Die Debatte finde ich sonderbar: Es sind bisher -aus welchen Gründen auch immer- erst ein paar Prozent der Bürgerinnen und Bürger gegen Corona geimpft worden und schon ist die Diskussion darüber entbrannt, ob die Geimpften sofort wieder alle Freiheiten zurückerhalten sollten. Der Bonner Gegenwarts-Philosoph, Prof. Markus Gabriel, hat dies in der „Welt“ gefordert und es als „moralische Pflicht“ und einen „Akt der Solidarität“ genannt, Lockerungen für Corona-Geimpfte zuzulassen. Gabriel hat sich damit gegen die Empfehlungen des Ethikrats gestellt. Dabei gibt es gute Gründe, genau das Gegenteil dessen zu fordern. Wir sind doch erst am Anfang eines langen Impf-Prozesses, es wird Monate dauern, ehe wir genügend Impf-Dosen zur Verfügung haben, damit zwei Drittel der Deutschen geimpft werden können und wir eine Art Herden-Immunität erzielt haben.
Jetzt schon wieder Lockerungen in den Raum zu stellen, könnten allzuviele Zeitgenossen missverstehen, als wäre die Pandemie schon bald gelöst. Vorsicht! Nirgendwo ist grünes Licht in Sicht, wir können, so gern wir das täten, noch lange nicht aufatmen. Wir müssen weiter auf Distanz leben, mit Mundschutz, Einhaltung der Hygieneregeln, wenn möglich zu Hause arbeiten und jeglichen Kontakt zu anderen irgendwie vermeiden. Nur so kommen wir über den Berg und gelangen ans Ziel. Gemeint ist hier, dass jeder, der will, auch geimpft wird. Und die Politiker, unterstützt und beraten von den medizinischen Experten, sollten alles daran setzen, um möglichst alle Bürgerinnen und Bürger auf diesem schwierigen Weg mitzunehmen, damit sie sich impfen lassen. Das ist mühsam, dazu ist viel Geduld nötig, Überredungskunst, aber anders wird es nicht gehen.
Es darf nicht der Anschein erweckt werden, als würden hier wieder mal Privilegien verteilt. Eine solche Debatte könnte entgleiten, die da unten gegen die da oben. Man kennt das und das wäre auch schwer zu steuern. Nein, hier geht es doch nicht um Privilegien. Wir brauchen einen Impfplan, der die Reihenfolge festlegt, wer in den nächsten Monaten geimpft wird: dabei sollten wir das medizinische Personal und all die Menschen, die qua Beruf in die Alten- und Pflegeheime müssen und die das Virus von außen in die Häuser einschleppen, als erste impfen und dann die Alten und Kranken. Und bitte die Hausärzte, die geschützt werden müssen, damit sie ihren Beruf weiter ausüben können, beim Impfen nicht vergessen. Der Ethikrat will nur Bewohner von Pflegeheimen mehr Freiheiten gewähren, weil hier die Menschen besonderen Belastungen ausgesetzt seien, die über das Normalmaß anderer hinausreichten. Es wird nicht einfach sein, darüber im konkreten Einzelfall zu entscheiden.
Wenn wir die Diskussion über Geimpfte und Nichtgeimpfte offen führen wollten, müssen wir aufpassen, dass diese Debatte nicht den Eindruck einer Zwei-Klassen-Gesellschaft entstehen lässt. Soll der Geimpfte weiter Maske tragen wie der Nicht-Geimpfte? Gelten für Geimpfte die Abstandsregeln nicht mehr? Wer will das kontrollieren? Zudem wird das zu Auseinandersetzungen führen.
Dazu die Diskussion über die Freiheitsrechte. Es ist doch gelinde gesagt Unsinn, wenn gelegentlich so getan wird, als wollte irgendwer aus der Politik für immer Freiheitsrechte einschränken. Niemand will das. Freiheitsbeschränkungen in der Bundesrepublik Deutschland sind der Ausnahmefall. Sie zu verhängen braucht es genau festgelegte Rechtfertigungen. Freiheit in Deutschland ist kein Privileg, das sich jemand, weil er Geld und/oder Macht hat, erkaufen kann. Freiheit ist kein Gnadenakt, gewährt von einem Fürsten. Unsere Freiheiten sind festgelegt und garantiert durch das Grundgesetz. Sie sind der Normalfall. Da wir aber in einer Pandemie leben, gelten Einschränkungen. Um die Pandemie zu bekämpfen, um unser Gesundheitssystem nicht zu überfordern, um möglichst viele Bürgerinnen und Bürger gesund durch diese gefährliche Seuche zu bringen, deshalb ist das Leben anders als im Normalfall nur eingeschränkt möglich, sind Läden geschlossen, Kneipen, Restaurants, Theater, Kinos, Opern, Fitness-Center, Tennishallen. Wann diese Einschränkungen zurückgenommen werden, teils oder ganz, weiß im Augenblick niemand, vielleicht erfahren wir in ein paar Tagen mehr, wenn die Inzidenz-Zahl weiter rückläufig ist. Viele möchten wieder tun und lassen, was sie wollen, aber es geht noch nicht, andere würden gern in den Ski-Urlaub fahren, aber noch sind die Hotels geschlossen und die Lifte nicht in Betrieb. Es wird dauern. Wir würden die Geduld vieler Menschen zu sehr strapazieren, wenn wir dem einen erlauben, was den anderen verboten ist.
Ferner brauchen wir Klarheit, ob Geimpfte andere anstecken können. Wenn das nicht der Fall ist, also die Immunisierung die Übertragung des Virus um bis zu zwei Drittel verringert, wenn der, der sich impfen lässt, nicht nur sich, sondern auch andere schützt, dann sind wir einen großen Schritt weiter. Und wir nähern uns dem Ziel, wenn mehr Impfstoffe zur Verfügung stehen und Millionen Bürgerinnen und Bürger überhaupt geimpft werden können. Wenn das geschehen ist, sind die Einschränkungen unseres Alltags hoffentlich überflüssig geworden und wir können so leben, wie es vor Corona der Fall war.
Eine Spaltung des Landes in Geimpfte und Nicht-Geimpfte, sollten wir aber tunlichst vermeiden. Diese Gefahr bestünde, wenn wir jetzt schon Geimpfte und Nicht-Geimpfte ungleich behandelten und Läden und Restaurants für Geimpfte, nicht aber für Nicht-Geimpfte öffneten. Das käme einer Diskriminierung gleich. Die Situation wäre eine andere, wenn alle die Möglichkeit gehabt hatten, sich impfen zu lassen. Das wird dauern. Und bitte keine voreiligen Versprechen, die nur zu Enttäuschungen führen.
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