Zum 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar 1945 eine Erinnerung daran, wie der spätere Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll 1954 das Verschweigen und Verdrängen der systematischen Vernichtung der europäischen Juden durch die Deutschen brach.
Keine fröhliche Osterbotschaft
Eine fröhliche Osterbotschaft war es nicht. Was Heinrich Böll in der Gründonnerstagsausgabe der „Kölnischen Rundschau“ am 15. April 1954 zu sagen hatte, wühlte die Leser auf, forderte zur wütenden Ablehnung, aber auch zur Zustimmung heraus. Nicht die Auferstehung des Herrn stand im Mittelpunkt des Artikels. Vielmehr forderte der Kölner Schriftsteller von den Lesern der katholisch-konservativ geprägten Zeitung bei „aller Osterfreude“ eine „Auferstehung des Gewissen“. Unter diesem Titel ritt Böll eine Attacke auf die Verdrängung der Nachkriegsgesellschaft, griff den verlogenen Umgang mit der Nazizeit an und brach als erster das Schweigekartell, das die Verbrechen der Deutschen an Millionen Juden aus dem Bewusstsein zu löschen suchte. Bitter klagte er an:
„Unsere Kinder wissen nicht, was vor zehn Jahren geschehen ist. Sie lernen die Namen von Städten kennen, mit deren Nennung sich ein fader Heroismus verbindet: Leuthen, Waterloo, Austerlitz, aber von Auschwitz wissen unsere Kinder nichts. Seltsame und recht fragwürdige Legenden werden unseren Kindern erzählt: vom Kaiser Barbarossa, der mit den Raben auf den Schultern im Kyffhäuser sitzt; aber die historische Realität der Stätten wie Treblinka und Majdanek ist unseren Kindern unbekannt.“
Unwissenheit der Kinder
Doch die Unwissenheit der Kinder, die der Schriftsteller nicht erdacht, sondern bei Schulbesuchen tatsächlich erfahren hatte, war nicht sein größtes Problem. Vielmehr:
„Wie die Unwissenheit der Kinder beweist, ist das Gewissen der Eltern – unser Gewissen – tot; getötet vielleicht von Vitalität, aber wir wollen uns nicht täuschen: die Vitalität, die das ‚deutsche Wunder‘ bewirkt, ist kein Alibi für das Gewissen der Christenheit.“
Und diesem Gewissen wirft er noch eine Boshaftigkeit nach:
„Wir beten für die Gefallenen, für die Vermissten, für die Opfer des Krieges, aber unser abgestorbenes Gewissen bringt kein öffentliches, kein klares und eindeutig formuliertes Gebet für die ermordeten Juden zustande, und doch müsste, wer Augen hat zu sehen, wer Ohren hat zu hören, es überall sehen, überall hören.“
Bölls Einlassung ist ein Tabubruch. Während die Redaktion der „Kölnischen Rundschau“ über das Echo der Leser hilflos von den „Schandtaten des vorigen Regimes“ spricht, weiß Böll, dass es für die Ungeheuerlichkeit dieser Verbrechen keine Sprache gibt:
Fabrikmäßige Ermordung der Juden
„Was sich mit Namen wie Auschwitz verbindet, lässt sich nicht ausdrücken.“
Seine Zeitgenossen sahen das zum größten Teil anders. Wer Kinder mit Auschwitz belasten wolle, so belehrte ihn ein Leserbriefschreiber, der müsse sie auch mit der massenhaften Vergewaltigung von Frauen und Mädchen durch östliche Soldateska und die Leiden und Schrecken der Millionen Flüchtlinge konfrontieren.
Die Einmaligkeit und Monströsität der fabrikmäßigen Ermordung eines Volkes – kein Thema für große Teile der Deutschen.
Für den Kölner Schriftsteller war es unsäglich, dass die Täter von gestern unerkannt und ungestraft in der bundesdeutschen Gesellschaft leben und Karriere machen konnten. Jeder, so seine bittere Erkenntnis über die nicht aufgearbeiteten Verbrechen, könne ein Mörder gewesen und in die Anonymität abgetaucht sein. Bei einem gemeinsamen Schulbesuch mit dem Lyriker Paul Celan, dessen Eltern im KZ ermordet worden waren, beobachtete Böll, ein Gespräch Celans mit einem kleinen Mädchen und fragte in dem in der „Kölnischen Rundschau“ veröffentlichtem Artikel bitter: „Könnte nicht der Vater dieses kleinen Mädchens die Eltern dieses Dichters ermordet haben?“
Mehr als eine rhetorische Frage. Denn die bundesrepublikanische Gesellschaft war durchsetzt von Altnazis, die nach außen ihre Vergangenheit abgestreift hatten, in Wahrheit aber dem nationalsozialistischen Denken nachhingen. Eine Gefahr für die junge Republik, dem neben Böll andere Schriftsteller, Wissenschaftler, Künstler und Politiker nicht tatenlos zusehen wollten. 1956 formierten sie sich zu einem lockeren Bündnis im „Grünwalder Kreis“, benannt nach dem Münchner Vorort, in dem sie zur Gründungsversammlung aufgerufen hatten. So unterschiedliche Persönlichkeiten wie Hans Werner Richter, Impressario der Schriftsteller- „Gruppe 47“, der Sozialdemokrat Hans-Jochen Vogel, der Autor Martin Walser, der Historiker Ernst Nolte, aber auch der spätere Vertriebenen-Funktionär und Reaktionär, Herbert Hupka, organisierten sich als „Feuerwehr der Demokratie“, um Nazi-Verbindungen aufzudecken und deren Einfluss einzudämmen. Die Aktivitäten des Kreises richteten sich „gegen rechtsextreme und in der Tradition des Nationalsozialismus wirkende Verleger und Schriftsteller“, wie der Politikwissenschaftler Johannes Heesch in dem von Gesine Schwan herausgegebenen Sammelband „Demokratische politische Identität“ 2006 analysierte. Aber auch „gegen tendenziöse Schulbuchliteratur, gegen ehemalige Angehörige der Waffen-SS in der jungen Bundeswehr sowie gegen Restbestände nationalsozialistischer Kontinuitäten in den verschiedenen Berufssparten des Staates: etwa in der Ministerialbürokratie, der Jurisprudenz, der Bundeswehr oder im Schulwesen.“ (Heesch)
Auferstehung des Gewissens
Der Kreis ist heute nahezu in Vergessenheit geraten, doch seine Arbeit von 1956 bis 1958 trug dazu bei, dass die „Aufarbeitung der Vergangenheit“, so Ernst Nolte, an Bedeutung gewann. Und dass sich auch die Justiz der Bundesrepublik 1958 nicht mehr der Aufgabe verschließen konnte, sich endlich der Täter von Auschwitz anzunehmen. Aber diese längst überfälligen Ermittlungen waren nicht der Auferstehung des Gewissens in der deutschen Justiz zu verdanken. Vielmehr der Hartnäckigkeit eines wegen Meineids in der Haftanstalt Bruchsal einsitzenden Kleinkriminellen und ehemaligen Häftlings in Auschwitz. Adolf Rögner, der als „Vorbeugungshäftling“ 1942 nach Auschwitz deportiert worden war und dort mit der KZ-Nummer 15 465 einsaß, setzte die Staatsanwaltschaft in Stuttgart mit einem Schreiben vom 1. März 1958 auf die Spur des SS-Oberscharführers Wilhelm Boger, der wegen seiner Brutalität in Auschwitz gefürchtet war und in der BRD als kleiner Angestellter eines Motorenwerks in Hemmingen bei Stuttgart untergetaucht war. Monate dauerte es, bevor die Staatsanwaltschaft sich der Anzeige Rögners, die sie am liebsten als Aufschneiderei eines „geltungssüchtigen Psychopathen“ abgetan hätte, letztlich auf Druck des internationalen Auschwitz-Komitees annahm.
Im Oktober 1958 wurde Boger, einer der rund 8000 SS-Leute, die die Mordmaschinerie in dem KZ mit seinen 40 Außenstellen organisierten, festgenommen. Von 1942 bis 1945 wurden in Auschwitz 965 000 Juden, 75 000 Polen, 21 00 Sinti und Roma, 15 000 sowjetische Kriegsgefangene, 15 000 andere von den Nazis verfolgte Häftlinge ermordet.
Bis zum Prozess gegen Boger und andere war es noch ein langer Weg. Erst nach vierjährigen Ermittlungen, der Befragung von mehr als 1200 Beschuldigten, von über 1000 Zeugen, Holocaust-Überlebenden und ehemaligen SS-Mitgliedern konnten die Staatsanwälte Georg Friedrich Vogel und Joachim Kügler beim Landgericht Frankfurt gegen 24 Beschuldigte die Anklageschrift einreichen.
Der erste Auschwitz-Prozess dauerte 20 Monate. 360 Zeugen wurden vernommen. Nur sechs Angeklagte wurden zu lebenslangen Zuchthausstrafen verurteilt, weil ihnen eigenmächtige, aus niederen Beweggründen begangene Morde nachzuweisen waren.
Bis zum Urteil waren mehr als zehn Jahre seit Heinrich Bölls Appell zur „Auferstehung des Gewissens“ vergangen. Seine Mahnung hat an Dringlichkeit nichts verloren. Spuren der Ermordeten von Auschwitz, die sich so oft „in Güterwagen verloren“ (Böll), führen dennoch bis heute in unsere Städte zurück. Nicht nur mit der Namenlosigkeit der großen Zahl von mehr als sechs Millionen gemordeten Juden, wollte Böll aufrütteln. Jede einzelne Spur, jedes Opfer war ihm wichtig. Und so wies er in seinem Aufsatz ganz besonders auf eine Fährte hin, die in Köln bis heute lebendig ist.
Die Spur der Edith Stein
„Eine Spur, die sich unbekannt in der Namenlosigkeit des Massenmordes verlor, führt über ein holländisches Lager, ein holländisches Kloster, unweigerlich nach Köln zurück: die Spur von Edith Stein; ihr Name blieb erhalten, weil sie als Philosophin bekannt war; aber der Name von Edith Stein zeugt nicht nur für ihre Philosophie, für ihr Leben als Karmeliterin, er zeugt auch für den Mord an den Juden. Ein Güterzug, der von Holland aus ostwärts fuhr, ein Zettel, aus dem fahrenden Zug geworfen: das ist die Spur, die in eins der Vernichtungslager im Osten führt, eine Spur, die in das Herz von Köln, in den Kölner Karmel zurückführt.“
Wer ein Gewissen hat, „wer Augen hat zu sehen, Ohren zu hören“, so Heinrich Böll, der bleibt von seiner Osterbotschaft aus dem Jahr 1954 bis in diese Zeit nicht unberührt.
Bildquelle: Public Domain, CC0