Der Journalist und Buch-Autor Georg Stefan Toller- der Mann ist 96- wurde einst gefragt, ob er sich erinnern könne, wie es damals anfing mit der Juden-Verfolgung. Troller, ein Jude, der vor den Nazis aus Wien fliehen musste, erinnerte sich sehr wohl und antwortete: Als die Gassenjungen ihm als Juden die Mütze wegnahmen, irgendwo in den Baum warfen und niemand ihm half. Eine vielsagende der vielen Anekdoten und Geschichten, die Axel Hacke in seinem lesenswerten Buch „Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen“ erzählt. Und den Leser zum Nachdenken bringt. Nein, Lösungen hat der Autor, Kolumnist der SZ seit vielen Jahren, nicht parat. Das wäre auch zu einfach. Wer weiß schon, was Anstand bedeutet und wie man mit Anstandslosigkeit umgeht.
Respekt ist einer der Begriffe, die sich durch das kleine Werk Hackes ziehen. Respekt vor dem anderen Menschen, seiner Meinung und seiner Haltung. Ihm zuzuhören, nicht den Oberlehrer zu spielen und es dem anderen zeigen, auch wenn es einen in den Fingern juckt. Respekt heißt zugleich Rücksicht zu nehmen auf andere, nicht die Ellenbogen auszufahren, um sich einen Vorteil zu verschaffen, wo auch immer.
Viele Alltagsgeschichten
Das Buch liest sich teils wie eine Gebrauchsanweisung für den Alltag. Viele Leser werden ihren Alltag wieder erkennen, haben ähnliche Geschichten erlebt, auf der Strasse, in der Tram, beim Einkaufen. Man wird bedrängt, beiseite geschubst und der andere entschuldigt sich noch nicht einmal für seine Rüpelei. Oder der Kampf um einen Parkplatz. Klar, man hätte ja zurückziehen, stehenbleiben und dem anderen den Vortritt lassen können. Dann wäre einem die Tasche nicht aus der Hand und auf den Boden gefallen. Hacke stellt die Frage, die sich schon Anton Tschechow gestellt hat: „Warum leben wir nicht so, wie wir leben könnten?“ Die Frage muss sich jeder selber stellen, er sollte zunächst bei sich anfangen. Dazu gehört eine gewisse Demut, auch Neugier auf den anderen, den man nicht kennt und nicht weiß, warum er sich so verhält, wie er sich gerade verhalten hat, eben rücksichtslos und ohne eine Miene zu verziehen. Mag sein, dass der es gar nicht merkt.
Aber natürlich gibt es auch die andere, die gute Seite. Vor ein paar Wochen habe ich das in der Straßenbahn in Bonn erlebt, bei der Fahrt von Kessenich zum Hauptbahnhof. Als die Straßenbahn hielt, um Fahrgäste aus- und einsteigen zu lassen, griffen junge Menschen, sicher unter 20, einer alten Dame unter die Arme und halfen ihr beim Einsteigen. Sie hatte ihr Gehwägelchen dabei, das gaben die Jugendlichen ihr dann auch noch. Und beinahe selbstverständlich überließen sie der Frau den erstbesten Sitzplatz. Donnerwetter, dass es das noch gibt, dachte ich.
Zurück zu Hacke, den Buchautor, den ich im Bonner Pantheon früher live erlebt habe, wenn er aus seinen anderen Büchern vorlas. Es war stets zum Schmunzeln, wenn der gelernte Journalist- er hat als Reporter für die SZ gearbeitet- aus seinem Leben erzählte. Auch da gab er manches aus seinem Leben preis, nichts Sensationelles, aber viel Menschliches, hübsch erzählt, dem Zuhörer wurde es nie langweilig.
Man liest und legt es nicht mehr weg
So ging es mir auch mit dem Buch über Anstand, das man in die Hand nimmt und nicht mehr weglegen möchte. Nein, es ist nicht spröde, nicht sperrig, wie das jemand geschrieben hat und schon gar nicht langweilig, was er auf 189 Seiten über den Alltag der Menschen in diesen Zeiten erzählt, Zeiten, in denen die Welt kopf zu stehen scheint, die Grundlagen des menschlichen Miteinanders vielfach infrage gestellt werden, weil eine galoppierende Verrohung um sich greift. Lüge, Rücksichtslosigkeit und Niedertracht regieren die Welt. Es mag ja sein, dass das mit dem Anstand für manche Zeitgenossen aus der Mottenkiste hervorgeholt wurde, aber es war Zeit und ist ein Verdienst Hackes, das Thema aufzugreifen und die Umwelt zum Nachdenken und zum Mitmachen zu bewegen.
In der Politik erleben wir einen US-Präsidenten Trump, der alle möglichen Regeln eines geordneten und gesitteten Miteinanders verletzt, der nur auf sich schaut und der Welt zeigen will, dass er der Große ist, der macht, was er will. Amerika first, ist so ein Ausdruck seiner Ich-Bezogenheit, wie er die unterzeichneten Dekrete der Öffentlichkeit präsentiert und dabei das Kinn triumphierend nach vorn und oben streckt. Ich empfinde das auch als affig. Wie er bei einem Gipfel den montenegrinischen Premier beiseite schubst, um selber in der ersten Reihe zu stehen. Man schämt sich, weil der Präsident der Vereinigten Staaten früher mal auch ein Anführer des Westens war, unserer Wertegemeinschaft. Anstösse dafür gibt er nicht, weil vieles, was er tut, anstössig ist.
Der gepflegte Umgang miteinander
Anstand, der gepflegte Umgang miteinander, ich möchte noch einen Begriff hinzufügen, der in dieses Buch gepasst hätte: die gute Kinderstube, Grenzen, die man daheim als Kind aufgezeigt bekam und gelegentlich noch bekommt, in denen man sich bewegen sollte, um andere nicht ohne Not zu stören. Eben Rücksicht aufeinander zu üben. Mir fällt dabei auch immer wieder der Satz von Johannes Rau, des Bundespräsidenten, ein: Einander achten und aufeinander achten. Dazu gehört ein Gefühl von Solidarität und Gemeinsinn. Jungen helfen den Alten, Gesunden den Kranken, Reiche den Armen. Das ist soziale Gemeinschaft, wie sie sein sollte, sich aber in der Realität anders darstellt, weil die Gier manche Menschen nach allem greifen lässt, was sie irgendwie erhaschen können- ohne Rücksicht auf andere. Es ist legal, aber nicht legitim.
Hacke zitiert den römischen Kaiser Marc Aurel aus dessen „Selbstbetrachtungen“. Da ist zu lesen: „So oft du an der Unverschämtheit des Menschen Anstoss nimmst, frage dich alsbald: Ist es auch möglich, dass es in der Welt keine unverschämten Menschen gibt? Nein, denn sie war und ist Teil der Welt.“ Im Moment steht sie in größter Blüte, wie der Autor urteilt, weil wir in Zeiten großer Unverschämtheiten leben. Und wiederum zeigt er nicht mit dem Finger auf andere, sondern rät dazu, zunächst bei sich selbst anzufangen, sich an die eigene Nase zu fassen. Aber, auch das gehört dann als Folge dazu: Wir müssen uns auch einmischen, engagieren, das verlangt unser demokratisches System, das das Beste ist, was Deutschland je gehabt hat und deshalb verteidigt werden muss.
Nachdenken, wie wir leben könnten
Überlegen, nachdenken, wie wir leben könnten. Was Du nicht willst, dass man dir tut, das füg auch keinem anderen zu. Ja, dieser Satz, diese Weisheit ist alt, uralt. Man kann diese goldene Regel auch positiv wenden, als Grundsatz der praktischen Ethik: Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst. Aber wenn man in die sozialen Medien schaut, die ich schon länger als asoziale Medien bezeichne, stehen einem(so man hat) die Haare zu Berge, anderen wird es schier schlecht angesichts der Orgie von Unverschämtheiten, Pöbeleien, dem Dreck, der da abgesondert wird von anonymen Verfassern. Das ist die Gosse, egal wie das Medium heißt. Und auch Hacke fragt sich, warum das alles zulässig ist. Der frühere Zeitungsmann erinnert sich daran, dass der Chefredakteur oder der Ressortleiter verantwortlich war und ist auch für Leserbriefe. Und selbstverständlich wurden Leserbriefe beleidigenden Inhalts nicht gedruckt, man hätte sonst ein Verfahren vor Gericht riskiert. Mit Recht. Warum wird das zugelassen? Und wer schreibt das, was Hass, Herabwürdigung, Beleidigung ist? Es sind Leute, die auf sich aufmerksam machen wollen, die sonst vielfach am Rande stehen, die überfordert sind von dieser Welt, die verunsichert sind und die sich nun in dieser anonymen Nische verbal austoben. Sich mit ihnen anlegen sollte man nicht, zitiert Hacke Mark Twain(wenn er es denn wirklich war): Streite dich nie mir dummen Leuten, sie ziehen dich auf ihr Niveau herunter und schlagen dich dann mit ihrer Erfahrung.
Das tut man nicht, wer hat den Satz noch nie gehört. Benimm dich, man legt die Füsse weder auf den Tisch noch auf die Sitzbank in der Tram oder im Zug,weil man sie beschmutzt, man lässt auch den Müll nicht einfach auf den Sitzen liegen oder wirft ihn zu Boden. Man nimmt Rücksicht auf andere, weil man möchte, dass auch andere Rücksicht auf einen selbst nehmen. Wir haben uns an einen rauhen, unverschämten Ton gewöhnt, heißt es auf der Rückseite des Buch-Einbands, an Lügen, Beleidigungen, Maßlosigkeit, die grundlegenden Regeln menschlichen Anstands stehen in Frage. Deshalb und darüber hat Axel dieses feine Buch geschrieben, das zu lesen sich lohnt.