegend deutschsprachigen Sudetenland seine Industriebasis. Tausende Tschechen begeben sich auf die Flucht, viele Juden verlassen das Land, Nazigegner nehmen Reißaus. Churchill sollte mit seiner Warnungen Recht behalten. „Schweigend, trauernd, verlassend und gebrochen versinkt die Tschechoslowakei in der Dunkelheit“, prophezeit Churchill in seiner düsteren Rede. „Sie hat in jeder Weise dafür büßen müssen, dass sie sich den Demokratien des Westens und dem Völkerbund anschloss, dem sie stets treu gedient hat..“ Und weiter: „Niemals kann es Freundschaft geben zwischen der britischen Demokratie und der Nazimacht, jener Macht, welche die christliche Ethik mit Füßen tritt, sich auf ihrem Vormarsch an einem barbarischen Heldentum berauscht… und sich mit unbarmherziger Brutalität der Androhung mörderischer Gewalt bedient.“
Die systematische Verfolgung und Ermordung der Juden in Deutschland hat längst begonnen, später wird sie in anderen Teilen der eroberten und besetzen Länder Europas fortgesetzt, bald wird mit dem Vernichtungskrieg gegen Polen und später die Sowjetunion begonnen. Aber zunächst nimmt sich Hitler zunächst, das, was er ausgeschlossen hatte: den Rest der Tschechoslowakei. Im März 1939 marschiert er in Prag ein. Sein Satz „Wir wollen gar keine Tschechen“ erweist sich wie anderes als eine Lüge. Schon einen Tag nach der Rede im Berliner Sportpalast, am 27. September 1938 gab Hitler den Befehl, Kräfte für eine erste Angriffswelle bereitzustellen und 19 Divisionen mobil zu machen. Erst durch einen Vermittlungsversuch des italienischen Duce Mussolini wird die Mobilmachung verschoben.
Quellen: Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens. Die Zeit der Weltkriege 1914-1945. Bonner Generalanzeiger „Hitler und Chamberlain in Bad Godesberg“. SZ vom Wochenende „Nacht über Europa“.