In England sagt man „tit for tat“. Das bedeutet „wie du mir, so ich dir“ und bezeichnet mithin jene Form der Auseinandersetzung, die in frühen kindlichen Trotzphasen angesiedelt und von reflexhafter Revanche geprägt ist. Auf Worte folgen Widerworte, auf Kneifen Kratzen, Schlagen, in den Haaren reißen. Das Ganze steigert sich, bis nach wilder Wut zwei traurige, bitterlich weinende Kinder zurückbleiben, die schmollen und dann einen Weg suchen, sich doch wieder zu vertragen. Mit zunehmender Reife wird das „tit for tat“, eine milde Variante des alttestamentarischen „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, überwunden. Auf dem Weg zum Erwachsensein lernen die Kinder, Konflikte zivilisierter und vernunftgeleitet auszutragen.
Einige allerdings lernen es nie. Sie provozieren und reagieren ohne jeglichen Gebrauch der Vernunft. Mit gegenseitigen Beschuldigungen und Vorwürfen schaukeln sie sich solange hoch, bis das Wehklagen groß und der Weg zur Versöhnung versperrt ist. In der internationalen Zusammenarbeit ist das tit for tat eine äußerst gefährliche Umgangsform.
Öffentliche Attacken, Provokationen, Unterstellungen heizen den Konflikt um den Nervengift-Angriff auf den ehemaligen russischen Doppelagenten Sergej Skripal an. Als „äußerst wahrscheinlich“ bezeichnete es der britische Außenminister Boris Johnson bei „Sky News“, dass der russische Präsident Wladimir Putin selbst den Gifteinsatz gegen Skripal entschieden habe. Nach der Devise, stark behauptet ist halb bewiesen; denn Belege gab es dafür nicht.
Die erwartbare Antwort aus Moskau folgte umgehend. Jeder Verweis auf den Präsidenten oder auch nur seine Erwähnung in diesem Zusammenhang sei „eine schockierende und unverzeihliche Verletzung der diplomatischen Anstandsregeln“, wurde ein Kreml-Sprecher zitiert. Er bekräftigte, was aus Moskau seit Tagen gebetsmühlenartig wiederholt wird: „Wir haben nichts mit dieser Geschichte zu tun.“
Auch das ist natürlich eine Behauptung, und die britische Premierministerin Theresa May hat auf ihre Weise deutlich zu verstehen gegeben, dass sie diese Behauptung für eine dreiste Lüge hält. Sie verfügte die Ausweisung von 23 russischen Diplomaten aus dem Vereinigten Königreich und drohte „andere Maßnahmen“ für den Fall an, dass „Russland uns weiter provoziert“. Im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ging es entsprechend hoch her. Die Vertreter von Großbritannien und den USA heizten dem russischen Botschafter kräftig ein, der keifte ebenso zurück. Gerade so wie in Zeiten des Kalten Krieges, obschon: die Angelegenheit wirkt wie eine böse Farce, berechenbar inszeniert.
Hier eine Premierministerin in Bedrängnis, dort ein Präsident vor der Wiederwahl. Theresa May gibt sich angriffslustig gegen den Schurken im fernen Moskau und verschafft sich daheim eine Verschnaufpause im Brexittheater. Wladimir Putin nimmt die Gelegenheit dankbar auf, sich seinen Landsleuten als starker Mann zu präsentieren, der das große stolze Land tapfer gegen die übelmeinenden Mächte des Westens verteidigt.
Cui bono – wem nützt es? In jedem Fall hat die britische Regierung dem russischen Präsidenten eine willkommene Vorlage für seinen Wahlkampfendspurt geliefert. Und aus Berlin, Paris und Washington kommt Rückendeckung für Theresa May. In einer gemeinsamen Erklärung heißt es, eine andere Erklärung als die, dass der Kreml seine Hände im Spiel habe, sei nicht plausibel.
Das ist vage, und die Ermittlungserkenntnisse sind dürftig. Sergej Skripal und seine Tochter waren am 4. März bewusstlos auf einer Parkbank in der südenglischen Stadt Salisbury aufgefunden worden. Nach britischen Angaben wurden sie Opfer des Nervengifts Nowitschok, das während des Kalten Krieges in der Sowjetunion entwickelt wurde. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde die Herstellung gestoppt und offiziell wurden alle Bestände beseitigt. Spekulationen zielen in zwei Richtungen: Russland könne die Produktion wieder aufgenommen haben, oder aber, die Formeln sind in den wilden 1990er Umbruchsjahren in falsche Hände gelangt. Die eine Variante so plausibel wie die andere und beide nicht belegt.
Weitere Spekulationen fügen Zeitungskommentare an, die von „Londongrad“ sprechen, von einer „mysteriösen Mischung aus Oligarchen und Spionen, politischen Gegnern, aber auch Verbündeten und 'Sponsoren' des russischen Präsidenten, die sich in London seit dem Zusammenbruch der UdSSR eingenistet hat“. Die „Times“ schlägt sogar vor, die Kinder russischer Geschäftsleute aus den Privatschulen in Großbritannien zu verbannen, um Putin zu treffen. „Das klingt vielleicht nicht heldenhaft nach Winston Churchill“, räumt der Kommentator ein, „doch in diesem neuen Zeitalter der Kriegsführung ist Soft Power so real und nützlich wie jedes andere Mittel der Machtausübung.“
Die James-Bond-Phantasien gedeihen, die Sprache rüstet auf. In einem Rechtsstaat sind jedoch zu allererst polizeiliche Ermittlungen nützlich. Indizien reichen zu einer Verurteilung nicht aus. Die russische Regierung dreht ihrerseits den Spieß um und verlangt Aufklärung darüber, wie es sein kann, dass ein russischer Staatsbürger in England einem derartigen Verbrechen zum Opfer fällt.
Wenige Tage nach dem Anschlag auf Skripal kam der frühere russische Manager Nikolai Gluschkov, der in England Asyl genoss, unter ungeklärten Umständen zu Tode. Die britische Regierung sieht keinen Zusammenhang. Und dann schwelt da noch der Fall von Alexander Litwinenko, wie Skripal ein ehemaliger Geheimagent, der 2006 in London durch das radioaktive Polonium ermordet wurde. Zehn Jahre nach der Tat schloss ein britischer Untersuchungsbericht die Akte mit der Feststellung, „wahrscheinlich“ sei Moskau verantwortlich. Letzte Klarheit wird es wohl nicht mehr geben.
Der Kommentar ist doch etwas eng angelegt, spiegelt nur die medial übliche Debatte.
1) Er geht nicht auf die chemiewaffenrechtliche Seite ein. Auch Russland hat das Chemiewaffenübereinkommens (CWÜ) unterzeichnet. Der in Salisbury freigesetzte Stoff wurde anscheinend Skripals Tochter bei einem Moskau-Besuch zugesteckt. Es bestehen somit sichere Indizien, dass (a) ein unter dem CWÜ anmeldepflichtiger Stoff existiert; und (b) er vermutlich in Russland zumindest in Verkehr gebracht worden ist. Es gibt somit schon eine offenkundige Verpflichtung Russlands, welches sich erst im September 2017 für Chemiewaffen-frei erklärt hatte, zur Kooperation, nicht nur in der Aufklärung des Vorfalls sondern auch hinsichtlich der Aufklärung, aus welchen (völkerrechtswidrigen) Beständen er stammen mag.
2) Russland hat angeboten, den Vorfall nach Artikel 9 (2) des CWÜ zu diskutieren. Das schärfere Schwert wäre, dass UK ein »Ersuchen um Klarstellung« nach Artikel 9 (3)-(7) des CWÜ stellt; bzw. dass die EU-Führer, die sich solidarisch mit Frau May erklärten, dies täten. Das Rätsel ist, dass dieser völkerrechtliche Weg nicht beschritten wird – und das ausgerechnet von den Vertretern des regelgebundenen Ansatzes.
Vgl. dazu ausführlicher den SWP-Experten Oliver Meyer
https://www.swp-berlin.org/kurz-gesagt/2018/salisbury-ein-fall-fuer-das-chemiewaffenuebereinkommen/
3) Wenn die Berichte in britischen Medien zutreffen, die ich oben erwähnt habe, dass der Stoff (bzw. die beiden Komponenten, die zusammengeführt werden müssen, damit er entsteht,) der Tochter Skripal in Moskau zugesteckt worden ist, dann ist schwer vorstellbar, dass es sich um einen Anschlag auf deren Vater gehandelt haben soll.
Keine Beweise, aber der Fall ist schon sicher abgemacht. In der EU ist es neu, Geschäfte wie Großbritanien zu führen. Ehemals wurden reale Untersuchungen notwendig, jetzt eine Demokratie ist nur ein Wort ohne Inhalt. Das schrecklichste ist dass es für die wichtigsten und mächtigen Staaten der WElt ganz in Ordnung.