Gerade las ich über den Grünen-Oberbürgermeister von Tübingen, Boris Palmer, dass der einen neuen Generationenvertrag gefordert habe. Menschen ab dem 65. Lebensalter sollten demnach ihre Freiheitsrechte hergeben, die Jüngeren würden im Gegenzug eine Infektion riskieren, um auf diese Art zu einer Herdenimmunität zu gelangen. Als wäre das eine Lösung von Corona, der Weg aus der Epidemie? Oder eher der sichere Untergang unseres Gesundheitssystems? Menschenleben gegen Ökonomie, könnte man andere Gedanken zusammenfassen, als wäre es ein Spiel. Jüngere vor, Alte in die Isolation. Nein, nein, so sieht die neue Normalität nicht aus, die die Kanzlerin gestern verkündet hat. Von wegen Lockerung! Aber Corona stellt vieles auf den Kopf und bringt anderes durcheinander. Was auch damit zusammenhängt, dass niemand genau Bescheid weiß, selbst die Virologen räumen ja immer wieder ein, dass ihr Kenntnisstand immer nur für den Moment gelte, in dem sie ihre Meinung gerade äußern. Ich finde das bemerkenswert und ausgesprochen ehrlich. So kann man Glaubwürdigkeit gewinnen.
Kurs halten, das ist die Politik von Angela Merkel und gewiss auch die ihres Vizekanzlers Olaf Scholz, beide wirken überzeugend durch ihre ruhige, fast stoische Art des Vortrags. Dabei haben sie nicht immer Neues zu vermelden. Und wenn sie es tun, sprechen sie es vorsichtig aus, umsichtig. Kurs halten, es bleibt bei Einschränkungen unserer bekannten Freiheiten, einige Geschäfte dürfen wieder öffnen, aber nur bis 800 Quadratmeter Fläche, auch Blumenläden verkaufen wieder, Buchhändler atmen auf wie Auto- und Fahrradverkäufer, aber vieles andere bleibt geschlossen. Merkel tritt auf die Bremse und wird dennoch immer beliebter beim Volk. Corona, das Thema der letzten Wochen und der nächsten Monate, hält uns in Atem und in Sorgen. Mancher fragt längst: Was wird aus meinem Job? Die Epidemie hat alles im Griff. Zeitungen, Radio-Sendungen, TV-Sondersendungen, kein Tag ohne Corona. Ob es die Menschen ermüdet? Oder es ihnen eher die Angst nimmt, wenn man sie über das informiert, was ist.
Beim Waschen Happy Birthday singen
Wann je hat uns ein Kanzler etwas so Sprödes, ja Sperriges erklärt, wie das Angela Merkel gerade getan hat? Oder haben Sie früher mal was gehört von Reproduktionszahl? Die gelernte Physikerin und Bundeskanzlerin hat uns das erklärt. Je höher diese Zahl ist als eins, desto gefährlicher kann es werden für uns und unser Gesundheitssystem, desto eher kann unser Gesundheitsssystem kollabieren, zusammenbrechen, weil es mit einer Flut von Corona-Erkrankten überfordert wird. Heute liegt diese Zahl bei 0,7, was bedeutet: Ca. drei Infizierte stecken im Mittel zwei andere an. So soll es bleiben. Also weiter Abstand und Anstand, mindestens 1,5 Meter, verweilen Sie am besten zu Hause, keine Treffen der Großeltern mit den Enkeln, die Kneipen sind zu wie die Theater und Opern. Vermeiden Sie zu engen Kontakt in der U-Bahn, im Bus, im Zug, keine Großveranstaltungen, keine ausverkauften Bundesliga-Spiele. Hygienisches kommt hinzu: wir haben gelernt, in die Armbeuge zu husten und uns pausenlos die Hände mit Seife und warmem Wasser zu waschen. Und damit das nicht zu kurz gerät, hat uns jemand vorgeschlagen, wir sollten dabei Happy Birthday singen. Natürlich hat ein Schlaumeier eingeworfen, was er denn machen solle, wenn er nicht singen könne?
Abstand halten. Verzichten Sie auf die geliebte Wanderung am Rhein, in der Eifel, am Rotweinwanderweg an der Ahr. Und wenn doch gewandert wird, bitte nur zu Zweit, möglichst im Uhrzeigersinn laufen, damit man sich nicht in die Quere kommt. Das hat in der Tat jemand vorgeschlagen, nicht der Münchner Humorist Karl Valentin. Ich weiß, den könnte man umdichten, nach dem Motto: die Leute mit den Anfangsbuchstaben A bis M könnten am Montag laufen, die anderen am Dienstag. Oder: die Katholiken am Mittwoch, die Protestanten am Donnerstag. Oder: Frauen und Kinder am Freitag, die Männer am Samstag. Wir könnten die Startfolge auch so festlegen, wie das beim Biathlon der Fall ist.
Mundschutz sollen wir möglichst tragen, um andere vor Infektionen zu schützen. Es ist ein Vorschlag, kein Gebot, die Politik appelliert an die Vernunft der Leute, es freiwillig zu tun, wenn sie einkaufen gehen, mit dem Bus unterwegs sind oder in der U-Bahn. Oder überhaupt. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder hat zugegeben, er hätte sich ein Gebot gewünscht. Und natürlich hatte er, als er bei Maybrit Illner zugeschaltet wurde, einen Mundschutz dabei, in weißblauer Raute, also den Bayern-Farben. Er ist der Mann der Stunde. Kürzlich hatten seine Landeskinder ihm schon eine Zustimmung von über 94 Prozent gewährt, was nicht mal der Strauß Franz Josef zu seinen besten Zeiten hatte. Und jetzt ist er in einer Deutschland-Umfrage an die Spitze der beliebtesten Politiker in der ganzen Republik geklettert, weit vor Merkel und Spahn. Wer redet eigentlich noch von Seehofer, seinem Intim-Feind vergangener Jahre? Söder for Präsident, das will er angeblich nicht. Bescheiden, wie man den Größten Fränkischen Ministerpräsidenten aller Zeiten-so die SZ in ihrem Streiflicht-kennt, will er in Bayern bleiben. Dort ist sein Platz, in München will er sich um Leib und Leben seiner Bayern kümmern, jetzt und immerfort.
Wenn Söder keine Maß gereicht wird
Dieser Söder-ich zitiere aus dem Leitartikel der „Süddeutsche Zeitung“- kann sich derzeit fast alles leisten. Söder ist “ wohl der erste bayerische Ministerpräsident, der sich gegen eine Öffnung von Biergärten entschieden hat.“ Und wenn der medizinischen Forschung nicht noch ein Wunder gelingt, „wird Söder auch der erste Ministerpräsident seit 1949 sein, der vom Münchner Oberbürgermeister keine Maß gereicht bekommt, weil das Oktoberfest 2020 schlicht nicht stattfinden kann.“ Weil ein Infizierter einen solchen Corona-Hotspot auslösen kann, „dass man selbst in Ischgl aus dem Staunen nicht herauskäme.“ Scheibt Nico Fried, der Büroleiter der SZ in Berlin. Ja, der Söder, der traut sich was. Heilige Kühe werden in Bayern geschlachtet, Biergärten zu, keine Wiesn. Was machen die Wirte dann mit dem ganzen Bier, das sie nicht ausschenken und mit den Hendln und Schweinsbraten?!
Aber nicht nur die Wiesn ist in höchster Gefahr, auch das Lollapalooza-Festival rund ums Berliner Olympiastadion ist gefährdet, auch die Cranger Kirmes steht mehr als auf der Kippe, hat der Herner Oberbürgermeister gesagt. Pützchens Markt in Bonn ist ebenso nicht sicher wie die Cannstatter Wasn in der Nähe von Stuttgart. Und in Neuss wird es kein Schützenfest in diesem Jahr geben, nur das Schützenfestbier. Der Präsident des DSB(Deutscher Schausteller-Bund), Albert Ritter, hat auch schon vor einem Deutschland ohne Volksfeste gewarnt. In der „Augsburger Allgemeinen“ sieht Ritter 5000 hauptberufliche Schaustellerfamilien und 55000 Beschäftigte mit dem Rücken zur Wand stehend. Es könnte ein Massensterben der Volksfeste werden, zu einem Ende einer 1200 Jahre alten Kultur kommen. Ritter plädiert für einen Rettungsschirm und dafür, die Volksfeste irgendwie stattfinden zu lassen. Und fast im Valentinschen Sinne schlägt er eine Art Einbahnstraßenverkehr vor. Und anders als der Bundesgesundheitsminister Spahn, der die Volksfeste für verzichtbar für die Gesellschaft gehalten hatte, betonte Ritter empört: Man brauche die Volksfeste, um Menschen Freude zu bereiten. Denn was nütze es, wenn man das Virus besiege, aber die Menschen am Ende an Depression litten.
So ist das mit der neuen Normalität in Corona-Deutschland. Die Situation ist da, sie ist zerbrechlich, hatte Angela Merkel gesagt. Was ist schon normal in diesen unnormalen Zeiten? Eins noch, das aber auch normal ist: Der neue Berliner Flughafen, BER, dessen Einweihung vor 11 Jahren hätte stattfinden sollen, hat seinen für Ende April geplanten Problelauf verschoben. Das ändere aber nichts am Eröffnungstermin, hat jemand gesagt. Aber lassen wir das lieber. Im Checkpoint des „Tagesspiegel“ lese ich: BER Count Up-Tage seit Nichteröffnung: 2876.
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